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Erster Abschnitt "Kalanthe I"


Kalanthe I

Ich sah kaum hin. Er zerfleischte ihn, riss seine Bauchdecke auf, zerfetzte die Gedärme, bis er das schlagende Herz vor sich hatte - und fraß es. Danach hob er seinen blutverschmierten Kopf empor, streckte ihn dem Himmel entgegen und bewegte sich nicht mehr. Seine Augen fixierten kein konkretes Ziel, sahen aber nicht ins Leere. Nur in das Zwielicht der Abenddämmerung. Die Verwandlung war erschreckend. Vor ein paar Stunden hatte ich mit beiden am Tisch gesessen und mich mit ihnen über alltägliche Probleme unterhalten. Wie schwer für die Jagd war, oder wie problematisch es für seinen Partner war, dass Erjagte so zuzubereiten, dass sie beide davon essen konnten. Oder, in meinem Fall, wie kurzsichtig ich es fand, dass Männer, wie sie, den interessantesten Arbeiten nachgingen, während ich Socken stopfte, Kartoffeln schälte und über dem Waschzuber lehnte.

Aber jetzt war alles anders. Er ... hatte ihn ... ich weiß nicht - gegessen? In sich aufgenommen? War es das, was er so lange angekündigt hatte? Er hatte es die Transformation genannt. Ich wusste davon nichts zu halten, bis jetzt. Er hatte sich in eine Bestie verwandelt. Aber er war trotzdem er. Derselbe Kerl, der mich vor ein paar Wochen um etwas zu Essen angebettelt hatte. Der umsichtig auf jeden Acht gab. Der ein sensibles Herz hatte. Ich hatte mich getäuscht. Er war etwas vollkommen anderes. Doch spürte ich immer diese Verbindung zu ihm. Ohne eine Wahl zu haben, setzten meine Beine ein und ich schritt auf ihn zu. Nur zwei Meter trennten mich von ihm. Er überragte mich um das Doppelte meiner Körpergröße. Ich sah ihn an und gewann den Eindruck, dass er keine Notiz von mir nahm. Ich streckte zitternd den Arm aus, hielt in der Bewegung inne, bevor ich ihn berührte, und zog ihn wieder weg. Nein, so nicht. „Wulfiga?“, piepste ich. „Wulfiga?“, fragte ich dann lauter und deutlicher, mir durch meine eigene Stimme Mut machend.

Nichts geschah. Zunächst. Ich hörte ein leises - Klicken? Oder Klacken? Ich sah mich vorsichtig um, versuchte, das Geräusch auszumachen, und stellte fest, dass es von ihm ausging. Es drang aus seiner Kehle, die kaum wahrnehmbar rhythmisch auf und ab bewegte. „Wulfiga?“, fragte ich erneut. Im selben Moment sah er mich an. Aber -? Diese Augen, dieser Blick! Wer-? „Agelulf“, sagte er. Seine Stimme war seltsam entrückt. Als ob er mit zwei sprach. Ich starrte ihn angsterfüllt an. Was hatte er gesagt? „Mein Name ist Agelulf. Agelulf Varwúlfur.“ Varwúlfur? Das war die lykanthische Bezeichnung für Mondstern. Ich schüttelte den Kopf. „Wulfiga! Was ist passiert? Warum hast du ... warum hast du... Vlooriean...?“ Er legte den Kopf schief, so als verstand er den Sinn der Frage nicht. „Weil er zu mir gehört“, antwortete er doppelstimmig. „So, wie du auch.“ Was das bedeutete, verriet er mir nicht. „Wir sollten gehen“, schlug er vor, nahm meine linke Hand und zog mich hinter sich her. Ich entledigte mich seines Griffes und wich zurück. „Gehen? Wohin?“ Er oberservierte mich wie Fleisch. „Fort von hier“, antwortete er geheimnisvoll. „Kommst du mit mir?“ Er bat mich, ihm zu folgen. Ihm. Er hatte seinen Partner aufgerissen und dessen Herz gefressen, war verrückt und gefährlich, aber schlug vor, dass ich ihm folgte.

Ich begleitete ihn. Warum, wusste ich nicht. Ich glaube, es war die animalische Gefahr, die von ihm ausging und die mich in einen Bann zog, dem ich nicht mehr entkam. Er verhielt sich unbeschwert, nachdem wir Vloorieans Leichnam liegen gelassen und er sich in einem nahen Weiher das Blut abgewaschen hatte. Er stank nach nassem Hund. Ich hatte mit Werwölfen zu tun gehabt. Oft genug, als sie nass waren. Allen Caniden war der Gestank gemein, den sie verbreiteten, wenn sie nass wurden und ihr Fell trocknete. Er redete normal mit mir, nicht mehr zweistimmig. „Jetzt, wo wir alleine sind: Was denkst du, wo sollen wir hingehen?“, fragte er. Wir waren auf dem Pfad zu meinem Hof, wo ich ein paar Dinge zusammenpacken wollte, bevor wir uns davonmachten und uns jemand mit Vloorieans Leichnam in Verbindung brachte. Mein Mann war um diese Zeit nicht da, sondern in irgendeiner Kneipe mit seinen Saufkumpanen feiern, was uns Zeit verschaffte. Zur Antwort schüttelte ich ratlos den Kopf. Warum war er so seicht?

Während ich schnell einen Reisesack mit ein paar wenigen Gewändern und mir sinnvoll erscheinenden Utensilien befüllte, sah er mir gelassen dabei zu. Ich nahm mein Notizbuch zusammen mit einen Stift in die Hand, als er scharf fragte: „Was ist das?“ Ich erschrak und zuckte zusammen, betrachtete ihn und antwortete langsam: „Darin schreibe ich auf, was ich erlebt habe.“ Wulfiga - oder Agelulf - hob die Augenbrauen. „Wie ein Traumtagebuch?“, stutzte er. Warum dachte er ausgerechnet an ein Traumtagebuch? Als er meinen Blick bemerkte, sagte er: „Ich habe jemanden gekannt, der eins führte.“ Etwas verschämt sah er weg. Nanu? „Ich schreibe keine Träume auf, sondern was an einzelnen Tagen gewesen ist und wie ich darüber denke.“ Er schielte mich an. „Schreibst du auf, was heute passiert ist?“, fragte er misstrauisch. Seltsam, zum ersten Mal nahm ich bewusst wahr, dass er knurrte, selbst wenn er normal mit mir redete und nicht aggressiv war. War das bei allen Werwölfen so? „Das weiß ich noch nicht. Aber ich denke schon, ja.“

„Dann schreib alles auf. Alles, woran du dich erinnerst und woran du dabei denkst“, sagte er. „Erst dann gehörst du zu mir.“ Ich verstaute das Büchlein schweigend in der Tasche und verzurrte sie. „Wenn du es so willst“, meinte ich tonlos. Als ich den Sack anhob, hielt ich inne. „Aber vorher will ich wissen, warum du ihm das angetan hast. Du liebtest ihn! Wer bringt jemanden um, den er liebt? Ich kenne euch Wölfe. Ich habe von keinem gehört, der einen frisst, wenn er ihn mag. So behandelt ihr eure Feinde, nicht eure Freunde.“ Ich fühlte mich, als drängte ich ihn in die Ecke. Genau so zeigte er sich, indem sich vor mir zurückzog, und sein massereicher Körper kleiner zu werden schien. Das schwarz-graue Fell wurde glanzlos und die lebendigen Augen stumpfer. Aber wenigstens sah er mich wieder an. „Bist du fertig?“, fragte er kleinlaut. Ich sah mich um und betrachtete ein letztes Mal den Raum, in dem ich die meiste Zeit meiner 20 Ehejahre verbracht hatte. Ein großes, knarzendes Gewölbe überzog ihn und stützte das Dach. Auf der einen Seite war das gemeinsame Bett, nebst zwei Truhen und einem alten, hohen und gebeizten Schrank, den ich abstoßend fand, seit ich am ersten Tag hergekommen war. Wie der Großteil der Einrichtung hatte mein Mann ihn von seinen Eltern geerbt. Das Bett war ebenfalls von ihnen, und, soweit ich wusste, hatten die Großeltern schon darin ihre Leben verschlafen. Auf der anderen Seite - dort wo Agelulf kauerte - war die Küche und der Wohnbereich mit einem Kamin aus Backstein gelegen. Davor waren ein paar alte Felle ausgebreitet. Nichts von alldem bedeutete mir etwas. Nicht mehr. Nur das Hier und Jetzt war wichtig. Und dass ich herausfand, wer da mit mir sprach.

Ich nickte. „Dann lass uns gehen“, sagte er. „Meine Geschichte ist kompliziert. Sie zu erzählen wird dauern.“

 

Zwei Wochen folgte ich Agelulf, den ich als zurückhaltenden Wulfiga kennengelernt hatte, der aber jetzt überhaupt nicht mehr zurückhaltend war. Einige Male gerieten wir in Situationen, in denen er mit Worten offensiv agierte, so wie es Vlooriean getan hätte, nicht Wulfiga. In einem anderen Moment begleiteten wir mehrere Tage eine Karawane. Dabei freundeten wir uns mit deren Anführer an. Rinholg. Er war stattlich, ordentlich gekleidet und zeigte gerne, was er hatte. Ich ließ mich einlullen von seiner Schönrede, weil ich die Ablenkung brauchte. Mein Leben war vollkommen umgekrempelt, womit ich mich bisher nicht beschäftigt hatte. Das machte jede Person irgendwann durcheinander. Am siebten Tag, nach dem Mord an Vlooriean und unserer Flucht, der dritte, seit wir uns der Karawane angeschlossen hatten, saßen wir spät abends zusammen. Agelulf war nicht da. Das heißt, er war da, aber er zeigte sich nicht, sondern hielt sich im Schatten. Womöglich jagte er Wild, weil er das gebratene Fleisch nicht gerne aß. Das dünn gebraute Bier floss in großen Mengen, bis wir alle beschwipst waren. Rinholg war so nett gewesen, mir seinen Wagen für die Nächte zu überlassen. Jetzt führte er mich dorthin. Er hatte es geplant. Ob von Anfang an wusste ich nicht. Er versuchte, mich zu nehmen. Gegen meinen Willen. Ich wehrte mich, er hielt mir den Mund verschlossen, damit ich nicht schrie. Es hätte ohnehin niemand geholfen. Wie ich später herausfand, waren die meisten Leute, die in Karawanen reisten, dunkles Gesocks. Sie hätten mich anschließend eher umgebracht, zerlegt und meine Körperteile an Minotauren, Alligatone, Werwölfe und andere verkauft, die Menschenfleisch schätzten, als dass sie Gefahr liefen, mich laufen zu lassen. Bevor Rinholg mich schändete, war Agelulf da. Er zerrte ihn nicht erst von mir fort, sondern fasste in an der rechten Schulter und der linken Hüfte, um ihn in einer fließenden, unangestrengten Bewegung in zwei Teile zu zerreißen. Einfach so, ohne Mühe. Nein, Wulfiga war weg. Er hätte mich genauso beschützt, dabei aber niemals jemanden umgebracht. Wenn Werwölfe wie er Menschen töteten, stand darauf eine qualvolle Todesstrafe. Es war aber nicht die Tat, die mich endgültig davon überzeugte, dass er Agelulf war, eine neue oder andere Persönlichkeit. Es waren die Augen, mit denen er mich ansah, nachdem er Rinholg zerrissen hatten und dessen Gedärme in einer Linie von ein Dutzend Metern schnurgerade verteilten. Vorher waren sie blau wie der Ozean gewesen, jetzt gelb wie Wüstensand.

Wir mieden danach große Personenansammlungen, weil seit dem Vorfall mit Rinholg alle Reisenden gewarnt wurden. Statt in die nächstgelegene Stadt reisten wir in die tiefen Wälder westlich. „Dort bin ich aufgewachsen. Sie sind meine Heimat“, behauptete Agelulf. „Ich dachte, du bist bei deinem Stiefvater in einem Dorf aufgewachsen?“, fragte ich und wunderte mich. Er schlenderte gebeugt neben mir her, während ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. „Ja, das stimmt“, sagte er und nickte, erklärte aber nicht, wie es dann sein konnte, dass er im Wald groß geworden war. Abrupt blieb er stehen, legte eine Klaue auf meine Schulter und hieß mich ebenfalls anzuhalten. „Es wird Zeit, dass ich deine Fragen beantworte.“ Ich sah ihn an. Sein Blick war diffus und unbestimmt, so als wusste er nicht, ob das der richtige Zeitpunkt und Ort war. Ich wiederum war mir nicht sicher, ob ich bereit dafür war. Andererseits quälten mich die Fragen rund um Vloorieans Tod und was danach passiert war. „Hier?“, fragte ich, er nickte. Eine halbe Stunde später hatten wir ein kleines Lager aufgeschlagen, in dem wir die Nacht verbrachten. Agelulf brauchte keinen Schlafplatz, er schlief auf dem Waldboden. Um Normalität vorzutäuschen, hatte ich ein Feuer entfacht und kochte eine wässrige Suppe. Leider hatte ich vergessen, mehr Gewürze mitzunehmen, und die Umgebung gab keinen Ersatz her. Wir aßen schweigend. Ich traute mich nicht, anzufangen, weil ich nicht wusste, wo ich ansetzen sollte.

„Was ist Liebe?“, fragte Agelulf, ich sah auf. Es war keine Fangfrage. „Ein Gefühl?“, entgegnete ich. Seine Miene blieb ausdruckslos. Er saß in der Hocke links neben mir, seine Klauen ruhten auf den Knien. So aus der Nähe waren sie gewaltig. „Ein Gefühl, sicher. Aber als Antwort kommt das zu kurz.“ - „Was soll Liebe denn noch sein?“, fragte ich. Agelulf legte den Kopf schief, seine Augenbrauen zogen sich kritisch zusammen. „Du bist älter als ich und weißt das nicht? Du bist einfältiger, als ich dachte, Kalanthe.“ Seine Worte waren kein Hohn, sie ärgerten mich dennoch. Deutete er etwa an, dass ich trotz der vielen Jahre mit Ehe und Leid nicht wusste, was Liebe war? Ich schluckte meinen Ärger herunter. „Was ist Liebe denn sonst?“ - „Fleisch und Blut und Körper und alles und nichts“, antwortete er verwirrend. „Das verstehe ich nicht“, sagte ich. Er streckte den linken Arm aus, fuhr mit der rechten Klaue darüber hinweg und drückte dann eine Kralle in seinen Unterarm hinein, bis Blut floss. Er hielt ihn mir hin, als Aufforderung für - ja, für was? „Trink“, sagte er. Ich nahm eine ablehnende Haltung ein und schüttelte. Mir wurde mulmig. Er stand auf, kam zu mir und umfasste meinen Kopf, presste die blutende Wunde auf mein Gesicht und zwang mich, sein Blut zu schmecken. Widerlich! Ich hasste Blut. Selbst bei der kleinsten Wunde sah ich weg, wenn ich nicht erbrechen wollte. Sein Blut schmeckte herb und war dunkelrot. Dunkler als menschliches Blut. Ich schrie auf und wehrte mich, er ließ sofort von mir ab. Ich fiel nach hinten auf den Rücken, hustete und krabbelte von ihm fort. Es dauerte nicht lange und ich erbrach. Der säuerliche Geschmack des eigenen Erbrochenen war ekelhaft, aber ich traute mich nicht an mein Reisegepäck, in dem eine Flasche Wasser verstaut war. Zu groß war die Angst, dass er mich nochmal zwang, sein Blut zu trinken. Nachdem mein Magen leer und meine grob gestickte Bluse besudelt war, wandte ich mich um und stützte mich schwerfällig auf einen Ellenbogen. Er stand gebeugt da, als sei nichts gewesen, und betrachtete mich in meiner erbärmlichen Menschlichkeit. „Was -“, ich spuckte aus, „was sollte das?“ - „Soll ich dich nehmen?“, fragte er tonlos. Ich starrte ihn an, sah zu Boden und seufzte. „Was soll das alles, Wulf-, Agelulf?“ Als hätte ich die falsche Antwort gegeben, stob er auf mich zu, stülpte sich über mich und verschloss mir den Mund mit seinem Maul, bevor ich um Hilfe rief. Ich schlug und haute nach ihm, versuchte, ihn wegzudrücken. Es nützte nichts, er war zu kräftig für mich. Ich bedauerte mich selbst und verfluchte meine Schwäche. Er ... küsste mich? Und es - beruhigte mich? Mein aufgeregtes Herz schlug trotzdem chaotisch, mein Misstrauen hingegen nahm mit jedem Moment ab, in dem er mit seiner kraftvollen Zunge in meinem Mund einen Wirbelsturm verursachte. Wie schaffte er das? Woher wusste er, dass ich so beschaffen war? Er hätte mir längst das Gesicht zerfetzt, wenn sein Ziel war, mich zu töten. Deshalb verwarf ich den Gedanken, dass er mir etwas schlimmes antat. Sein Geschmack war betörend, verstörend, intensiv. Ich begriff, was er damit bezweckte. Er zeigte mir einen kleinen Bruchteil dessen, was Liebe war, oder was er darunter verstand. Als er von mir abließ und zurück an seinen Platz kehrte, war ich innerlich ein traurig darüber. Ich setzte mich auf und observierte ihn.

„Liebe ist mehr als nur ein Gefühl. Sie fließt durch unsere Venen im Blut, steckt in unserem Fleisch - du konntest sie schmecken, nicht wahr? - man riecht sie in der Luft. Aus ihr sind alle anderen Dinge entstanden, die du Gefühle nennst. Aber sie ist nichts, denn sie ist nicht greifbar. Nur ein flüchtiges Element“, erklärte er. „Wenn du so willst, bin ich jemand, der nur aus ihr besteht. Aber nicht so, wie du sie begreifst. Das, was du denkst, was Liebe ist, ist ein kitschvoller Schatten dessen, was sie in Wahrheit ist. Eine Kraft, die ein Wesen zu einem anderen unausweichlich hinzieht. Eine Naturgewalt, der sich besser niemand in den Weg stellt.“ Er leckte sich über eine Lefze. „Du bist durchdrungen davon und sehnst dich nach ihr“, stellte er fest. „Soll ich dich nehmen?“, fragte er erneut. Es war eine Bedingung, die er voraussetzte. Der Grund, weshalb er bisher nichts über sich offenbart hatte, war, weil er noch keine Verbindung zu mir hatte. In den wenigen Momenten, in denen sich unser Fleisch miteinander verband, hatte ich eine Einladung erhalten. Nur so war es Agelulf möglich, von sich zu erzählen. Nur so war ich in der Lage, seine Vergangenheit nachzuvollziehen.

Ich nickte und schlief mit ihm.

 

Er hatte recht, ich war einfältig. In all den Jahren mit meinem Mann hatte ich nie das erfahren, was Liebe war. Deswegen ist unsere Ehe kinderlos geblieben, weil dieser entscheidende Funke fehlte, mein Körper jede Frucht verwehrte und abstieß. Wir ruhten. Ich lag auf Agelulf und hatte mich mit einer kleinen, groben Wolldecke zugedeckt, was aber nicht nötig war, da er eine lebensspendende Wärme ausstrahlte. Ich war überhäuft mit kleinen Blessuren und blauen Flecken. Nicht weil er grob war, sondern weil ich von ihm verlangt hatte, sie mir zuzufügen. Er hingegen wäre zurückhaltend geblieben. Zeitweise war ich die Herrscherin über uns beide gewesen, gab den Takt vor, den Rhythmus, die Intensität. Dabei hatte ich den Eindruck gewonnen, dass er es genoss, dominiert zu werden. Am Ende war er, im Vergleich zu mir, eben doch ein Junge auf der Suche nach Orientierung in der Welt und in sich selbst, obwohl er schon viele Erfahrungen gemacht und ertragen hatte. Gerne schenkte ich ihm Halt, wenn er es zuließ.

„Damit du verstehst, wer ich bin und warum ich Agelulf Varwúlfur bin, und nicht mehr Wulfiga, muss ich dir von ein paar Geistern erzählen, denen ich begegnet bin“, flüsterte er. Wobei Flüstern bei ihm ein dumpfes Grollen bedeutete. In dieser Tontiefe war seine Stimme dröhnend. Ich legte ein Ohr auf Agelulfs Brust, um mehr davon zu hören. Selbst wenn er nur atmete, war es da, durchdrang seinen Körper, entstand in seiner Kehle. „Geister gibt es nicht“, behauptete ich. Er atmete langgezogen aus, als seufzte er, was ich daran festmachte, dass das Grollen in seiner Brust kurz abebbte, bevor es im Gleichschritt der Atmung wieder anhob. „Wenn du Personen gegenüberstehst, die leben, obwohl sie tot sein sollten, gibt es sie“, argumentierte er. Ich erwiderte nichts. „Welchen Geistern bist du begegnet? Was hat das mit Vlooriean zu tun?“, fragte ich stattdessen. „Hm“, machte er nachdenklich. „Vlooriean war einer der Geister, das habe ich erkannt, kurz bevor ich sein Herz fraß. Aber mit ihm fange ich nicht an. Da waren andere, von denen ich dir vorher erzählen muss, damit du meine Taten und die Konsequenzen verstehst, die daraus hervorgegangen sind.“

Taten? Konsequenzen? Ich verstand nichts. Aber anders als vorher war ich gelassen, geduldig und offen dafür, zuzuhören, ohne zu urteilen. Ich drehte den Kopf und sah zu ihm hinauf, doch Agelulf erwiderte meinen Blick nicht. Er hielt die Augen verschlossen, so als konzentrierte er sich, die vergangenen Erlebnisse heraufzubeschwören. Seine Schnauze zuckte dabei und zog sich zusammen, als ob er schnupperte. Ich fragte mich, was er alles roch, das ich nur wahrnahm, wenn ich direkt bei der Geruchsquelle war und meine Nase hineinsteckte. Ich beneidete ihn um seine Fähigkeit.

„Der erste Geist war eine Hyena-Frau. Ihr Name lautet Drimba. Sie hatte gerade eine Aufforderung erhalten, um die Hand eines Menschen zu werben. Darüber war sie nicht glücklich. Wir lernten sie kennen, als sie versuchte, uns zu bestehlen und von mir erwischt wurde.“


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