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Zweiter Abschnitt "Drimba"


Drimba

Sie rannte auf allen vieren davon. Das Gefühl, gejagt zu werden, ergriff sie, sorgte für ein Flattern in Brust- und Bauchgegend. Sie liebte es! Sie lechzte danach, war süchtig. Seit sie vor zwei Jahren bei einem Diebstahl erwischt wurde und knapp entkommen war, suchte sie dieses Gefühl. Nervenkitzel nannten es die Menschen. Während sie schneller und schneller wurde, hechelte sie, ihre Zunge hing seitlich aus ihrem Maul heraus und sie lachte sich selbst an. Fang mich! Versuch es! Hol mich ein, damit du mich überrumpelst und anbrüllst! Oder vermöbelst! Ihre Sucht nahm gefährliche Züge an, sogar ihre Tante Gronok warnte sie, es nicht zu übertreiben. Dabei war Gronok die Königin der Diebe und oberste Mutter der Hyena-Familie in der Stadt. Aber man wurde keine Mutter, wenn man sich beim Stehlen erwischen ließ - mit Absicht. Sie war auserwählt, die Nachfolgerin ihrer Tante zu werden, weil sie die geschickteste Gaunerin der Stadt war, um unbemerkt alle kostbaren Dinge zu entwenden, die ihr gefielen und ihrer Familie nützten. Es war aber spaßig und zu verlockend, zu warten, bis der Bestohlene bemerkte, dass sie ihm in die Taschen griff, und er oder sie schockiert starrte, gefolgt von Ärger und Wut. Zwei der ehrlichsten Gesichter überhaupt, weil sie unkontrolliert waren und sich an keine Regeln hielten. Sie tauchten in der Fresse auf und verzerrten sie. Darüber lachte Drimba jedes Mal, während sie davonstob. Entweder mit oder ohne Diebesgut, das war ihr mittlerweile egal. Sie wollte nur verfolgt werden. Das hatte ihr bei ihren Brüdern und Schwestern einen beschissenen Ruf eingebracht. Sie zweifelten offen an, ob sie die geeignete Kandidatin war, in Zukunft ihre Familie anzuführen. Dass sie trotz ihrer Eigenheiten erfolgreich war, unterschlugen sie. Elendes Dreckspack. Sie bog in eine enge Gasse ein, die sie oft nahm, um ihren Verfolgern zu entkommen, sofern sie sie verfolgten. Sie war versifft, es roch nach Urin und überall lag etwas herum. Abfälle, alte Möbel, denen die Zeit nicht gut getan hatte, Obdachlose. Sie rannte zwei Dutzend Meter, bevor sie wagte, hinter sich zu sehen. In genau dem Moment holte er sie ein, stieß sie um und rollte mit ihr über den Boden. Danach verfingen sie sich ineinander in einem Wust aus Armen und Beinen, aus Krallen und Hinterläufen. Sie lachte ihn hämisch an. Es war selten, dass sie jemand einholte. Wenn es passierte, ergaben sich daraus die interessantesten Begegnungen und Erlebnisse. Mit den meisten prügelte sie sich. Mit ein paar von ihnen hatte sie hinterher eine lose Freundschaft geschlossen. Mit zwei, einem Leonid und einem Lacertid, einem Echsenmann, hatte sie geschlafen - nachdem sie sich mit ihnen geprügelt hatte. Aber dieser hier, ein graues Werwölfchen, machte nichts davon, sondern nagelte sie auf dem Boden fest und stierte sie an. Er war hübsch. Groß für einen Lykanth, breite Schultern, einen leicht gewölbten Bauch, was darauf hindeutete, dass er genährt und besser gestellt war. Und er hatte Kraft in den Armen. Während sie feixte, griff Drimba in seinen Schritt. „Uh, dicke Eier hast du auch noch. Hast du länger niemanden mehr gestochen?“, fragte sie provozierend. Ihr Gelächter erstarb abrupt, als sie in seine Augen sah und begeistert beobachtete, wie sich das eine dunkelgrün und das andere hellgelb verfärbte. Vorher waren sie blau wie der Himmel gewesen. „Wie machst du das?“, fragte sie. „Gib es zurück!“, schnauzte das Wölfchen und fletschte die Zähne. „Was soll ich zurückgeben?“, entgegnete sie. „Du hast es gestohlen! Gib mir das Buch zurück!“ Das Buch? „Das abgewetzte Ding? Im Ernst? Deine Wertsachen sind dir nix wert?“ Sie war ehrlich überrascht. „Lass mich los, dann gebe ich es dir.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, erst gibst du es zurück.“ - „Wie soll ich das machen, wenn du mich festhältst?“, fragte sie und sah ihn an, als wäre sie seine große Schwester. Er überlegte. Einen Moment zu lang. Mit einem gezielten Tritt in seine Eier setzte Drimba ihn außer Gefecht. Er atmete dumpf aus, fiel zu Seite und hielt sich die Klöten. Wenn man sie dort erwischte, wurden alle Männer zu Jammerlappen. Bis aus Lacertiden, deren Hoden waren durch dicke Schuppen geschützt, da trat man dagegen, wie man wollte. Sie rappelte sich auf und versuchte wegzurennen. Aber das Wölfchen war zäh, griff nach ihr und erwischte ihren Lendenschurz. Nackt zu fliehen, hätte sie nicht gestört. Sie trieb es gern in aller Öffentlichkeit mit irgendwelchen Leuten. Aber er erwischte sie mit der zweiten Klaue am Bein und ließ nicht los, egal wie sie sich wehrte. Sie stolperte, fluchte und trat nach Wölfchens Gesicht, traf ihn am Ohr, am Hals, an der Schnauze, aus der er dann blutete. Er knurrte und fletschte die Zähne, biss aber nicht zu. „Lass - mich - los!“, drängte sie und trat gegen seine Stirn. Er jaulte, sein Griff löste sich - ihre Chance! Sie krabbelte vor ihm davon, bevor er sie ein zweites Mal erwischte. „Warte!“, rief er. Sie blieb stehen und sah zurück. Warum überhaupt? Seine Miene war bedauernd, verzweifelt. „Gib es zurück. Ich bitte dich! Behalte alles andere“, presste er hervor. Ihr Tritt war heftiger gewesen, als sie dachte. Seine eben dunkle Stimme war eine hörbare Note höher. Für einen Schrank wie ihn piepste er. Drimba zog die Schnauze hoch und rotzte neben sich auf den Boden. Dabei krallte sie ihren Schurz und legte ihn wieder an. Sie war zwar gerne nackt, aber nicht jeder musste ihr Ding sehen. Viele waren verstört, wenn sie sahen, dass sie keine komplette Frau war. „Ich habe dein dämliches Buch nicht mehr. Hab’s irgendwo weggeschmissen.“ Sie wartete nicht darauf, dass er etwas erwiderte oder die Zeit nutzte und sich erholte, wandte sich ab und lief davon.

 

Zu Hause gab sie ihre Beute ihrer Tante. Sie war etwa doppelt so alt wie Drimba, aber kleiner, auf einem Auge blind, hatte mehr Falten auf der Schnauze und getüpfeltes Fell, was sie bei vielen Hyena begehrenswert machte. Selbst in ihrem Alter. Sie saß am Eingang und war ungewohnt nachdenklich. „Ist was passiert?“, fragte sie. So schweigsam war Gronok sonst nicht, meistens meckerte sie über irgendwas, kratzte sich am wunden Bauch und verfluchte zum Schluss ihre Räude, die sie sich vor ein paar Monaten eingefangen hatte. Und wenn sie meckerte, dann über Drimbas verquere Art, sich verfolgen zu lassen. Nicht, weil sie das widerlich fand, sondern weil sie der Meinung war, dass das unnötig Aufmerksamkeit auf ihre Familie lenkte und andere „Projekte“ gefährdete. Gronok sah sie kaum an und begrüßte sie nicht, die sah ins Leere. „Kennst du die Slungs?“, fragte sie. Drimba nickte. Sicher kannte sie die. Eine gemischte Familie, die Mutter Tigronidin, der Vater Leonide. Ungewöhnlich, aber es gab seltsamere Mischehen. Sie selbst war der beste Beweis dafür. „Deren hirnloser Bengel Māltung war vor ein paar Tagen hier. Hat nach dem Mensch gesucht.“

„Was wollte er? Woher wusste er denn, dass wir einen haben?“, fragte sie. Gronok spuckte aus. „Weil der Idiot sich auf dem Markt gezeigt hat! Jetzt weiß jeder, dass er hier ist. Das war von Anfang an seine Absicht gewesen. Verdammte Rosahaut!“ So schnell wie sie sich aufregte, regte sie sich ab. Die meisten Hyena waren jähzornig. „Aber das kratzt mich nicht. Gibt was anderes, wofür ich ihm den Hals umdrehen werde“, grummelte sie, griff in ihre Tasche und warf Drimba einen Brief hin. Sie gab ihn ihr nicht mit der Hand wegen der Räude. Er war geöffnet, völlig verknittert und sah aus, als ob Gronok ist zusammengeknüllt und weggeschmissen hatte. „Was soll ich damit?“, fragte Drimba. „Der ist für dich. Unser Gast fordert dich auf, dich ihm an den Hals zu schmeißen.“ Sie legte die Stirn in Falten. „Blödsinn“, sagte sie. „Nimm ihn. Lies ihn“, forderte Gronok. Sie hob ihn auf und las ihn sich selbst langsam und leise vor. Hyena konnten meistens nicht lesen. Nur die Frauen, die die Familie anführten, bekamen die Schrift beigebracht. Drimba fand Bücher und Texte und Buchstaben langweilig, sie war selbst nach drei Jahren Lernen und Üben nicht fähig darin und langsam. Entsprechend lange dauerte es, bis sie durch war und den Sinn verstanden hatte. Dazu las sie den letzten Abschnitt mehrfach. „Er sucht seinen Em’Ra’ul? Ich soll seine Gefährtin werden?“, fragte sie, Gronok nickte. Sie zerknüllte das Papier, stopfte es sich ins Maul, kaute durch und spie es aus. „Das mache ich nicht!“, zeterte sie. „Mir scheiß egal, wer er ist, ob er ein Mensch ist!“ Gronok sah zu, wie sie fluchte, auf den Boden einschlug, dann gegen die Wand ihres Hauses eintrat und zum Schluss einen Wasserkrug nahm und wegwarf, der geräuschvoll zerbarst. „Du hast keine Wahl“, sagte sie. „Tradition ist Tradition. Das sind die einzigen Gesetze, an die wir uns halten. Der hinterlistige Schmeißkäfer weiß das.“ - „Du hast zugestimmt?!“, schrie sie. Kaum ausgesprochen, erntete sie eine flache Klaue in ihrem Gesicht. Gronoks Lefzen zuckten. „Ich bin nicht deine Mama! Sei nie wieder respektlos zu mir, kapiert? Ich habe nicht zugesagt. Das wirst DU machen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es! Auf sowas lass ich mich nicht ein. Lieber krepiere ich!“ Gronok schnalzte. „Lässt sich machen, wenn du dich so unreif verhältst. Du bist scheinbar nicht die Richtige, die Familie anzuführen.“ Drimba lachte auf. „Versucht du, mich aus der Reserve zu locken?“, fragte sie abfällig. „Klappt es?“, entgegnete ihre Tante und beäugte sie kritisch. Zu gerne hätte Drimba ihr die Augen ausgekratzt, was einem Todesurteil gleichgekommen wäre, denn niemand stellte sich gegen die oberste Familienmutter. Weil sie sich nicht zu helfen wusste und es eine endgültige Entscheidung war, der sie sich nicht widersetzen durfte, weinte sie bittere Zornestränen. Gronok seufzte. „Tut mir leid für dich, Kleines. Ich wünschte, es wäre anders. Aber die Aufforderung ausschlagen geht nicht, weil er eine Rosahaut ist, die bei uns Unterschlupf sucht, und wir uns diese Chance nicht entgehen lassen dürfen. Sieh es als eine Lektion auf dem Weg zur Obermutter. Glaub mir, ich wurde auch zu einigen Sachen gezwungen, für die ich die Welt hasse.“ Drimba sah sie finster an. „Ich bin aber nicht du“, sagte sie. „Das wirst du sein. Irgendwann. Ob du willst, oder nicht. Hat auch Vorteile“, meinte Gronok und bot Drimba einen Platz neben sich auf dem trockenen Boden an. Der Stadtteil, in dem sie lebten, galt als der hässlichste. Aber so dachten nur die anderen Spezies. Für ihre Familie und alle Hyena hier war es genau richtig. Die Häuser, die sie gebaut hatten, waren bunt zusammengesetzte Gebäude, die aus den Resten der Baumaterialien errichtet wurden, die andere übrig gelassen, oder die sie sich zusammengeklaut hatten. Drimba setzte sich hin, legte die Arme auf die Knie und stützte auf ihnen wiederum ihren Kopf ab. Sie sah ins Leere. „Warum kann ich nicht frei sein?“, fragte sie schmollend. Gronok lachte hämisch auf und spuckte dabei einen Klumpen Geifer aus. „Du bist nicht dumm, aber naiver als jeder Mann, Drimba! Niemand ist frei. Egal wer man ist und wo man steht. Jeder ist in einem Käfig, die einen sind nur hübscher, als die anderen. Entweder du lebst dein Leben darin, so gut es geht, oder rennst dir den Schädel ein, weil du raus willst, aber nicht kannst. Finde dich damit ab.“ Sie hustete, röchelte und spuckte aus. „Außerdem! Du nimmst dir doch schon viel heraus. Warum lässt du dich von einem Jaulewolf schnappen? Das sind die dümmsten von allen. Wolltest du dich wieder verprügeln lassen? Oder ficken? Ich verstehe nicht, was du daran findest.“ Drimba sah sie überrascht an. „Woher weißt du jetzt schon davon?“ Gronok grinste schief. „Ich weiß alles. Ich bin die Mutter.“ Ihr Gesicht wurde wieder ernst. „Ich war dir früher ähnlich, aber so verrückt war ich nie. Das muss aufhören! Du bringst uns alle in Schwierigkeiten.“

Drimba erwiderte nichts darauf und nickte stumm.

 

Später im großen Schlafzimmer, in dem sie alle schliefen, lag sie auf ihrem Platz und überlegte hin und her, wie sie aus der beschissenen Situation rauskam, in die sie geraten war. Aber egal, von welcher Seite sie das Thema anging, sie kam zu keiner Lösung. Die einzige Möglichkeit war, wie ihre Tante gesagt hatte, der Tradition nachzugeben. Mist! Sie sah auf das einzige Bett im Raum, gebaut für die Rosahaut. Wenn sie seine Frau wurde, hatte er nichts mehr zu lachen, das war sicher. Warum hatte er sie ausgewählt? Warum nicht ihren Cousin Klonok? Der geil auf ihn und fickte ihn fast jeden Tag! Sie hingegen fand ihn mickrig und wenig vorzeigbar für einen Em’Ra’ul. Sie atmete ein und genervt wieder aus. Ein laues Lüftchen wehte durch das offene Fenster, ihr Schlafplatz lag direkt davor. In den heißen Sommermonaten war es die beste Stelle, an der man nachts lag, um sich nicht zu Tode zu hecheln. Sie verdeckte ihre Augen, indem sie einen Arm darüberlegte, und döste vor sich hin. Schnell vergaß sie, was um sie herum war. Bevor sie einschlief, riss Tante Gronoks Stimme von draußen sie aus ihrem Halbschlaf. „Drimba!“, rief sie meckernd. „Drimba! Hier ist jemand für dich!“ Sie verdrehte die Augen. Wenn sie sie in diesem Ton rief, bedeutete das nichts Angenehmes. Obwohl ... wenn Gronok nach ihr rief, bedeutete das nie etwas Angenehmes. Schwerfällig stand sie auf und verzögerte künstlich den Moment, nach unten zu gehen. Stattdessen wagte sie einen Blick nach draußen und zuckte zusammen. Das Werwölfchen! Scheiße! Sie flitzte sofort nach unten und stand atemlos in der Haustür, die nur mit einem Leinenverdeck verhangen war. Misstrauisch betrachtete sie ihn. Seine Augen waren wieder blau. Vor ihr stehend war er größer, als sie ihn eingeschätzt hatte. Er trug keine Kleidung, was darauf hindeutete, dass er von außerhalb der Stadt kam und auf Durchreise war. Sie hatte davon gehört, dass viele Spezies woanders sich nicht bedeckten. Ihr gefiel das. Gronok stapfte zu ihr und fixierte sie. „Bring das gefälligst in Ordnung, klar? Mir egal, was er will. Er soll verschwinden. Danach unterhalten wir uns“, knurrte sie und schubste sie zur Seite, um ins Haus zu gehen. Als hätte Drimba nicht schon genug Probleme. Sie verzog das Gesicht und taxierte das Wölflein. „Was für toller Mann, du hast mich gefunden!“, sagte die laut und herablassend. Die meisten Männer brachte sie damit in Rage. Bei ihm funktionierte das nicht, er erwiderte ihren Blick. Sie fühlte sich unwohl, weil sie es hasste, eingeschätzt zu werden wie ein Stück Fleisch. „Besser, du verpisst dich, bevor ich dir nochmal auf die Schnauze haue, oder deinen Schwanz abbeiße.“ Er sagte nichts und machte keine Anstalten zu verschwinden. „Oder habe ich dich heiß gemacht? Willst du mich befüllen?“ Nichts. Was sollte das? Versuchte er, sie wütend zu machen? Sie verschränkte die Arme. „Vielleicht willst unsere Rechnung begleichen? Hast dich zurückgehalten, nachdem du mich niedergemäht hast. Du hättest mir leicht ein paar Knochen brechen können. Warum warst du so handzahm, Wölfchen? Oder hat der Kerl, der dich begleitet, dich so perfekt unter seinen Klauen? Wo ist er überhaupt?“ Keine Antwort. Worauf wartete er? „Was willst du eigentlich?“, fuhr sie ihn an. „Stellst dich hin, wie ein Irrer! In unserer Stadt läuft ein Mörder herum, weißt du? Bist du das etwa, der die Leute abmurkst?“ Seine Miene veränderte sich. „Nein, ich bin kein Mörder“, widersprach er. „Ich verfolge nur eine Diebin, die mir etwas wichtiges gestohlen hat.“ - „Ich hab‘ bei euch einiges mitgehen lassen, stimmt. Aber davon kriegst du nichts zurück. Ist alles schon verscherberlt.“ Er legte den Kopf leicht schief und betrachtete sie skeptisch. „Ich glaube kaum, dass sich ein handgeschriebenes Notizbuch verdingen lässt.“ - „Pah! Was weißt DU schon? Es gibt Sammler für antike Bücher“, meinte sie. „Außerdem habe ich es nicht. Ich habe es auch nicht gestohlen. Für sowas interessiere ich mich nicht.“ Er fletschte leicht die Zähne. „Du sagtest, du hast es weggeschmissen.“ - „Ja, weil du mich genervt hast. Ich habe dich angelogen. Ich habe es nicht und hatte es nie. Jetzt verschwinde endlich.“ - „Woher soll ich wissen, dass du nicht wieder lügst?“ Drimba knackte mit ihren Fäusten. Sie hätte ihm gerne die Fresse neu ausgerichtet. Bei allem Kram um sie her käme ihr das recht. Sie zwang sich zur Ruhe und fragte gepresst: „Warum ist dir die Papiersammlung überhaupt so wichtig? Kannst du das nicht neu schreiben?“ Er schüttelte den Kopf und antwortete: „Nein, ich kann nicht lesen und habe es nicht geschrieben. Es gehörte einem -“ Sie lachte ihn bissig aus. „Du -?“, sie verschluckte sich. „- nicht lesen?“ Sie gellte. Das war das Beste, das sie seit langem gehört hatte. Er wollte ein verlorenes Buch, obwohl er nicht lesen und schreiben konnte! Er legte die Ohren an, duckte sich und knurrte sie an, während er sie fixierte. Drimba kämpfte darum, aufzuhören. Nicht um seinetwillen. Sie räusperte sich. „Denk nicht mal dran, Wölfchen!“, warnte sie ihn. „Ich bin hier zu Hause, weißt du? In der Gasse war ich allein, hier sieht das anders aus. Sieh dich um, dann weißt du, was ich meine.“ Schnell bewegten sich seine Augen hin und her. „Na, siehst du sie? Sie sind überall. Wenn du mit deiner Rute in die falsche Richtung wedelst, springen sie dich an und nehmen dich auseinander, egal wie stark du bist.“ Ha, sie hatte ihn! Er war verärgert, unterdrückte aber seine Aggression gegen sie. Gronok hatte die Familie zusammengerufen, während sie mit ihm sprach. Es war nicht gelogen, dass sie ihn anfielen, wenn er zuerst angriff. Bei solchen Sachen hielten Hyena bis auf den Tod zusammen. „Also nochmal. Verschwinde, solange du kannst“, sagte sie hart. Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ohne das Buch gehe ich nicht. Wenn du es nicht hast, wirst du mir helfen, es zu suchen.“ Drimba greinte. „Sicher doch, mein Fürst, sicher! Danach lecke ich Euch gerne das Arschloch, wenn Ihr wünscht“, spottete sie. „Geh nach Hause, Wölfchen. Oder wo immer du herkommst. Hier hilft dir keiner.“ Sie wandte sich ab und machte den ersten Schritt nach drinnen. „Du drehst mir den Rücken zu? Du bist dumm“, sagte er. Sie wollte es nicht, ließ sich von seinen Worten aber provozieren, was genau das war, was er beabsichtigte. Sie wusste das, ihre Tante hatte ihr oft genug deswegen ins Gewissen geredet, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Trotzdem blieb sie stehen und drehte sich wieder um. „Wie war das? Dumm?“, fragte sie, spielte das betroffene Mädchen und blinzelte, als ob sie gleich Tränen vergoss. „So etwas schlimmes hat noch nie jemand zu mir gesagt. Warum sagt Ihr das, Fürst?“ - „Weil ich dir den Kopf eingeschlagen habe, bevor deine Familie eingreifen kann, egal wie schnell sie bei dir sind“, erklärte er. Er neigte den Kopf unnatürlich, seine Maulwinkel kletterten empor und verwandelten sein Gesicht in ein verrücktes Grinsen, das sie so bei noch keinem gesehen hatte. Seine Augen wurden wieder gelb und grün. Ihr Nackenfell stellte sich auf. „Und nach dir werde ich noch mindestens fünf Sekunden Zeit haben, um die nächsten drei zur Strecke zu bringen. Ich frage dich, was sich weniger lohnt: Vier Leben wegzuschmeißen, oder mir zu helfen?“

Was war der überhaupt für einer? Drimba versuchte, den Bluff in seinen Augen zu sehen, aber da war nichts. Ihm war egal, dass er starb, wenn er sie dadurch mit in den Tod riss. Warum passierten ausgerechnet ihr diese komischen Sachen im Moment? Sie atmete ein und grummelnd aus, überspielte ihre unterschwellige Furcht, um vor den anderen nicht wie ein Schisser dazustehen, und antwortete: „Schon gut, schon gut, Bengel. Ich helfe dir. Keine Ahnung, was du dir davon versprichst, wenn ich mitkomme, obwohl ich nichts weiß.“ Sein ekelhaftes Grinsen verschwand, der Kopf saß wieder gerade auf dem Hals, die Augen wechselten zu Blau, behielten aber einen Schimmer gelb und grün bei. „Du bist gut im Finden von Dingen“, sagte er, wandte sich ab und schritt ein paar Meter voran. Bevor Drimba es sich versah, folgte sie ihm unaufgefordert. In Gedanken hörte sie ihre Tante fluchen, weil es der perfekte Moment für sie gewesen wäre, zu verschwinden. Doch da gab es etwas, das sie gebunden hielt und wie an einer Leine hinter dem Wölfchen herzog. Das Gefühl, das sie hatte, wenn sie gejagt wurde, brandete in ihrem Bauch wie Sturmwellen. Dem widerstand sie nicht. Sie hatte ihrer Intuition ihr Leben lang vertraut, nie hatte sie sie in die Irre geführt. Mit ein paar schnellen Schritten schloss sie auf und musterte das Werwölfchen interessiert, der sie hingegen nicht beachtete. Es war merkwürdig, wie sicher er durch die Straßen schritt, obwohl er sich nicht auskannte. Sie überlegte, was sie sagen sollte. „Lass mich eins klarstellen. Ich mache das hier nicht freiwillig, deshalb solltest du nicht zu viel erwarten. Wenn wir den Schnipsel finden, perfekt. Aber wenn es aussichtslos ist und du mich nervst, verschwinde ich“, erklärte sie und verdrehte über sich selbst die Augen. Das war nicht die beste Art, mit jemandem ins Gespräch zu kommen. „Das wird nicht passieren“, sagte er. Ob er damit das Buch meinte, oder dass sie aufgab und ihn verließ, ließ er offen. Er sah sie von oben herab an. Direkt neben ihr wirkte er nochmal größer, aber nicht furchteinflößend. „Ich heiße Wulfiga“, stellte er sich vor. „Hübsch“, kommentierte sie lakonisch. „Klingt fremd, gefällt mir.“ - „Wie lautet dein Name?“, fragte er. Sofort nahm sie Abstand und hob ablehnend eine Klaue. „Ne ne, so läuft das nicht. Nur weil du mir deinen Namen verrätst, sage ich dir doch meinen nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie du willst.“ - „Ja, so will ich das“, sagte sie prompt und kam sich dabei kindisch vor. Andererseits war ihr Glaube an tiefe Hexerei stark. Mit Namen stellten begabte Hexen und Hexer einiges an. Sie musste es wissen, ihre Mama war eine gewesen.

„Wo gehen wir hin?“, fragte sie. Wulfiga schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß nicht, wie der Ort heißt. Ein kleiner Verschlag außerhalb der Stadt.“ Als er nichts weiter sagte, hakte sie gereizt nach: „Und was ist dort?“ - „Dort wartet Vlooriean. Du hast ihn auf dem Markt gesehen, er ist ein Mensch. Als wir herkamen, wussten wir nicht, dass Menschen hier selten sind und wie Götter verehrt werden. Nachdem du uns bestohlen hast und ich zu ihm zurückging, war er umringt von dutzenden Leuten. Sie haben ihn alle mit dem Namen Lammb angesprochen, so als kannten sie ihn. Ich musste ihn aus der Stadt in ein Versteck bringen, bevor einer von ihnen -“ - „Ja, ja, das ist genug!“, unterbrach sie ihn. „Mehr will ich nicht wissen. Je weniger, desto besser. Macht sonst nur Ärger.“ Er schwieg und blieb für Drimba wie ein Nebelfeld. Eben wortkarg wie trockenes Brot, quakte er ihr im nächsten Moment die Ohren taub. Sie dachte kurz über die Zufälle der letzten Wochen nach und schmunzelte frech. „Was ist?“, fragte er, sodass sie aufsah und in flatterhafte Augen blickte. Wie putzig. Sein Selbstbewusstsein war praktisch nicht mehr vorhanden und naiver Jugendschwäche gewichen. Wie alt er wohl war? „Wundert mich nicht, wie dein Kerl von den anderen behandelt wurde. Vor einiger Zeit ist hier ein Mensch namens Lammb auf dem Marktplatz aufgetaucht und hat Goldklumpen verteilt“, erklärte sie. Dass besagter Lammb in ihrem Haus wenige Meter von ihr entfernt schlief und ihr die verfluchte Aufforderung geschickt hat, um seine Hand anzuhalten, unterschlug sie besser. Es ging Wulfiga nichts an. Nachdenklich richtete er den Blick nach vorne. „Ach, so ist das“, murmelte er in sich hinein. Aus dem Nichts rannte jemand auf ihn zu und warf Wulfiga mit einen gezielten Satz um. Drimba wich aus, indem sie einen Purzelbaum schlug, bevor sie begraben wurde. Er fackelte nicht lange, knurrte und grollte und rollte sich mit dem Angreifer auf dem Boden, bis der unter ihm war und er ihn unter Kontrolle hatte. Wulfiga fletschte die Zähne und rammte seine Krallen rechts und links neben ihm in den Boden. Nur griff ihn niemand an. Es war außerdem kein Mann, der ihn angefallen hatte, sondern eine Lykantherfrau. Sie hatte etwa Drimbas Größe und war für eine Werwölfin eher klein oder sehr jung. Sie erwiderte Wulfigas Geknurre, leckte sich dabei permanent die Lefzen und starrte ihn offen an, was im Normalfall ein Zeichen für Aggressivität war. Aber was war schon normal? Beide, Wulfiga und die Fremde präsentierten sich gegenseitig ihre gefletschten Zähne und schwenkten ruckartig ihre Köpfe hin und her, um zu entscheiden, wer von beiden der oder die Alpha war. Dabei wälzten sie sich mehrere Runden auf dem Boden, verfingen sich und ließen danach wieder voneinander ab. Drimba stand da und sah ihnen interessiert zu. Zum Schluss lachte sie schallend auf, als die Lykanthin Wulfiga auf allen vier Gliedmaßen sowohl Rücken und Hintern zuwandte und ihre wuschelige Rute in die Höhe streckte. Dabei japste sie auffordernd. Drimba lachte nicht wegen ihr, sondern weil Wulfiga das Gebaren seiner Kontrahentin falsch verstanden hatte. Was er als Angriff wertete, war in Wahrheit eine Balz. Entsprechend verdutzt und vor den Kopf gestoßen sah er die Lykanthin an, wie sie ihren Kopf umwandte, leicht hechelte und mit einer sanften Bewegung ihres Unterleibs zum Beischlaf aufforderte. Hilflos sah er zu Drimba, deshalb lacht sie. „Du hast gar keine Ahnung von Frauen deiner Art, was?“, sagte sie und nickte ihm zu. „Du bist nackt, Wölfchen. Da, wo du herkommst, bedeutet das vielleicht nichts. Hier bei uns sagst du damit allen, dass du Lust zum Vögeln hast.“ Pures Entsetzen überschwemmte Wulfigas Miene. Das war doch nicht möglich? „Du hast keine Ahnung, was du jetzt machen musst, oder?“, wunderte sie sich. Er schüttelte den Kopf, sein Blick wanderte wieder zu der ungeduldiger werdenden Artgenossin. Es sah nicht so aus, als ob er das wollte, selbst wenn er Lust hätte. „Tja, du musst was mit ihr machen, sonst lässt sie dich, oder uns, nicht gehen. Du hast sie eingeladen, jetzt ist sie geil“, erklärte sie ihm. „So läuft das hier. Sonst beleidigst du sie, was böse wird und sie ihre Familie auf dich hetzen kann.“ Das war gelogen, aber sie wollte Wulfiga aus der Fassung bringen. Als wäre die Lykanthin auf ihrer Seite, grollte sie kehlig in seine Richtung. Er gewann wieder seine Ruhe zurück, schüttelte leicht den Kopf und sagte: „Nein, das kann ich nicht.“ Drimba prustete. „Was? Du bekommst einen Fick umsonst und willst nicht?“ Er sah sie ausdruckslos an. „Ich... kann einfach nicht“, wiederholte er. Drimba legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel, um sich selbst zu beruhigen. Bei Lux und Nox! Sie erbarmte und entledigte sich ihres Lendenschurzes. Denn obwohl sie gelogen hatte, was die Häscherei anging, stimmte es, dass Lykanthinnen beruhigt werden mussten, wenn sie in der Balz waren. Entweder durch das Offensichtliche oder indem sie ihrem Frust gewalttätig freien Lauf ließen. Auf ein Blutbad hatte Drimba keine Lust. Sie schritt hinter die irritierte Lykanthin und kniete hin. „Tja, du siehst ja, dass er zu nichts zu gebrauchen. Männer sind einfach unzuverlässig“, meinte sie und zwinkerte ihr zu. „Ich bin zwar nicht der Traum deiner feuchten Träume, aber wenn du willst besorge ich es dir. Einen langen Schwanz kann ich anbieten.“ Die Lykanthin taxierte Drimba eingehend, doch mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs ihr der Ekel ins Gesicht. Kaum hatte sie begriffen, dass Wulfiga sie nicht bestieg, trat sie nach hinten aus und erwischte Drimba an der Schnauze. Dann sprang sie auf und fluchte: „Verschwinde! Ich lasse mich nicht von einer Hyäne schwängern!“ Danach eilte sie an Wulfiga vorbei, der Drimba zu Hilfe gekommen war, die halb benebelt am Boden kauerte, und holte zu einem Hieb aus. Er traf sie zuerst und verpasste ihr mit gezückten Krallen drei blutende Streifen an der Schläfe. Sie jaulte auf, sodass alle Personen, zwei Tigronidinnen, ein Alligaton, mehrere Frok, drei Canide und ein absurd großer Ligronid, sie anstarrten, aber niemand eingriff. Sie waren weit weg vom Viertel der Lykanther. Dort hätte der Hieb für sie beide ein schlimmes Ende genommen. Hier waren sie in der Nähe des Frok-Viertels, von denen sich keiner dafür interessierte, was andere Spezies für Zwistigkeiten hatten. Sie hielt sich die blutenden Wunden und rannte Hals über Kopf weiter jammernd davon.

„Alles in Ordnung?“, fragte Wulfiga. Er berührte sie nicht, sondern wartete nur, bis Drimba wieder bei Verstand war. Sie spuckte Blut aus. „Sehe ich so aus?“, bellte sie ihn an. Ein ziehender Schmerz durchfuhr ihr Gesicht, sie spuckte wieder und ein Zahn folgte. Ein Reißzahn. Mit ihrer Zunge untersuchte sie schockiert die Stelle, die empfindlich pochte. „Er ist nicht abgebrochen, keine Sorge“, sagte er. Sie verzog das Gesicht. „Danke, Herr, danke für Eure Einschätzung!“, spottete sie und richtete sich auf. „Wegen dir hab ich ihn erst verloren!“ Wulfiga wollte etwas sagen, aber bevor er das schaffte, verpasste sie ihm eine Ohrfeige. Er jaulte fast so hoch wie die Lykanthin, türmte aber nicht, was Drimba am liebsten gewesen wäre, um ihn endlich los zu sein. Stattdessen hielt er den Blick abgewandt, die Ohren schuldbewusst angelegt. Widerlich. Wenn sie etwas mehr hasste, als einen Zahn zu verlieren, dann devote Kerle wie ihn. „Du mit deinem Drecksbuch, Lammb mit seiner verdammten Heiratsaufforderung an mich, meine Tante, die mir Druck macht, weil ich sonst keine Obermutter werde. Was macht da schon ein fehlender Reißzahn?“, zeterte sie. „Warum fickt ihr euch nicht alle gegenseitig, damit ihr mich nicht mehr nervt?“ Sie stand auf und trat Wulfiga ans Bein. „Los, gehen wir. Wenn ich so viel aufnehme, um dein Geschreibsel zu suchen, will ich es finden und wissen, was da drin steht.“ Wortlos kam er auf die Beine und ging gebeugt voran.

 

Eine Stunde später passierten sie die Stadtgrenze, Drimba hing ihren Gedanken nach, gelegentlich unterbrochen vom zuckenden Schmerz an der Stelle des fehlendes Reißzahns. Wenn sie nach Hause kam, lachten die anderen sie aus, während Gronok sie missbilligend verurteilte. Sie hatte schon viele Narben, aber keine offensichtliche Entstellung. Die meisten wussten es nicht, aber Hyena-Frauen achteten vermehrt auf ein gewisses Äußeres. Ein ebenmäßiges Gesicht mit gerade gewachsenen Zähnen gehörte dazu. Darin hatte sie Glück gehabt. Ihr Vater war ein ansehnlicher Canide gewesen, von dem sie ihr Aussehen geerbt hatte. Ihre Mutter hingegen so durchschnittlich wie fast alle Hyena-Frauen. Das war überhaupt der Grund, warum sich sogar Kerle anderer Arten für sie interessierten. Aber jetzt nicht mehr. So sah sie vorzeitig gealtert aus. „Wir können uns gegenseitig helfen“, sagte Wulfiga in die schweigsame Mauer hinein. Es dauerte einen Moment, bis Drimba wieder im Hier und Jetzt angelangte und dessen Worte aufnahm. „Helfen? Wobei?“, fragte sie. Sie spazierten auf einem trockenen Weg entlang, die Wiesen rundherum waren durch die heißen Tage des vergangenen Sommers vertrocknet. Links in der Ferne lag der nahegelegene Tropenwald, der bis an die Stadtgrenze heranreichte, wo die Viertel der Leoniden und Tigroniden lagen. Nach rechts führte die trockene Landschaft weiter in die endlos scheinende Savanne, in der sich nur hier und da Bäume dem Himmel entgegenstreckten. In letzter Zeit hatte sie oft daran gedacht, dorthin zu flüchten, weg von allen Verpflichtungen und ein Vagabundenleben zu führen, auf sich alleine gestellt. Heute mehr denn je. „Du sagtest, du hast eine Aufforderung von Lammb erhalten. Was bedeutet das?“, fragte er. Überrascht sah sie ihn an, ohne dass Wulfiga den Blick erwiderte. Wann hatte sie ihm das gesagt? Als sie wütend war? Hoppla. „Wer eine Aufforderung bekommt, muss um die Person werben, die sie verschickt hat. So werden hier viele Ehen geschlossen“, erklärte sie knapp. Ein bisschen komplizierter war es schon. Zum Beispiel erhielten mehrere andere die Aufforderung, einer Frau oder einem Mann den Hof zu machen, damit der, der die Ehe eingehen will, sich jemanden aussucht. „Und du hast eine bekommen und bist gezwungen, ihr nachzugehen, obwohl du das nicht willst?“, hakte er nach. „Ja“, sagte sie kleinlaut. Warum fragte er sie darüber aus? Und warum antwortete sie darauf?? „Lass uns einen Handel eingehen“, schlug er vor. Er sah sie undurchdringlich an. „Wenn du mein Buch findest, sorge ich dafür, dass du nicht seine Frau wirst.“ Sie sah ihn skeptisch an. „Aha, und wie willst du das hinbekommen? Hältst du mich für so dämlich, dass ich darauf reinfalle?“ - „Im Gegenteil, ich halte dich für schlauer als die meisten. Wie ich dich aus der Pflicht bekomme, lass meine Sorge sein.“ Drimba legte die Stirn in Falten. Sie traute ihm nicht. Bei den Göttern, natürlich nicht! Aber die Offerte war verlockend und würde vieles für sie erleichtern. Seine Augen sprachen wahr, sie erkannte keine Lüge darin. Gronok hatte ihr beigebracht, auf die Anzeichen im Blick eines Lügners zu achten. Wulfigas zeigte keins davon. „Wenn du mich verscheißerst...“, sagte sie eine dumpfe Tonlage tiefer und knurrte dabei, sie beendete den Satz nicht. „Das habe ich nicht nötig“, entgegnete er. Er war arrogant, aber sie stellte fest, dass er aufrichtig war. Sie blieb stehen, er schritt einen Meter voran, bevor er zurücksah und auf sie wartete. „Es ist dir ernst? Einen Handel einzugehen ist keine leichte Sache. Wenn du mich betrügst, bist du ein ehrloser Bastard, kapiert? Sowas verfolgt einen auf die eine oder andere Weise“, sagte sie, er nickte wortlos. Sie streckte den linken Arm aus. „Komm her.“ Er kam zu ihr, sie griff nach seiner rechten Klaue, führte sie an ihre Schnauze und biss kräftig zu. Er bellte auf und zuckte zurück, dabei schleuderte er ein paar Tropfen Blut fort. Er grollte, Drimba sah ihn kühl an. „Ein Handel, wie deiner, wird bei uns mit Blut besiegelt“, erklärte sie und biss sich umständlich selbst in die rechte Klaue, aus der sofort ein Rinnsal floss. Mit ihrem verlorenen Zahn hätte sie damit keine Probleme gehabt. „Du trinkst von meinem Blut, ich von deinem. So wird das gemacht. Wenn einer den anderen bescheißt, stirbt der Betrüger, oder wird verflucht.“ Wulfiga betrachtete seine Wunde, dann wieder sie. „Ist alte Hexerei, hat mir meine Mama beigebracht. Ich verstehe es, wenn du nicht willst. Aber anders schließe ich keinen Pakt mit dir, Wölfchen.“ Seine Lefzen zuckten, dann hielt er ihr die Klaue hin, die sie wieder nahm. Drimba wiederum hielt ihm ihre blutende Klaue entgegen, die er mit der Linken umfasste. Sein Griff war hart. „Was jetzt?“, fragte er. „Ablecken, was sonst?“, antwortete sie und schleckte über Wulfigas flache Klaueninnenfläche. Hatte sie ihn zu doll gebissen? Er knurrte. Darüber war sie schadenfroh, er verdiente ein wenig Schmerz. Während er ihr Blut ableckte, änderte die Farbe seiner Augen abrupt von Himmelblau in Dunkelgrün auf dem einen und stechende Gelb auf dem anderen. Er starrte sie an, als wäre sie seine Beute, was ihr unangenehm war und sie sich von ihm befreite. Sie hatte den Eindruck, dass er freiwillig mehr Blut von ihr gekostet hätte. „Das war’s. Jetzt haben wir eine Vereinbarung. Ich helfe dir, du hilfst mir. Ganz einfach.“ Wulfiga blinzelte, seine Augen waren wieder normal. Hatte sie sich das eingebildet? „So, wie besprochen“, sagte er.

 

„Und wen hast du mitgebracht?“, fragte der unhöfliche Mensch, den Wulfiga Vlooriean nannte. Er war nicht so klein wie Lammb, aber aus Drimbas Sicht trotzdem gedrungen. Dazu war er vollschlank und kein Gerippe, was ihr besser gefiel. Lammb war ein Skelett dagegen, bei dem man aufpassen musste, ihn nicht zu fest anzustupsen. Die Augen dieses Menschen aber waren hart und sahen abgekämpft aus, ohne dabei leblos zu sein. Drimba nickte zum Gruß. „Drimba“, sagte sie, worauf Wulfiga sie fast beleidigt ansah. „Ihm nennst du sofort deinen Namen?“, fragte er. Ertappt. Sie hatte vergessen, dass er den nicht wusste. Sie zuckte mit dem Schultern. „Muss an seinem sympathischen Äußeren liegen. Du hingegen knurrst nur“, behauptete sie ... worauf Wulfiga unzufrieden knurrte. Im Hintergrund lachte Vlooriean auf. „Sie hat dich im Griff“, frotzelte er. „Aber warum ist sie hier? Sag nicht, wegen des Buches. Bitte nicht deswegen.“ Wulfiga nickte. „Doch“, antwortete er, worauf Vlooriean die rechte Hand an seine Schläfe führte und sie massierte. Drimba war nicht die Einzige, der Wulfiga Kopfzerbrechen bereitete. Geteiltes Leid ist halbes Leid, nicht wahr? Vlooriean taxierte sie und legte die Augenbrauen schief, seine Augen waren dunkelbraun, was nur zu sehen war, wenn sie von Sonnenstrahlen angeleuchtet wurden. Sonst wirkten sie schwarz. „Moment. Ist das nicht die, die uns beraubt hat?“, fragte er. Drimba nickte sofort. „Genau die bin ich“, gab sie zu. Was nützte es, zu lügen? Vlooriean sah zu Wulfiga. „Warum bringst du ausgerechnet sie her?“ Zu ihr: „Bevor du auf dumme Gedanken kommst: Wir haben nichts mehr. Du hast uns alles geklaut, was wertvoll ist. Das war nicht viel.“ Sie grinste. „Ja, das stimmt leider.“ Darauf verzog er missbilligend das Gesicht. „Hatte sie das Buch nicht bei sich?“, fragte er. „Sie hatte es nie“, antwortete Wulfiga. „Sie hilft mir, es zu suchen.“ Vlooriean seufzte unheilverkündend. „Ich habe dir gesagt, wir werden es finden. Alleine!“, polterte er plötzlich los. „Und wie? Du erregst zu viel Aufmerksamkeit!“, polterte Wulfiga zurück. Dann war wieder Ruhe. Der Ausbruch war so unerwartet, dass Drimba wie bei einem Puppenspiel für Kinder gebannt dastand und wartete, wie der nächste Teil weiterging. „In unserer Stadt etwas zu finden, ist für Fremde wie euch unmöglich“, erklärte sie und mischte sich in ihren Zwist ein, um vor allem Vloorieans Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie verschränkte die Arme in ihrem Rücken und streckte sich. „Deshalb hat dein Wölfchen mich gefragt, zu helfen. Ohne mich werdet ihr gar nichts finden.“ - „Du hilfst uns? Sicher nicht, ohne eine Gegenleistung, Diebin“, entgegnete er. „Was denkst du denn? Nichts in der Welt ist umsonst“, sagte sie abfällig. „Und bevor ich noch einen weiteren Zahn verliere, will ich wissen, was da drin steht.“ Vlooriean sah sie ausdruckslos an. „Das Buch gehört ihm“, sagte er und wollte sich aus dem Thema raushalten. Drimba schüttelte den Kopf. „Vergiss es, Rosahaut. Wulfiga hat mir schon gesagt, dass er nicht lesen kann. Du weißt besser, als er, was das für ein Wisch ist.“ Er sah Wulfiga vorwurfsvoll an, so als ob er das geheimste Geheimnis verraten hatte. Der wiederum erwiderte seinen Blick. Drimba lachte auf. „Ihr müsst euch echt gern haben. Steht ihr aufeinander?“, fragte sie. Wulfiga stutze. „Wie kommst du darauf?“ - „So, wie ihr beide, verhalten sich Ehepartner.“ Sie sahen sie verdutzt an. Vlooriean räusperte sich. „In dem Buch steht nichts wichtiges, es -“ - „Scheiß drauf! Es ist wichtig genug, dass ihr es wiederhaben wollt. Los, sag endlich!“, unterbrach sie ihn. „Es ist ein Traumtagebuch“, erklärte Wulfiga. „Ein was? Was soll das sein?“, wunderte sie sich. „Ein Buch, in dem man Träume aufschreibt“, sagte er. Drimba sah ihn an, als ob er nicht bei sich war. Wer war in der Lage, Träume aufzuschreiben? Sie wusste, dass sie selbst träumte. Jeder träumte, aber keiner hatte danach eine Ahnung, worüber. „Ich weiß, wie es dir geht“, sagte Wulfiga. „Ich wusste auch lange nichts davon, aber Menschen träumen und erinnern sich später daran.“ Sie horchte auf. Das war - erstaunlich. Sie sah zu Vlooriean, der sofort abwinkte. „Es ist nicht mein Traumtagebuch“, sagte er. „Es ist von -“ Er unterbrach sich und schielte zu Wulfiga herüber. „Es gehörte einem Menschen, der mir wichtig war. Und noch ist“, erklärte der. „Er hat es mir nicht gegeben, ich habe es einfach mitgenommen, um eine Erinnerung an ihn zu haben. Vlooriean liest mir manchmal daraus vor. Dann werden meine Gedanken - hm - klarer.“ Drimba stand da, wie dumm. Die zog die Schnauze hoch und spuckte aus. „Du bist ein echt seltsamer Jaulewolf, Kleiner“, sagte sie, worauf seine Lefzen leicht zuckten und er wieder den irren Blick bekam. „Ich bin weder klein, noch eine Jaulewolf. Ich heule den Mond nicht an, wie andere“, grollte er. „Sei vorsichtig, wie du mich behandelst. Drimba.“ Er betonte ihren Namen deutlich, um klarzustellen, dass er ebenfalls beim Namen genannt werden wollte. Obwohl sich ihre Nackenhaare aufstellten, entgegnete sie kalt: „Egal, wie ich dich nenne. Pakt ist Pakt. Wenn du mir etwas antust, ist es vorbei.“ Wulfiga ließ das so stehen, ohne das letzte Wort zu haben. Aber genau das verstärkte ihr unwohles Gefühl. „Du schweigst? Dann ist das ein Ja, nehme ich an“, sagte sie und fuhr gleich fort: „Hat jemand eine Idee, wann es euch abhanden gekommen ist? Ich kann mich nicht daran erinnern, ein Buch in deiner Tasche gespürt zu haben.“ Vlooriean schüttelte den Kopf und sah schuldbewusst aus. Er war genauso schwer einzuschätzen, wie Wulfiga, weil seine Miene sich kaum veränderte. Oder spielte er ihr etwas vor? „Nein, ich weiß es nicht. Ich habe nichts bemerkt. Wenn du sagst, du hast es nie gehabt, weiß ich nicht, wo ich es verloren habe“, antwortete er. „Das heißt, ihr habt das blöde Ding vielleicht schon verloren, bevor ihr die Stadt betreten habt“, stellte sie fest. „Möglich“, stimmte er zu. „Na, toll“, sagte sie und sah zu Wulfiga. „Vielleicht erweitern wir den Pakt nochmal? Scheint ja, als werde ich mehrere Jahre brauchen, um deinen Schatz zu finden.“ - „Meinen Schatz?“ Wulfiga zuckte mit einem Ohr. „Ja, das ist es wohl... mein wertvoller Schatz. Was schlägst du vor?“ Die Frage erstaunte sie. „Ich soll jetzt also die ganze Arbeit machen? Ne ne, so nicht. Du hilfst gefälligst.“ Sie überlegte einen Moment. „Ich habe selbst keine Ahnung, wo wir anfangen sollen. Zeig mir erstmal den Weg, den ihr durch die Stadt gegangen seit. Dann ergibt sich bestimmt etwas.“ Wulfiga sah die missmutig an. „Was ist? Hast du eine Fliege durch die Schnauze eingeatmet?“, fragte sie. „Ich hatte ihm dasselbe vorgeschlagen“, sagte Vlooriean. „Aber der Trottel hat lieber dich aufgesucht.“ - „Halt dein Maul!“, bellte Wulfiga, dass er sich erschrak und verärgert, aber ohne weitere Worte den Kopf schüttelte.

 

Vlooriean blieb zurück. Als Mensch behinderte er sie eher, als dass er ihnen half. Wulfiga und Drimba begannen schweigend mit der Suche. Nach der letzten Szene war überdeutlich, dass einiges im Argen lag. „Wenn du ihn nicht magst, warum frisst du ihn nicht auf?“, fragte Drimba, während sie durch die piekfeinen Straßen und Alleen des Hominidenviertels scharwenzelten. Humanoide Affen und Gorillas, die den Menschen wie kein anderes Volk nacheiferten, was nicht nur Hyena oft peinlich fanden. Ihr Viertel war das sauberste und ordentlichste der ganzen Stadt. Hier verwirklichten sie ihre verschrobenen Vorstellungen davon, wie die Menschen ihre Städte gestalteten, was dazu führte, dass sich die ansässigen Familien gegenseitig mit nach außen getragenem Prunk zu überbieten versuchten und einander bekriegten. Von allen Seiten wurden sie begafft und abschätzig betrachtet. Ein paar Damen warfen Wulfiga laszive Blicke hinterher, weil er immer noch keinen Schurz trug. Es war nicht verboten, durch die Straßen ihres Viertels zu gehen, aber kaum einer wagte es, da Hominiden anderen Spezies gegenüber meist abweisend waren. Sie hielten sich für etwas besseres und ekelten Besucher dadurch weg. Von ihrer Abscheu gegenüber Drimba oder anderen Hyena gar nicht zu reden.

Wulfiga seufzte grollend. „Was zwischen Vlooriean und mir ist, ist ... kompliziert.“ - „Sag bloß“, warf Drimba sarkastisch ein. „Wenn es zu kompliziert ist, mach einen Schnitt. Danach ist es einfacher.“ Er sah sie skeptisch an. „Ist das die Art, wie deine Leute und du Beziehungen beendet? So bin ich nicht. Ich liebe Vlooriean. Er mich auch. Aber genauso hassen wir uns selbst und gegenseitig. Doch wir brauchen uns, bedingen einander. Ohne den einen, gibt es den anderen nicht.“ - „Hörst du dir eigentlich selbst zu? Du klingst wie ein Bessessener. Auch wenn du unsere Weise nicht magst, macht sie vieles leichter, finde ich. Aber die meisten verstehen das nicht. Weißt du, warum es bei uns Hyena keine Lügen unter Lebensgefährten gibt? Weil wir das nicht nötig haben. Wir trennen uns, bevor die erste aufkommt.“ Wulfiga betrachtete sie nachdenklich. „Klingt, als ob du aus Erfahrung sprichst“, meinte er. Erwischt! Verdammt! Warum brabbelte sie so unüberlegt daher? Wie schaffte er es, sie dazu zu bringen, sich zu öffnen? „Verschwindet, dreckiges Pack!“, schrie jemand vom Fenster eines knallgelben Herrenhauses herunter, an dem sie vorbei schritten. Einen Moment später landeten links neben Wulfiga verdorbene Abfälle. Ein verfaulter Pfirsich erwischte Drimba an der Schulter, ein angebissener Apfel Wulfiga an Bein. „Fick dich doch selber!“, rief Drimba zurück und erntete von Wulfiga einen schiefen Blick. Am Fenster stand ein Gorillamann, der sie mit gefletschten Zähnen anstarrte und mehr Unrat in den Händen hatte. Er warf wieder etwas, diesmal wichen sie aus. Ein strenger Geruch stieg ihnen in die Schnauzen. Wulfiga verzog angeekelt das Gesicht, Drimba hingegen kannte das schon. So sehr sich Hominiden um ihre Ähnlichkeit zu den Menschen bemühten, waren sie trotzdem nicht anders, als alle anderen. Das zeigte sich in Situationen wie diesen, in denen sie Leuten, die sie hassten, mit frisch auf ihre Hand geschissenem Kot bewarfen. Obwohl angewidert, nahm Wulfiga den warmen Köttel und warf ihn zu seinem Besitzer zurück. Es klatschte. „Brua-a-a-ah!“ Er hatte ihn erwischt, mit der eigenen Scheiße ins Gesicht. Drimba lachte laut schallend auf, bevor sie Wulfiga am Arm hinter sich herzog und sie beide davonstoben. Der Kerl polterte aus seiner Behausung und jagte ihnen bis an die Grenze des Viertels hinterher. Drimbas Herz machte einen Sprung, Glücksgefühle schossen durch sie hindurch. Sie fühlte sich gejagt.

„Ich habe Scheiße im Fell“, sagte Wulfiga und hielt die rechte Klaue von sich weg, als sei sie nicht Teil seines Körpers. Drimba hörte nicht hin. Sie wälzte sich auf dem Boden und bekam keine Luft. Ein Außenstehender hätte vermutet, dass er ihr in den Bauch geboxt hat und sie zu Boden gegangen ist. In Wahrheit lachte sie stimmlos. Sie hatte alle Luft aus ihren Lungen gepresst und kriegte sich nicht ein. „Kannst du dich bitte beruhigen?“, fragte er. „Wir sind noch kein Stück weiter.“ Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihre Stimme wieder hatte und sich die Lachtränen von den Wangen wusch und aufrappelte. „Voll erwischt, mitten in die Fresse. Du bist genial!“, sagte sie und feixte dann nochmal, zwang sich aber selbst zur Ruhe. Grinsend meinte sie: „Komm mit, ich bringe dich zum nächsten Brunnen.“ - „Bitte schnell.“ - „Stell dich nicht an. Das bisschen Dreck in den Pfoten bringt dich nicht um.“ - „Werwölfe haben einen ausgeprägten Geruchssinn. Und das, was der Gorilla nach uns geschmissen hat, war intensiv.“ - „Ja, ja. Wir sind schon da. Dort, siehst du?“ Den letzten Satz hätte sie sich sparen können. Er hechtete sofort an den öffentlichen Brunnen und hielt die Klaue unter das fließende Nass. Dass ein Wölfchen so konsequent seine Eitelkeit ignorierte, dann aber über Kinkerlitzchen jammerte, war mindestens genauso zum Brüllen. Er wusch sie länger, als nötig, und schüttelte sie dann trocken. Danach wartete er eine Minute, bis das Wasser etwas ab- und neues nachgeflossen war, und trank dann in großen Zügen. „Was machen wir jetzt?“, fragte er hinterher. „Weiß nicht. Du kannst mir ja keinen Anhaltspunkt geben“, sagte Drimba, war aber zu abgelenkt von ihrem Umfeld. Ein paar Tigronide beobachteten sie. „Das heißt, du hast versagt“, urteilte Wulfiga. Sie sah ihn an, wie vor den Kopf gestoßen. „Wir haben kaum gesucht. Bitte verzeiht, dass es Euch nicht schnell genug geht, mein Fürst“, spottete sie. „Davon ab, haben wir andere Probleme.“ Wulfiga schielte hin und her, ohne sich zu drehen. „Ich habe sie schon bemerkt, als wir herkamen. Warum sehen die uns so an?“ Sie schüttelte den Kopf. „Die sehen mich an, nicht dich.“ - „Warum? Hast du ihnen etwas gestohlen?“, fragte er. „Mehr als das. Ich hab einem von ihnen Ehre und Eier genommen. Und weil derjenige ein Kätzchen war, das in der Stadt mehr zu sagen hatte, haben sie ordentlich an Einfluss verloren.“ - „Wenn du solche Probleme mit ihnen hast, warum sind wir dann hierher gekommen? Es scheint ihr Viertel zu sein“, stellte er fest, während sich, kaum versteckt, weitere Tigroniden versammelten und Drimba hasserfüllt fixierten. „Ich hab nicht mehr dran gedacht, weil ein Wolfpickel mich schon den ganzen Tag am Arsch juckt und nervt.“ Wulfiga stand auf und baute sich auf. „Rennen wir weg?“, fragte er. Drimba grinste. „Wäre spaßig, aber mir ist gerade eine andere Idee gekommen. Außerdem bringt das nichts mehr. Siehst du die da?“ Sie zeigte auf zwei Pardiden, humanoide Leoparden. „Die sind auf kurzer Strecke flinker als wir. Nützt nix, wegzulaufen.“ - „Woran hast du dann gedacht?“, fragte er, er fletschte die Zähne. „Kämpfen?“ Es wurden mehr und mehr Tigroniden und Pardiden, mittlerweile fast zwanzig, die sie umkreisten. Bald war jeder Fluchtweg abgeschnitten. So spontan kampflustig gefiel er ihr. „Sie fordern Gerechtigkeit. Wird Zeit, dass sie die bekommen, denke ich.“ Wulfiga schnaufte. „Hoffentlich denkst du richtig.“ Das wusste sie selbst nicht, aber es war ihre beste Chance. „Bleib direkt hinter mir“, wies sie ihn an, er nickte knapp und setzte sich zusammen mit Drimba in Bewegung auf das nächste Grüppchen mit vier Tigroniden und einer Tigronidin zu. Vor ihnen blieb sie stehen und breitete die Arme. „Ihr wollt was von mir? Dann los.“ Wulfiga blieb stoisch, während er beobachtete, wie die Tigroiden sich Drimba fauchend näherten, aber immer wieder zu ihm aufsahen. Er war größer als sie, dabei gehörten sie zu den größten humanoiden Spezies überhaupt. Als sie sicher waren, dass von ihm keine Gefahr ausging, zuckten ihre Schwänze und richteten sich auf. „Tut mir leid, Wulfiga. Das muss jetzt sein“, sagte sie. In dem Moment als er die Augenbrauen anhob und zu einer Frage ansetzte, traf ihn die erste Sprühwolke wie eine Wand. Die Tigroniden hatten sich umgewandt und verteilten ihre Duftstoffe auf ihnen. Katzenurin, so fein dosiert er war, roch nicht besser als Gorillakot. Nur, dass er jetzt voll von Ersterem war. Er knurrte und grollte verärgert, worauf die Tigroniden sofort wegsprangen, ihre Krallen zückten und zur Antwort wiederum grollten und fauchten. „Mein Freund hat recht, ihr habt uns genug markiert, das reicht“, sagte Drimba, die ihre Schnauze ebenso wie Wulfiga verzog. „Bringt uns zu Moor.“ Die Tigronidin in der Gruppe stellte sich vor sie und sah auf Drimba herab. „Bilde dir nichts ein, Kläffer. Oder Kläfferin? Bei dir weiß keiner, was du überhaupt bist“, sagte sie abschätzig, dabei war ihre Stimme fast genauso tief wie Wulfigas. Drimba beeindruckte ihre Größe nicht. „Ich war deinem alten Herrn gut genug, dass er mich befüllt hat. Kannst du dasselbe von dir behaupten?“, erwiderte sie. Wäre Wulfiga nicht da gewesen, hätte sie ein paar neue Narben geschenkt bekommen. Stattdessen zitterten die Fäuste der Katzenartigen und ihre Lefzen zuckten. „Wir machen dich fertig“, zischte sie und zeigte grinsend ihre Reißzähne. „Du wirst schon sehen. Ich werde dich um deinen Schwanz bringen, dafür, dass du mir die Kinder von meinem Vater verwehrt hast.“ Drimba lachte auf. „Schonmal dran gedacht, dass er mich gefickt hat, weil er dich nicht wollte?“ Die Tigroniden täuschte sie, aber Wulfiga roch Drimbas Anspannung. Trotzdem imponierte ihm, dass ihr auf alles, was ihr an den Kopf geworfen wurde, eine Erwiderung einfiel. Spätestens jetzt erwartete er, dass die Tigronidin angriff, aber nichts passierte. Sie trat zur Seite. „Hier lang. Ah, nein, du kennst ja den Weg.“ Drimba schritt misstrauisch an ihr vorbei, ein anderer Tigronid stellte ihr ein Bein und sie fiel auf die Knie, worauf die meisten gehässig lachten. Wulfiga trat herzu. „Lass es!“, bellte Drimba ihn an. „Du machst nur was, wenn ich es dir sage!“ Die Tigroniden starrten ihn an, dann Drimba, dann wieder ihn. Er machte einen Hamsterschritt zurück. Ihr Fell stellte sich auf. Sie spielte, als ob er ihr hörig war, und nur angriff, wenn sie den Befehl gab. Und dass sie ihn in einer demütigenden Situation wie dieser zurückpfiff, erweckte den Anschein, dass es ihr nicht wert war, den Mob zu vermöbeln. Drimba tat so, als sei Wulfiga so übermächtig, dass er es mit ihnen allen aufnahm. Das war geschickt und riskant zugleich. Er spielte mit, grummelte düster und sah die fünf Tigroniden nacheinander an, wobei sein Blick am längsten auf der Tigronidin ruhte. Sie wich vor ihm zurück, paffte empört und wandte sich ab, um vorzugehen. Dabei wehte der Wind durch ihr beigefarbenes Gewand, das locker von ihr herunter hing und nur durch zwei Schulterknöpfe sowie einem dünnen, dunkelbraunen Gürtel um die Taille gehalten wurde. Die Tigroniden hatten Lendenschürze und Lederharnische an. Ihre Kleidung war schlicht gehalten. Etwas anderes wäre ohnehin unpassend wegen ihrer auffallenden Fellmuster. Drimba stand auf, klopfte sich demonstrativ den Dreck von den Knien, sah kurz zu Wulfiga hinter sich und verfolgte die gehasste Tigronidin.

Das Viertel der Tigroniden war das genaue Gegenteil des Hominiden-Viertels, was die Ordnung anbelangte. Zwar waren die Häuser verziert und mit Liebe zum Detail gestaltet worden, aber keines hatte eine klare Form, oder war stringent zur Straße hin ausgerichtet. Manche der Gebäude hatten sogar Torbögen, durch die jene verliefen. Daneben waren sie hoch aufgetürmt, anstatt in die Breite gebaut, und vier bis fünf Stockwerke hoch. Bei einer Deckenhöhe von 4-5 Metern pro Stockwerk waren das 20 bis 25 Meter. Höher als viele Bäume, wobei hier meist tropische Pflanzen wuchsen, die, mit Lianen verwachsen, das Viertel zu einem organischen Gewusel transformierten. Wulfiga sah die abenteuerlichen Wände hinauf auf Behausungen, die aus Quadern, Kugeln, Pyramiden und Zylindern bestanden. Ihm wurde mulmig. Er hatte keine freie Sicht in den Himmel und über ihnen kletterten die Tigroniden kratzend auf den Bäumen umher. Es war selten, dass er sich instinktiv bedroht fühlte. Drimba war nicht wohler zumute, wenn auch aus anderen Gründen. Es war der kleinste Teil der Stadt, auf dem die meisten Einwohner lebten. Drimba wusste nicht, wie viele. Die Tigroniden hatten selbst keine Ahnung, aber man vermutete etwa vier- bis fünftausend von ihnen alleine hier. Im Rest der Stadt lebten nochmal eintausend. Sie waren die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe neben den Frok, was daran lag, dass ihr Fortpflanzungsverhalten dem der Hyena nicht unähnlich war. Jeder durfte mit jedem. Ein kleines Detail machte die Sache aber pikant. Selbst Drimba empfand das als abstoßend. Die Tigronidinnen strebten danach, Kinder mit den erfolgreichsten Tigroniden zu zeugen. Nicht selten waren das ihre eigenen Väter, weshalb es geschah, dass sie Kinder gebaren, die leibliches Kind und Enkel oder Enkelin zugleich sind. Solche Tigroniden nannte man Kel. Kaum erwähnenswert, dass dadurch oft körperlich oder geistig eingeschränkte Volltrottel herauskamen. Drimba und Wulfiga wurden zielgerichtet durch die engen und verschlungenen Gassen geführt. Dabei versuchten die Tigroniden auf plumpe Weise die beiden voneinander zu trennen, was aber nicht klappte. Selbst wenn er sie nicht sah, wusste Wulfiga, in welche Richtung Drimba gebracht wurde. Der Tigronidenduft, mit dem sie markiert worden waren, schaffte es nicht, Drimbas eigenen Geruch zu überdecken. Zwar schoben zwei der vier sie begleitenden Kerle ihn mehrmals in eine andere Richtung, doch dann fixierte er sie und knurrte unterschwellig, was nur sie hörten. Gleich darauf wichen sie zurück und ließen ihn durch. Bald gaben sie es auf. Er war sich im Klaren darüber, dass sie Drimba auseinandergenommen hätten, wäre sie ihm abhandengekommen. Statt sie zu trennen, führten sie sie überall herum, um sie zu verwirren. Er erkannte mehrere Ecken und kleine Plätze wieder, als sie zwei oder drei Mal aus verschiedenen Richtungen kamen. Drimba wusste darum. Als sie zuletzt hier war, hatte Moor sie genauso geführt. „Hör auf mit dem Schwachsinn“, fuhr sie die Tigronidin an, die abrupt stehen blieb und sich mit falscher fragender Miene zu ihr umwandte. „Ich weiß wo wir sind, und sogar mein Werwolf lässt sich nicht für dumm verkaufen“, sagte sie. Die Tigronidin sah kurz zu Wulfiga, er erwiderte gelassen ihren Blick. Man konnte die Verärgerung nahezu greifen, die sie empfand, als sie begriff, dass ihr Spielchen nicht zu dem Ergebnis führte, das sie geplant hatte. „Bring uns endlich zu Moor“, forderte Drimba energisch.

Kaum fünf Minuten später standen sie vor dem Mann, dem Drimba angeblich die Eier abgebissen hatte. Er empfing sie völlig anders, als Wulfiga erwartete. Er hatte sich auf einen rachsüchtigen alten Kerl eingestellt. Zwar war Moor im mittleren Alter, aber von Rachsucht keine Spur. „Drimba!“, rief er aufgeregt mit ausgebreiteten Armen, eilte zu ihr und umarmte sie fest. Sie erwiderte die Umarmung. Wulfiga machte sich bereit einzugreifen, falls nötig. Eine Umarmung war nicht zwingend etwas Gutes. „Hallo, Onkel“, nuschelte sie. Wulfigas rechtes Ohr zuckte. „Onkel?“, fragte er verwundert. Drimba löste sich aus und sah zu ihm. Sie lächelte. „Das hast du nicht erwartet, was?“ Er schüttelte den Kopf. Die Tigronidin und die anderen Tigroniden betrachteten sie missbilligend. „Ihr könnt gehen!“, sagte Moor scharf in ihre Richtung, sah dabei aber nur die Tigronidin an, deren Lefzen zuckten, sie die Arme verschränkte und zischte, damit die anderen ihr folgten. „Du siehst schrecklich aus! Was haben sie die angetan?“, fragte Moor, als er Drimba näher betrachtete. Sie schüttelte den Kopf. „Nichts, das war von jemand anderem“, sagte sie. Moor fasste ihre Schnauze ein. „Dir fehlt ein Zahn!“, rief er besorgt aus und nahm Wulfiga in den Blick. „War er das?“ - „Nein, war er nicht!“, quengelte sie und wand sich aus seinem Griff. „Was macht er dann hier?“ - „Er hat etwas verloren, ich helfe ihm, es zu suchen.“ - „Und was ist es genau? Seit wann suchst du Dinge für andere? Ah, nein! Wir haben uns so lange nicht gesehen. Ich löchere dich nicht mit Fragen, die du nicht beantworten willst. Es ist einfach wundervoll, dass du hier bist.“ Er legte einen Arm um ihre Schulter. „Und du, sei auch willkommen, Suchender! Wer immer du bist“, sagte er. „Ich heiße Wulfiga.“ Moor betrachtete ihn interessiert. „Ein stattlicher Name für einen stattlich gewachsen Lykanth.“ - „Er ist kein Lykanth, er kommt von außerhalb“, wandte Drimba ein, die sichtlich Moors Aufmerksamkeit genoss. „Spitzfindigkeiten von einer Hyena? Lykanth oder Werwolf, das ist doch dasselbe“, meinte er. Sie kicherte, sie hatte ihn vermisst. Leider stand der Anlass unter keinem guten Stern. Genau deswegen war sie froh, ihn wiederzusehen. Wulfiga wartete geduldig und sah sich um. Die Formlosigkeit draußen führte sich in den Innenräumen fort. Sie standen in einem Gemeinschaftsraum, der keine Kanten hatte, weder an Wänden noch Möbeln, während ein benachbartes Zimmer - ein Schlafzimmer? - klare Formen und Strukturen hatte. Das machte Moors Heim zu einem individuellen Sammelsurium. Drimba sah ihm die Verwirrung an. „Moor ist mein Onkel väterlicherseits“, erklärte sie und gewann wieder seine Aufmerksamkeit. „Wir sind nicht direkt miteinander verwandt. Mein Vater war ein Canide und ein Mischling, zu einem kleinen Teil Tigronid.“ - „Drimba ist meine Nichte fünften Grades.“, warf er ein. „Wir lernten uns auf dem Markt kennen, als sie meine Tasche leerräumte.“ - „Ja, das kenne ich“, kommentierte Wulfiga lakonisch. „Es hat schon seltsamere Zufälle gegeben...“, sagte Moor nachdenklich. „Ich bin ihr hinterher und erwischte sie. Sie versuchte nicht zu fliehen, ich fand sie interessant. Da haben wir -...“, er unterbrach sich, als er merkte, was er einem völlig Fremden erzählte. „Wir schliefen miteinander“, beendete Drimba den Satz. „Ist das der Grund, weshalb dich die Tigroniden hassen?“, fragte Wulfiga. Sie nickte. „Ich habe einen ihrer Väter beschmutzt. Und dass ich eine Frau und ein Mann zugleich bin, hat den Gesichtsverlust schlimmer gemacht.“ Moor lachte dumpf. „Die halten mich seitdem für nicht ganz knusper. Manchmal spiele ich wirklich so, als sei ich verrückt geworden und halte ihnen ihre Vorurteile vor.“ Er klatschte mit den Tatzen. „Genug davon, das ist Vergangenheit. Ich lade euch zum Essen ein. Kommt, kommt!“, sagte er gastfreundlich und ging voraus. Für Wulfiga war es die erste positive Begegnung, seit er Drimba getroffen hatte, obwohl er das Gefühl nicht abschütteln konnte, dass sie und Moor ihm etwas vorenthielten. Andererseits ging ihn nicht alles etwas an. Drimba war dankbar dafür, dass er nicht weiter nachfragte. Ihr war die komplizierte Beziehung zu Moor ungewohnt peinlich, da er sie zwar wie eine Nichte behandelte, aber trotzdem körperliche Zuneigung zu ihr empfand, was sich daran zeigte, dass sein Schwanz ab und zu zuckte, seit sie hier waren.

Moor war gesprächig. So war er schon früher gewesen, als Drimba ihn näher kennengelernt und herausgefunden hatte, wer er war. In der Zeit, in der Drimba und er das Essen zubereiten, erzählte er ununterbrochen, was er seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatte. „Ziina versucht, mich jede Nacht zu verführen. Mittlerweile will ich nicht mehr von ihr berührt werden. Sie ist zu fordernd. Deshalb war sie gerade eben so zornig, als ich dich sofort umarmte. Als meine Tochter liebe ich sie über alles, jedoch nicht als Bettgespielin. Als solche finde ich sie... uninteressant. Ansonsten habe ich mich daran gewöhnt, so zu leben, wie jetzt. Keiner nervt mich mehr. Im Gegenteil, sie meiden mich und zeigen mir unverhohlen ihre Ablehnung. Ihre wahren Gesichter, die ihnen gut stehen, finde ich. So hässlich sie auch sind.“ Zu Wulfiga im Esszimmer rief er: „Lass dich von meinen Leuten niemals beeindrucken. Bei uns ist fast alles nur Fassade. Schlimmer als bei den Hominiden.“ - „Habe ich bemerkt“, erwiderte Wulfiga knapp. Nicht nur bei Moors Familie hatte die Kenntnis um die Verwandtschaft zu Drimba keine Begeisterung ausgelöst. Gronok war genauso wenig angetan davon gewesen, wies es aber nicht von der Hand. Sie kannte am ehesten die merkwürdigen Verflechtungen der Hyena-Familien zu anderen Spezies. Moor und sie bereiteten den Tisch vor. Wulfiga hingegen zog sich zurück, was ihr auffiel. „Wir kommen hier nicht weiter. Sollten wir nicht weitersuchen?“, fragte er. Drimba schnaufte. „Wann hast du das letzte Mal was gegessen?“, entgegnete sie. „Was hat das damit zu tun?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und wiederholte die Frage. „Gestern“, antwortete er zögernd. „Kein Wunder, dass du schlechte Laune hast“, meinte sie. „Mit leerem Bauch kannst du kaum denken.“ Sie erwartete Widerworte, stattdessen setzte er sich vor den Tisch. Gedämpft sagte sie: „Nur weil wir nichts machen, heißt das nicht, dass wir nicht vorankommen. Moor wird uns mehr helfen, als du denkst.“ Wulfiga sah sie nicht überzeugt an, sie zuckte mit den Schultern und ging zurück in die Küche. Nicht lange danach tischten Moor und Drimba auf. Drei Fleischgerichte. Ein Hackfleisch-Salat, gebratene Lende und eine blutig gelassene Keule für jeden. Dazu gab es Brot, Zitronengras, das von Tigroniden verehrt wurde, Sauerrahm für die Lende, eine Fleischsoße und Wasser, vermischt mit Traubensaft zum Trinken. Wulfiga interessierte sich nur für die blutige Keule, was Drimba nicht überraschte. Werwölfe waren in ihren Essgewohnheiten deutlicher instinktgesteuert als andere Spezies. Verarbeitetes Fleisch aßen sie nur, wenn es sein musste. Vor dem Essen hatte Moor sich umgezogen. Statt eines Gewandes in gedecktem Pastell trug er eine Tunika, die in knalligen Farben die Augen quälte. Er nannte das Mode, Drimba dachte eher an Belästigung. Er bot Wulfiga und ihr an, sich ebenfalls um- und anzuziehen. Drimba lehnte ab, Kleider bedeuteten ihr nichts. „Mehr als deinem Begleiter. Der suchst nach einer Partnerin für glückliche Momente, nehme ich an“, behauptete Moor. Wulfiga sah an sich herab, schaute zu Drimba und stand dann auf, um sich doch etwas überzuziehen. „Such dir einen Schurz aus, den kannst du dann behalten“, rief Moor ihm hinterher. Es dauerte länger, als sie erwarteten. Entweder war nichts für ihn dabei, oder er achtete mehr auf sein Äußeres, als Drimba geglaubt hatte.

Während sie im Schneidersitz nebeneinander warteten, bemerkte sie Moors Tatze auf ihrem Oberschenkel, die sie nahm und zwischen ihre Beine schob. Solange Wulfiga nicht da war, erlaubte sie sich das kleine Spielchen. „Ich träume immer wieder von dir“, murrte Moor, lehnte sich herüber und knabberte sanft an ihrem Ohr. „Seit damals kann ich mit niemand anderem mehr.“ Ihre Klaue fand schnell den Weg unter die Tunika und zu seinem Unterleib. Sie massierten sich gegenseitig. Er schnüffelte an ihrem Nacken. „Er kommt gleich zurück, Moor“, gab sie zu bedenken. „Warum klammerst du dich dann um mein Messer?“, fragte er und sah sie lüstern an. „Ich kenne dich, Drimba. Wenn er uns erwischt, macht dich das an. So bist du, und das macht mich an. Jetzt sei still. Mal sehen, ob wir uns zufriedenstellen, bevor er zurück ist.“ Moor war nicht so plump, vor dem Essen mit ihr zu schlafen. Er achtete auf einen gewissen charakterlichen Stil. Sie bearbeiteten einander in aller Eile. Nicht, um herauszufinden, wer schneller war, sondern weil sie nicht wussten, wann Wulfiga zurückkam. Auch in solchen Momenten ergriff Drimba das Gefühl, gejagt zu sein - von der Zeit, die gegen sie spielte. Sie genoss, was Moor mit ihr anstellte, aber im Gegensatz zu ihm hatte sie sich unter Kontrolle. Ihre Toleranzgrenze war hoch, bevor sie ungehalten wurde. Moor hingegen mühte sich sichtlich, nicht laut zu dröhnen, er stöhnte leise angestrengt und hielt sich mit der freien Tatze am Tisch fest. Als er den Höhepunkt erreichte, verzog sich sein Gesicht zu einer gefletschten Fratze, die Lefzen angespannt, schob er mehrfach die Zunge hervor. Drimba spürte deutlich, wie sich sein Unterleib abwechselnd zusamnenzog und entspannte. Zum Schluss legte er den Kopf auf der Tischplatte ab und gurrte zufrieden. Obwohl er schon knapp fünfzig Sommer alt war, fand Drimba ihn begehrenswert. Während man bei ihren Leuten das zunehmende Alter wahrnahm - sie wurden fetter, die Haut schlaff, das Fell grauer - sah man Tigroniden ihr Alter durch das Streifenmuster nicht an, selbst wenn es nicht mehr glänzte, wie in jungen Jahren, oder sie an Gewicht zunahmen. Außerdem bevorzugte sie seine Erfahrenheit und dass er sie verstand, wie kein anderer.

Wulfiga kehrte zurück, in einen Schurz gekleidet, dessen Stoff in gebranntem Braun annähernd orange eingefärbt war. Dazu trug er einen dunklen Ledergürtel um die Taille gewickelt. So ungewohnt das Bild für Drimba war, so erstaunt war sie, wie anders er darin wirkte. Wulfiga sog die Luft ein. „Ihr seid erregt“, bemerkte er ohne Scham. Moor kicherte. „Ja, das sind wir“, sagte er und hob den Kopf. Er zog seine Tatze zurück, die er ableckte und sich damit das Gesicht wusch. Dann nahm er Drimbas Klaue und leckte sie ebenfalls ab. Wulfiga setzte sich ihnen gegenüber und beobachtete Moor, während er dabei von einer Keule abbiss, von der das Blut auf den Teller tropfte. Seine Augen waren wieder grün und sandgelb. Weil Moor nicht wusste, dass das nicht seine echte Augenfarbe war, fiel es ihm nicht auf. Drimba hingegen zog einen wichtigen Schluss aus der Situation. Moor leckte nicht nur ihre Klaue ab, sondern ließ sich dabei alle Zeit der Welt und präsentierte Wulfiga eindrücklich, wie er vorging. Es war seltsam für sie, sich das einzugestehen, aber dessen Augen änderten sich immer dann, wenn die Umstände mit ihr zu tun hatten. Sie war sich zwar nicht sicher, aber ahnte, dass sie der Auslöser für die Veränderung war. Sie vermutete, dass Wulfiga in solchen Momenten aufgeregt war, selbst wenn er das nicht zeigte. Nur warum? Was war an ihr, dass er so reagierte? Eifersucht oder Begehren waren es kaum, dazu kannten sie sich erst zu kurz. Das machte es spannungsreich. Mit jeder verstreichenden Stunde wurde er geheimnisvoller und undurchsichtiger. Von wegen ein unbedarfter, junger Werwolf.

„Willst du später zu uns stoßen?“, fragte Moor, als er mit dem Essen anfing und von dem Gehackten eine ordentliche Portion nahm. Wulfiga hob die Augenbrauen an, er verstand, was er andeutete. Drimba tat es zwar leid, aber sie unterband jede Erwartung und sagte: „Deswegen sind wir nicht hier, Onkel Moor.“ Er war dabei, sich einen Löffel mit Hack zuzuführen, hielt in der Bewegung inne und sah sie einen Moment an, bevor es ihm wieder einfiel. „Ah, stimmt! Ihr sucht etwas... Was war das noch gleich? Ich kann euch bestimmt dabei helfen, wenn ihr mir danach auch helft.“ Er sprach sie zwar beide an, meinte aber Drimba. Sie liebt das an ihm. Er war durch und durch pragmatisch. Eine Pfote wusch die andere. Es war offensichtlich, worauf das hinauslief. Sie zeigte auf Wulfiga. „Er hat sein Traumtagebuch irgendwo in der Stadt verloren. Und weil er keinen Plan hat, wo, stochern wir im Dunkeln herum.“ Wulfiga verdrehte die Augen wegen der Frage, die sofort folgte. „Ein Traumtagebuch?“, wunderte sich Moor. „Was soll das sein?“ Drimba schmückte die Erklärung übertrieben aus. Sie wusste, dass Moor sich mehr anstrengte, ihnen zu helfen, je mehr exotische Details er erfuhr. „Jemand schreibt auf, was er geträumt hat. Wulfiga sagt, dass Menschen das können. Dabei sehen sie oft in die Vergangenheit und sogar in die Zukunft, und wissen, was passieren wird oder wem man begegnet. Das Buch, das er sucht, ist für ihn geschrieben worden. Deshalb will er es zurückhaben“, erklärte sie und hoffte, das Wulfiga ihr nicht reinredete. Tat er nicht. Im Gegenteil sah er sie schweigend an, ohne dass sie seinen Blick zu deuten wusste. Er wirkte ... schockiert? So sehr hatte sie nicht übertrieben. „Interessant!“, sagte Moor begeistert. „Da überrascht es nicht, dass die Menschen so machtvoll sind, wenn sie diese Fähigkeit beherrschen.“ Er sah zu Wulfiga. „Na, gut. Um Drimbas Willen, und weil es wirklich wichtig scheint, werde ich dir helfen. Und vielleicht - nur vielleicht - werde ich auch ein bisschen darin lesen, wenn ich darf. Aber nur, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie ein solches Buch geschrieben ist. Reine Neugier.“ Wulfiga war nicht begeistert. Aber das war der Preis, den er zahlte, wollte er es zurückhaben. Drimba verschwieg, dass der deutlich anstieg, je weiter sie mit der Suche voranschritten. Sie wusste aus Erfahrung, dass Moor nur der Erste von mehreren war, der ihnen für eine Gegenleistung half. Wulfiga nickte kaum wahrnehmbar Zustimmung, worauf Moor ihn anlächelte, wodurch er ein bisschen wie eine Bestie aussah, da er einen leichten Unterbiss hatte. „Sehr gut! Ich bin gleich wieder da. Esst, ihr beiden“, sagte er und stand auf. Dabei war auf seiner Tunika deutlich ein dunkler, unförmiger und feuchter Fleck zu sehen. Ohne, dass ihn das interessierte, verschwand er nach draußen und stieg eine Treppe hinab. „Du denkst, er hilft uns?“, fragte Wulfiga, sobald er fort war. „Natürlich hilft er uns!“, schnauzte Drimba. „Sei nicht so misstrauisch allem und jedem gegenüber. Das nervt. Und mach dir keine Gedanken, wegen dem, was in dem Buch steht. Er wird damit kaum was anfangen können.“ - „Woher willst du das wissen? Du weißt selbst nicht, was drin steht“, widersprach er, wollte etwas sagen, hielt aber inne und schnüffelte in der Luft umher. „Was ist?“, fragte Drimba. „Wir werden belauscht“, sagte er leise. „Die Tigronidin ist hier irgendwo.“ Sie winkte ab. „Die ist immer in der Nähe ihres Papis. Du hast ja gehört, er will sie nicht stechen, weil er sie scheiße findet“, sagte sie, dann laut: „Ich übrigens auch! So hässlich ich bin, gibt’s nichts schlimmeres als einen hässlichen Charakter, nicht wahr?“ Über ihnen hörten sie ein Scharren, dann leises Zischeln, danach nichts mehr. „Sie ist weg“, meinte Wulfiga. „Nicht gut“, sagte Drimba und atmete stöhnend aus. „Sie hat wahrscheinlich die ganze Zeit zugehört und wird versuchen, uns zu behindern.“ - „Sie hat doch gar nichts mit meinem Buch zu tun?“ - „Tja, du wolltest ja unbedingt, dass ich das blöde Teil suche“, sagte Drimba und grinste ironisch. „Ich hab viele Feinde, und Ziina ist unter denen sowas wie eine Erzfeindin. Sie wird alles gegen mich verwenden, wenn sie kann.“ Wulfiga stand auf. „Sie wird scheitern“, sagte er selbstsicher. „Wo willst du hin?“, fragte Drimba. „Ziina nachgehen.“ - „Moment! Was willst du damit bezwecken?“ - „Ich will nur mit ihr reden, das ist alles.“ Drimba taxierte ihn misstrauisch. „Nur mit ihr reden? Nicht mehr? Ich hasse sie und sie hasst mich, aber den Tod wünsche ihr trotzdem nicht. Vor allem wegen Moor.“ Wulfiga schüttelte den Kopf. „Wofür hältst du mich? Ich sagte, ich rede mit ihr. Das ist alles.“ Ohne sich weiter mit ihr zu befassen, verschwand er durch dieselbe Tür wie Moor, nur dass er eine Treppe in das obere Stockwerk nahm. Das würde nicht gut ausgehen. Irgendjemand war in den nächsten Minuten einen Kopf kürzer. Ziina war gefährlich, weil rachsüchtig und blind. Was bewirkte Wulfiga schon damit, mit ihr zu sprechen?

Ein paar Minuten war sie alleine, bis Moor zurückkehrte. Seine Miene strahlte und wandelte dich dann in Überraschung. „Wo ist Wulfiga?“, fragte er. „Kurz nach draußen. Er muss mal“, log sie. Moor zuckte mit den Schultern. „Ich habe zwar ein Klosett, aber wenn er dem Viertel sein Gemächt präsentieren will, bitte“, meinte er, worauf sie schmunzelte. „Hast du was für mich?“, fragte sie und lenkte das Thema in eine andere Richtung. Moor nickte, setzte sich wieder neben sie, schwieg aber. „Und? Was hast du für einen Tipp?“, fragte sie. Er lächelte verwegen und sagte: „Hat deine Tante nicht noch den Smaragdstein, den du mir damals gestohlen hast?“ Dann nahm er den nächsten Löffel mit Hack zu sich. Drimba war überrumpelt, sie lachte laut aus. „Das alte Ding willst du wiederhaben?“, fragte sie. Er legte den Kopf leicht schief. „Er ist nichts wert, aber es hängen Erinnerungen dran.“ - „Wenn es sonst nichts ist, gehe ich ihn gleich holen“, sagte sie, doch er nahm ihre Pfote. „Nein, das brauchst du nicht. Dein Wort reicht mir. Aber etwas anderes verlange zusätzlich.“ - „Aha, ich wusste es!“ - „Du kennst mich zu gut, Kleines. Es ist nicht viel. Ich will nur, dass wir uns wieder öfter sehen. Nicht um miteinander zu schlafen. Einfach nur so als Onkel und Nichte“, sagte er. Das hatte Drimba genauso wenig erwartet. Er vermisste sie mehr, als sie gedacht hatte. Ihr wurde ein bisschen flatterig im Bauch. „Wenn das deine Bedingung ist, sicher, liebes Onkelchen“, antwortete sie und zwinkerte, was ihr einen schiefen Blick einbrachte. „Hör auf, mich so zu nennen. Da fühle ich mich direkt alt.“ - „Du bist alt, Onkelchen“, sagte sie und streckte ihm frech die Zunge entgegen. Er lachte nicht, aber lächelte warm. Warum war die Welt so ungerecht, dass sie so weit voneinander entfernt als Tigronid und Hyena geboren wurden? „Also“, hob Moor an. „Ich weiß nicht, wo das ungewöhnliche Buch ist.“ Drimba hob abwehrend die Klauen. „Das habe ich auch nicht erwartet“, wehrte sie ab. „Aber ich kenne jemanden, der es wissen könnte“, sagte er. „Kennst du noch den alten Schubdda?“ Sie nickte. Ein Valkenmann, ein humanoider Eber, der Zeit seines Lebens alles Mögliche gesammelt hat. Die Objekte seiner Begierde hatte er dabei nicht am Geld bewertet, das er für sie bekommen hätte. Sie mussten selten und ungewöhnlich sein. Es machte Sinn, dass Moor an ihn dachte. „Ist der nicht vor ein paar Jahren verreckt? Weswegen nochmal?“, fragte sie. Moor verdrehte die Augen. „Jeder hat seine Dämonen, nicht war? Er liebte es, jungen Lykanthinnen nachzustellen sowie ein paar andere schmuddelige Sachen, wie ihren Dreck zu essen. Er ist ermordet worden. Ziemlich brutal sogar. Man fand nur seinen Arm und einen Teil seines Schädels. Ob ihn die Väter der Mädchen auseinandergenommen haben, hat niemand rausgefunden. Die meisten sagen, es war der Hunger-Mörder.“ - „Ja, er war speziell. Aber wie hilft er uns?“ - „Er nicht, aber sein Sohn Ebbdu hat seine Sammelleidenschaft geerbt. Entweder hat er das Buch bereits oder hat davon gehört. Ich habe jemanden geschickt, der euch zwei ankündigt, und ein wenig übertreibt, was das Buch angeht. Ebbdu ist seinem Vater zwar ähnlich, aber er interessiert sich nicht für jeden Schwachsinn.“ - „Wenn du sagst, er ist ihm ähnlich, meinst du damit auch sein Warzengesicht?“, fragte sie und verzog die Augenbrauen. „Ganz besonders das. Er steht seinem alten Herrn in nichts nach. Typisch für Valken. Kennst du einen, kennst du ihre Nachkommen auf zehn Generationen“, sagte er. Drimba überlegte, wie sie Ebbdu überzeugte, ihnen zu helfen. Wenn er nach seinem Vater kam, wie Moor behauptete, dann war er raffgierig, wenn er merkte, wie wichtig ihnen die Sache war. „Danke“, sagte sie, lehnte sich vor und hauchte einen Kuss auf seine Wange, bevor sie den Kopf an dessen Schulter anlehnte. Er streichelte sie dort. „Oh, da bist du ja wieder! Du musst ein großes Geschäft verrichtet haben, wenn... was... was ist denn -“ - „Deine Tochter ist tot“, sagte die Stimme, die Drimba aufschrecken ließ. Wulfiga! Bei Lux und Nox, was hatte er gesagt? Sie sah ihn an, seine Schnauze war blutverschmiert. Moors Pupillen wurden zu kleinen Pünktchen. „Ziina?“, fragte er irritiert, als Wulfiga etwas hochhielt. Ihren Kopf. Entstellt, ein Auge hing aus ihrer Augenhöhle, ihre Zunge taumelte schlaff aus ihrem zertrümmerten Maul, der Unterkiefer schaukelte lose und nur mit ein paar Sehnen mit dem Rest ihres Kopfes verbunden. „Sie wollte mich angreifen, also habe ich ihr vorher den Kopf abgebissen“, erklärte er. Moor ließ den Löffel fallen und streckte zitternd die Tatze aus. „Ziina...? Was ist mit dir?“, fragte er und achtete weder auf Wulfiga noch auf Drimba. Sie sprang auf, stellte sich hinter Moor, umschlang mit beiden Armen fest dessen Kopf und Hals, stemmte sich vom Boden ab und brach ihm mit einem Ruck das Genick. Er zuckte, eine Welle, die seinen ganzen Körper durchfuhr, und erschlaffte. Danach legte sie ihn sanft zur Seite und streichelte über seine Schläfe. Moors Pupillen weiteten sich, verengten und blieben stehen. Der letzte Hauch von Leben war fort. „Das habe ich nicht erwartet“, sagte Wulfiga. Sie sah ihn finster an. „Ich dachte, die liebst ihn?“ - „Halt deine Schnauze, Wölfchen“, knurrte sie. „Wir müssen hier weg. Wasch dein Gesicht. So kannst du nicht nach draußen.“ Die ganze Wut und all den Zorn hob sie sich für später auf, wenn sie weit weg waren. Jetzt zu explodieren, erregte ungewollte Aufmerksamkeit. Sie zügelte ihr Temperament und verdrängte den Gedanken an den Onkel, der ihr ein Vater und Geliebter zugleich gewesen war, und der beides jetzt nie wieder sein würde. Nur eines wusste sie: Wulfiga bezahlte hierfür. Der Preis für sein dämliches Buch war innerhalb der letzten Minute um ein Vielfaches gestiegen.

 

„Wir sollten reden“, sagte er, nachdem sie das Tigroniden-Viertel verlassen und ans andere Ende der Stadt in die Nähe des Valken-Viertels geflohen waren. Es war ein dreckiger Stadtteil, dessen Straßen mit Schlamm bedeckt waren, der jeden Morgen befeuchtet wurde. In der sommerlichen Trockenzeit mehrmals am Tag. Gestresste Valken liebten es, sich im Dreck zu suhlen. Die Gebäude waren aus solidem Lehm erbaut und schmucklos. Ihre Bewohner interessierten sich nicht für nach außen getragenen Tand und Luxus, solange sie genug Ersparnisse hatten, um damit sorglos zu leben. Vielen anderen galten sie als leicht dümmlich, was täuschte. Sie achteten darauf, dass sie nach außen genau so wirkten, während sie in Wahrheit drei Schritte vorausdachten. Neben den Hominiden waren sie die reichste Bevölkerungsgruppe.

Drimba ging voran, ohne sich nach ihm umzudrehen oder stehenzubleiben. Wulfiga marschierte an ihr vorbei und versperrte ihr den Weg. „Lass uns das klären“, sagte er und hielt sie an der Schulter fest, die sie sofort wegschlug. „Ich will nichts klären. Wir suchen dein Kleines-Mädchen-Traumbuch, das war’s. Danach reden wir.“ Er ließ sie nicht vorbei und blieb stur stehen. Drimba wiederum strafte ihn mit Blicken. „Es gab keine andere Möglichkeit“, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab dir gerade gesagt, ich will nicht reden.“ - „Hör zu!“, forderte er unnachgiebig. Ein paar Leute drehten sich nach ihnen um. Sie verschränkte die Arme. „Ich habe mit Ziina gesprochen. Hätte ich sie gehen lassen, wäre sie zu euch gekommen und hätte dich umgebracht. Danach Moor.“ Drimba spuckte aus. „Für wie blöd hältst du mich?!“, schrie sie und verunsicherte Wulfiga sichtbar, der die Ohren anlegte. „Was meinst du?“, fragte er vorsichtig. Sie spuckte nochmal, aber nicht auf den Boden, sondern auf sein Fell. „Glaubst du, ich sehe nicht, was du bist?“, erwiderte sie. „Machst einen auf Jaulewolf, dann stilles Wölfchen, dann Bestie. Du bist irre! Völlig durchgeknallt. Du brauchtest keinen Grund, Ziina den Kopf abzubeißen. Ich habe es gesehen, es hat dir Spaß gemacht, ihren zerfetzten Schädel ihrem Vater zu präsentieren!“ Schon wieder änderte seine Augenfarbe in Grün und Gelb. „Und was ist mit dir? Was ist mit Moor?“, entgegnete er. „Na, was wohl?“, bellte sie. „Er wäre durchgedreht, deshalb musste ich ihn umbringen. Sie war seine Tochter! Du hast seine Augen genauso gesehen, wie ich. Aber du hast es genossen!“ Wulfiga nickte. „Ja, das stimmt. Es war nötig, dass ich das tat, und es hat mit deshalb Spaß bereitet, weil ich ein Werwolf bin. Blutrünstigkeit liegt in unserer Natur. Meine Instinkte geben mir vor, dabei Freude zu haben. So wie du Freude daran hast, gejagt zu werden“, erklärte er. „Aber das ist meine Seite. Deine Seite verstehe ich hingegen nicht. Du hast ihn geliebt und trotzdem ermordet. Warum?“, fragte er. Drimas Lefzen zuckten, sie fletschte die Zähne. „Hör bloß auf zu fragen. Du weißt nicht mal, was das ist. Und nach dem, was ich eben gesehen habe, bin ich mir nicht einmal sicher, ob du überhaupt in der Lage bist, zu verstehen, was Liebe ist, selbst wenn ich es erkläre.“ Wulfiga hob irritiert den Kopf, er wirkte schockiert. Sie stemmte die geballten Fäuste in ihre Hüfte. „Ach, was ist denn? Bringt es dich aus der Fassung, wenn ich das sage? Weinst du gleich?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe nur dasselbe einmal jemandem gesagt, den ich gern hatte - noch habe.“ Drimba bedeckte das Gesicht mit der rechten Klaue und schüttelte den Kopf. „Ich glaub’s nicht. Du bist echt sowas von -“ Sie würgte sich selbst ab, am liebsten würde sie schreien. Aber was half das schon? „Vergiss es einfach, wir müssen weiter, damit ich meinen Teil der Vereinbarung erfülle und dich loswerde.“ - „Moment.“ - „Was denn noch?“, schnauzte sie. „Ich will es verstehen. Ich meine es ernst. Warum das mit Moor?“, hakte er nach. Quälte er sie mit Absicht? Sie wollte verdrängen, was sie einer der wenigen Personen angetan hatte, die sie aufrichtig geliebt hat. Stattdessen zwang er sie, sich den Moment zu vergegenwärtigen. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie sich schnell wegwischte. „Moor hat Ziina als seine Tochter geliebt. Und als du ihm ihren Kopf gezeigt hast und ich gesehen habe, wie sich sein Verstand verabschiedete, war das die einzige Möglichkeit, ihm Leid zu ersparen“, erklärte sie gedrungen. „Außerdem habe ich ihn nicht so geliebt, wie du denkst, du hohler Hund!“ Sie versuchte, ihn mit Beleidigungen zu treffen, aber es juckte Wulfiga nicht. Er blieb ausdruckslos, so als sezierte er ihre Reaktionen. Sie schritt weiter und schubste ihn zur Seite, er ließ sie gewähren und folgte ihr in einem gewissen Abstand. Es war ohnehin schon schwer genug, Ebbdu ausfindig zu machen. Wenn ein Werwolf an ihrem Rockzipfel hing, redete er nicht mit ihr. Seitdem der Hunger-Mörder vor ein paar Jahren als erstes Opfer ein verwaistes Valken-Mädchen zerfetzt hatte, hatten sich ihre Artverwandten weitestgehend zurückgezogen und verdächtigten die Lykanther, sie ermordet zu haben. Sie sagte ihm, dass er am Rande des Viertels warten solle. „Das gefällt mir nicht“, widersprach er. „Das ist mir egal“, sagte Drimba sofort. „Ob du misstrauisch bist, Schiss hast, oder irgendwas anderes. Es ist mir egal. Du wartest hier. Unauffällig.“ Sie wandte sich ab und ging.

Zwar wurde sie nicht himmelhochjauchzend empfangen, aber von allen Spezies der Stadt waren die Valken den Hyena gegenüber am wenigsten feindselig. Beide verband eine lange Geschichte am Rand der Gesellschaft. Alles, was Drimba und ihre Leute stahlen, verdingten sie in der Regel an Valken-Händler, die das Diebesgut oft genug, vor allem aus Spaß an bösen Witzen, ihren ursprünglichen Besitzern für viel Geld zurück verkauften. Als sie aber nach Ebbdu fragte, half ihr die Verbindung beider Völker wenig. Die meisten schüttelten den Kopf. So arg stand es um den Ruf seiner Familie. „Gronok schickt mich. Sie hat etwas, dass ihn interessiert“, behauptete sie und spielte ihren letzten Trick aus, um herauszubekommen, wo er sich aufhielt. Ihre Tante hatte sich vor Jahren einen Namen hier gemacht, sie war ein gern gesehener Gast, wenn sie sie überhaupt erkannten. Denn wenn Valken einen nennenswerten Makel hatten, der nicht ihr Äußeres betraf, dann war es ihr beschissenes Gedächtnis, Gesichter zu erkennen. Für sie sahen die Angehörigen aller Spezies gleich aus. Selbst untereinander erkannten sie sich nicht. Nur der Geruch verriet ihnen, wer man war. Weil ihr Geruchssinn aber nicht unbedingt ausgeprägt war, funktionierte das nur, bis man sich wusch. Danach hatten sie keine Ahnung mehr, wer vor ihnen stand. Dementsprechend berührte fast niemals Wasser ihre Haut und sie stanken zum Himmel und bis in die Erde hinein, sodass selbst Gras einging.

Kaum dass der Name ihrer Tante fiel, erfuhr sie, wo Ebbdu war. Er lebte zwar im Haus seines Vaters, aber der Kram, den beide gesammelt hatten, lagerte in einem stickigen Verschlag etwas abseits in einem Hinterhof. Dort wühlte er in einem Haufen wertloser Sachen herum, für die sich dennoch manches Mal Käufer fanden. „Und du bist?“, fragte er unfreundlich, als er sie bemerkte. Drimba war überrascht, wie ähnlich er Schubbda war. Sie schätzte ihn auf ihr Alter, Mitte zwanzig. Er trug für einen Valken ausgefallenere Kleidung mit Spitzenmustern als Obergewand, von der sie glaubte, dass das Stück einmal zu einem Kleid für Frauen gehört hatte. Daneben eine echte Hose aus fester Wolle, die selten Waren, und mit einem unnötigen Gürtel um den zu weiten Bauch gehalten wurde. Sein Gesicht war warzig, so wie sie erwartet hatte. Ebbdus Stimme klang hohl, aber dass war bei allen Valken so. „Moor hat mich angekündigt“, sagte Drimba kalt. „Der verrückt gewordene Tiger. Ja, den kenne ich“, sagte Ebbdu. Sie fühlte sich veralbert. „Er ist tot. Heute gestorben. Lass also deine Spiele mit mir, wenn dir deine Sachen lieb sind. Das meiste davon geht schnell in Flammen auf.“ Er richtete sich auf und funkelte sie an. Er war einen Kopf größer als sie und hatte - obwohl hässlich wie der Hintern ihres Vetters - eindruckmachende Hauer. Wenn er sie damit erwischte, war es aus. Sie blieb bereit, ihm auszuweichen, wenn er etwas versuchte. Aber die Situation entspannte sich schnell. „Tut mir leid, das zu hören“, sagte er. Ein leicht dissonanter Unterton in seiner Stimme bewies, dass er es ehrlich meinte. „Er war ein guter Kunde. Sowohl für Kauf und Verkauf. Schade um ihn.“ Sie seufzte. „Ja, finde ich auch. Aber ich bin wegen was anderem hier.“ Ebbdu nickte, lehnte sich wieder nach vorne, an einem anderen Stapel mit - sie hatte keine Ahnung, was es darstellen sollte - griff hinein und zog einen Sandelholzstab heraus. Daraufhin krachte das Gebilde in sich zusammen. „Ach, verdammt nochmal!“, fluchte er, zerbrach Stab und warf die beiden Enden schwungvoll davon. Sie landeten in dem Verschlag. „Ja, ich weiß. Du suchst das Buch, dass die Zukunft vorherbestimmt“, sagte er, sah sie aber nicht an und kramte weiter sinnlos in seinen Sachen. Drimba stutzte. „Was weißt du darüber?“ - „Nur das, was der Tigronid gesagt hat, den Moor schickte. Ein Tagebuch, in das Menschen ihre Träume hineinschreiben, die Zukunft sehen und sie vorherbestimmen. Es ist in Gold und Silber geschlagen, mit einem Rubin auf dem Buchdeckel, aber unscheinbar, weil es in Leder eingebunden ist“, erklärte Ebbdu. Drimba hatte alles erwartet, aber dass Moor dermaßen übertrieben hatte, setzte der Geschichte die Krone auf. „Ja, kommt in etwa hin, denke ich“, stimmte sie zu. „Ich weiß eigentlich nicht, wie es aussieht. Es war verschwunden, als der, der es sucht, an mich herantrat.“ Ebbdu unterbrach seine Tätigkeit und observierte sie skeptisch. „Eine Hyena, die für jemanden etwas sucht? Was bietet dir die Person dafür?“, fragte er. „Ist das wichtig?“, fragte sie. „Sieh es als Teil des Handels. So ein wertvolles und einzigartiges Buch reizt mich. Aber es gehört einem Menschen, also ist es gefährlich, es zu besitzen. Ich will es deshalb nicht haben. Nicht mal anfassen. Und wegen der guten Beziehungen zu Moor und deinen Leuten gebe ich mich mit einem symbolischen Preis zufrieden.“ Das war unerwartet. Offenbar war er seinem Vater nicht so ähnlich, wie sie dachte. „Wir sind einen Pakt eingegangen. Ich suche sein Buch, danach erledigt er etwas für mich“, sagte sie. „Und was?“ Sie schwieg ein paar Momente. Informationen dieser Art, waren bei den falschen Leuten riskant. Wenn er es weitererzählte, geriet sie in Schwierigkeiten. „Der Mensch, der in der Stadt ist, sucht nach einem Em’Ra’ul“, sagte sie. Ebbdu nickte. „Ja, davon habe ich gehört.“ Es dauerte einen Moment, bis er begriff. „Oh?“, rief er aus. „Du hast eine Aufforderung erhalten?“ Drimba nickte. „Du willst ihr nicht nachkommen?“, fragte er. Sie nickte erneut. Seine Sensationsgeilheit war entnervend. „Verstehe...“, sagte er. „Ja, da kommst du nicht ohne weiteres raus. Das erklärt deinen Pakt. Sehr interessant.“ - „Und? Wo ist das Buch jetzt?“ - „Halt. Ich habe nie gesagt, dass ich weiß, wo es ist. Aber ich kenne den Ort, wo es sein wird. Dort landen alle Bücher der Stadt irgendwann.“ Sie hatte es geahnt. Was soll’s. „Und wo?“, fragte sie. „Nein, noch nicht. Das ist mir zu wenig für eine wichtige Auskunft“, wehrte er ab. Drimbas Lefzen zuckten. Zu gerne wäre sie ihm an den Hals gesprungen, hätte ihn gewürgt und zu Brei geschlagen. „Was willst du außerdem?“ Ebbdu kratzte sich an der Hüfte. Die Art, wie er sie betrachtete, gefiel ihr nicht. „Ich will dich nackt sehen“, antwortete er, worauf Drimba die Augenbrauen verzog. „Was?“ - „Du bist eine Frau und ein Mann gleichzeitig, oder? Zumindest habe ich das gehört.“ Drimba nickte verwirrt. „Bei den Frok ist es nichts ungewöhnliches, wenn ein Kind mit beiden Geschlechtern geboren wird. Sobald sie erwachsen werden, entscheiden sie sich, ob sie ein Mann oder eine Frau sein wollen. Aber bei anderen Spezies ist das ungewöhnlicher, wenn auch nicht so selten, wie viele glauben“, brabbelte er aufgeregt. „Ich finde das interessant, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie du ... unten herum aussiehst. Sehen deine Geschlechtsteile eher vaginal oder phallisch aus? Kannst du dich mit beiden befriedigen? Seit ich davon weiß, will ich das wissen.“ Sie stand da, wie hirnlos, und nahm in Gedanken alles zurück, was sie eben über ihn gedacht hatte. Er war genauso ein Lustmolch wie sein Vater, wenn auch auf andere Art. Vorsichtig fragte sie: „Willst du nur schauen?“ - „Nein, ich will alles berühren!“, widersprach einen Tick zu heftig, ein besessener Glanz lag auf seinen Augen. Er zügelte sich selbst, als er Notiz von Drimbas zweifelndem Blick nahm. Er schnaufte. „Tja, ich bin anders. Das denkst du doch gerade, nicht wahr? Aber das ist mir egal. Wenn mich etwas interessiert, will ich alles darüber erfahren. Abgesehen davon bist du mir ähnlich. Du bist auch anders. Körperlich. Ich, geistig.“ Drimba machte ein paar Schritte nach draußen und sah in den Himmel. Die Sonne war nicht mehr auf ihrem Zenit. Aber es dauerte, bis sie unterging. Sie schätzte sie Zeit auf die dritte Stunde nach Mittag. Erst heute morgen hatte sie Wulfiga bestohlen und alle nachfolgenden Erlebnisse ins Rollen gebracht. So viele auf einmal hatte sie selten an einem einzigen Tag. Was erwartete sie bis zum Abend oder in die Nacht hinein? Nicht zu fassen, was sie alles aufnahm. Sie betrat erneut den Verschlag, in dem Ebbdu sich nicht von der Stelle gerührt hatte und sagte karg: „Ziehen wir’s durch.“

Ebbdu führte Drimba umgehend in sein Heim, von außen schmutzig und von innen nicht aufgeräumt zu nennen. Für Valken hingegen war die Einrichtung ansprechend. Der Boden war genauso von feuchter Erde bedeckt, in der sie sich wälzten, wie die Straßen draußen. Was auffiel, war, dass es kein Bett gab. Sie schliefen auf dem Boden, nachdem sie eine Stelle ihrer Wahl mit Wasser aufgelockert hatten. Vorzugsweise ohne Kleidung, oft genug aber mit.

Bei jedem Schritt knatschten ihre Hinterläufe wegen des Schlamms. Einmal rutschte Drimba fast aus und hielt sich am vor ihr schreitenden Ebbdu fest, der ihr wieder aufhalf. „Deine Klaue ist zarter, als ich dachte. Du wirst sicher täglich angeschmachtet“, sagte er, worauf sie sarkastisch auflachte, aber nichts erwiderte. Er führte sie in sein „Schlafzimmer“, das nicht anders aussah, als der Rest des Hauses, außer, dass er hier einige persönliche Dinge aufbewahrte. Seltsam verdrehte Figuren aus den Hauern seiner Familie - es war Tradition, dass sie sie den Verstorbenen abnahmen und solche daraus fertigten - mehrere Bücher, die wertvollsten, die er besaß, eine Truhe mit Kleidung und ein Tisch, der direkt am Fenster stand. Darauf Blutflecken. „Du bist nicht die Einzige, die ich untersuche. Normalerweise schneide ich Kleintiere auf, um zu lernen, was sich in ihren Körpern verbirgt“, erklärte er. „Du würdest dich wundern, wie viele Organe manche besitzen. Mehr als in so kleine Körper passen sollte.“ Ihr wurde mulmig zumute. „Aber dich schneide ich natürlich nicht auf. Wir haben einen Handel, und ich bin ein ehrbarer Händler, auch wenn viele meiner Leute das anders sehen.“ Er bat Drimba, sich zu entkleiden und auf den Tisch zu klettern. „Wenn dir das unangenehm ist, gehe ich raus“, bot er an. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Bringt doch nix. Du siehst sowieso gleich alles“, entgegnete sie. Er zuckte mit den Schultern und blieb. Sie löste ihren Schurz, der zu Boden flatterte. „Oh! Erstaunlich“, rief Ebbdu sofort. Sie stieg auf den Tisch. „Bitte dreh dich zum Fenster hin“, sagte er. „Damit jeder meine Fotze sieht?“, spuckte sie gereizt. „Nein, dich sieht keiner. Die Häuser da drüben sind baufällig und verlassen. Da ist niemand“ Sie knurrte, drehte und legte sich entsprechend seiner Anweisung auf den Rücken. „Winkel die Beine an“, forderte er sie auf. Sie winkelte sie an. „Spreiz sie, so weit du kannst.“ Das fiel ihr schwerer. Sie erwischte sich bei dem Gedanken, wie leicht es gewesen wäre, wenn Ebbdu den Moment nutzte und mit ihr schlief. So hingegen spürte sie brachiale Kälte, die aber nicht weniger - hm - prickelte. Es war ein Experiment, das er mit ihr vollzog, obwohl er nur beobachtete. Sie spreizte die Beine. „Ja, gut so. Noch ein bisschen weiter“, sagte er. Drimba nahm ihre Klauen zu Hilfe, umschlang ihre Oberschenkel und zog sie weit auseinander. „Perfekt! So bleiben“, rief Ebbdu euphorisch. Sie hob den Kopf und bemerkte die Aufregung in seiner Miene. Keine Erregung, nur Aufregung. Er wusch sich die Hände mit Wasser ab, doch bevor er zugriff, wandte Drimba den Blick wieder ab. Das wollte sie nicht sehen. Sie erwartete jeden Moment die ekelhafte Berührung und schauderte innerlich. Wider Erwarten waren Ebbdus Hände warm. Zwar zuckte sie dennoch kurz auf, als er ihren Penis untersuchte, anhob, nach links und rechts schob, um Details zu erkennen, aber sie entspannte schnell wieder, weil keine der Bewegungen unbehaglich war. Nur ungewohnt. Er war vorsichtig, fast sanft. Währenddessen sprach er mit sich selbst und vergegenwärtige sich dadurch, was er sah: „Der Phallus ragt aus dem oberen Bereich der Vagina heraus... nicht so groß wie ein üblicher Hyena-Penis, aber auch nicht klein... der Hodensack liegt zwischen den Schamlippen...“ Drimba spürte ein leichtes Ziehen. „...Übergang direkt in die Vagina... keine Verdrängung irgendwelcher Geschlechtsorgane.“ Er pausierte einen Moment, nahm ein Fläschen und rieb mit dessen Inhalt seine linke Hand ein. Drimbas Unterleib zog sich zusammen, sie zischte. „Was-“, sie stöhnte. „Was machst du Perverser da?!“, schrie sie, hob den Kopf wieder an und sah erstarrt, wie Ebbdus Hand in ihrer Scham verschwand. „Wenn du äußerlich alle männlichen Geschlechtsorgane hast, frage ich mich, ob du auch alle weiblichen hast“, sagte er und drückte weiter. Sie ließ ihre Oberschenkel los und schlug ihre Krallen in den Tisch. „Ah-ragh!“ Es war nicht schmerzhaft, aber der Druck war kaum zu ertragen. „Nur noch ein bisschen“, sagte er. Wenn er sie damit zu beruhigen versuchte, klappte das überhaupt nicht. Sie stellte sich vor, wir ihrer Scheide scharfkantige Zähne wuchsen, die Ebbdus Arm durchbissen, darauf herumkauten und ihn ausspuckten. Sie war mit Sicherheit nicht die Einzige, der er das angetan hatte. Abrupt ließ der Druck nach, Drimba atmete stoßweise, die Anspannung verschwand und sie zerfloss gefühlt auf dem Tisch. „Du bist ein einzigartiges Wesen“, bewertete Ebbdu und lächelte zufrieden. „Du hast eine Gebärmutter und Eierstockkanäle. Wenn du wolltest, könntest du dich selbst befruchten und Kinder gebären.“ Sie war zu erschöpft, um etwas Patziges zu erwidern. „Ich danke dir für den Einblick und die Erkenntnis daraus“, sagte er und wusch sich die Hände in einer hohen Schüssel mit Wasser ab, das er anschließend auf den Boden kippte. „Ruh dich einen Moment aus. Ich bin direkt im Nebenraum und schreibe alles schnell auf, bevor die Erinnerung verblasst.“ - „Mhm“, machte Drimba und nickte. Ja, ein paar Minuten waren nicht schlecht, nach der ganzen Scheiße heute. Aus dem Nebenraum hörte sie das Kratzen einer Feder auf Papier, gelegentlich grunzte Ebbdu auf. Seltsam. Grunzen war untypisch für Valken, obwohl es erstmal nahe lag, ihrem Aussehen nach zu urteilen. „Jetzt bist du dran“, sagte sie nach etwa zehn Minuten. Sie wurde unruhig, vor allem, als ihr Wulfiga wieder einfiel. „Wo ist der Ort, an dem das Buch ist? Und komm mir jetzt bloß nicht mit der Stadtbibliothek. Die lassen mich niemals freiwillig rein.“ Zuerst kam keine Reaktion und Drimba fragte sich, ob er gegangen war, ohne dass die es gemerkt hatte. Dann hörte sie wieder das Kratzen auf Papier. Sie erhob sich, was ihr ein paar Schwierigkeiten bereitete, und untersuchte sich untenrum. Ebbdu war behutsam gewesen, sie sah keine blutenden oder wunden Stellen, obwohl er seinen Arm in ihr hatte. „Es gibt eine zweite, nun, nennen wir sie auch Bibliothek“, rief er aus dem Schreibzimmer zu ihr herüber. „In der werden angeblich alle Bücher aufbewahrt, die jemals geschrieben wurden, was Quatsch ist. Aber Tagebücher sind auch darunter. Oft Schriften, die verboten sind.“ - „Aha...“ Das interessierte sie alles nicht. Wo war der zweite Bücherfriedhof? „Geh zu den Frok und sag ihnen, Ebbdu braucht mehr Schlamm“, sagte er. Das war ein Schlüsselsatz. Es war leichtfertig, so was zu wählen, auf das jeder kommen konnte.

 

Als Drimba das Viertel verließ, glaubte sie, falsch abgebogen zu sein. Wulfiga war nicht an der Kreuzung. Kein Wunder, sie war durcheinander. Ihr Leben war von einigen Ereignissen gewürzt worden. Aber heute hatte das Schicksal bei ihr vergessen, den Salzstreuer zu verschließen, und ihre Suppe versalzt. Sie schlenderte langsam zur nächsten Kreuzung und stellte fest, dass sie doch an der richtigen rausgekommen war. Kein Wulfiga in Sicht. Sie ging zurück, wobei sie leicht watschelte, da ihr Unterleib verkrampfte. Nein, er war nicht da. Sie sah sich um und hoffte, ihn zu entdecken, wie er gelangweilt scharwenzelte - oder jemandem den Kopf abbiss. Aber, nichts. Nirgendwo. Sie fluchte murmelnd und stampfte mit dem rechten Hinterlauf erst auf dem Boden auf und trat dann nach einem unsauber errichteten Zaun neben sich, der aber stabil und unbeeindruckt blieb. Wo war der Idiot hin? Sie hatte ihm gesagt, er solle warten! Trottel! Depp! Sie waren wieder einen Schritt weiter bei der Suche nach seinem beschissenen Traumtagebuch, und er verpisste sich! Ein paar Valken in der Nähe sahen zu ihr herüber, sagten aber nichts. „Was ist?“, rief sie ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Wollt ihr ficken? Meine Fotze ist gedehnt, kommt her!“ Sie entfernten sich eilig kopfschüttelnd. Obwohl Hyena und Valken eine ähnliche Stellung in der Stadtgesellschaft hatten, hielten sich Letztere trotzdem für etwas Besseres. Heuchlerisches Pack. Nachdem Drimba sich beruhigt hatte, massierte sie ihre Schläfen. Sie überlegte, nach Hause zu gehen und Wulfiga in der Stadt herumirren zu lassen. Aber ihr eigener Stolz und die Tatsache, dass sie schon so viel aufgenommen hatte, um an die blöde Papiersammlung zu kommen, hinderten sie daran. Sie hielt sich nicht damit auf, nach ihm zu suchen, sondern entschied sich, alleine zu den Frok zu gehen. Das war besser so, wenn sie es recht bedachte.

 

Drimba war nicht erpicht darauf, zu den Frok zu gehen. Sie waren die eigentümlichsten Bewohner der Stadt. Klein und untersetzt, watschelten oder hüpften sie, wenn sie sich fortbewegten. Ihre Haut zeigte alle erdenklichen Farben der Natur. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, sie hatten einen breiten Mund, ihre Pupillen waagerecht, wodurch sie unberechenbar wirkten. Wie viele die Stadt bewohnten, wusste niemand, aber es waren einige. Man traf sie in allen Vierteln an. Streng genommen hatte sie keine Ahnung von ihnen. Ein einzelner Frok imitierte das Verhalten und die Sprechweise seines Gegenübers nach einer Weile für einen besseren Austausch. Das führte dazu, dass niemand echte Kenntnis hatte, wie sie sich untereinander verhielten. Als Kind hatte Drimba ihre Tante einmal in deren Viertel begleitet. Dort waren sie in eine schattige Gasse gegangen - es gab keine Straßen - wo sie zufällig beobachtet hatten, wie ein Frokmann einen anderen, seinen Sohn, nach einem quakenden Streit in einem Stück aufgefressen hatte. Gronok hatte ihr hinterher erklärt, dass alle Frok immer aufpassen mussten, nicht von den Jüngeren verdrängt zu werden. Dementsprechend starb kaum einer eines natürlichen Todes. Entweder ein Älterer oder eine Ältere fraß die eigenen Kinder auf, oder sie wurden irgendwann von ihnen gefressen. Das war normal und galt nicht als Mord. Manchmal versuchten junge, erst ausgewachsene Frok die Kinder anderer Völker zu verschlingen. Früher kam das oft vor und brachte Streit mit sich. Heute ist es ein Teil des Stadtlebens geworden. Wenn Kinder kleinerer Spezies, wie Caniden oder Pardiden, verschwanden, waren sie meistens von einem Frok gegessen worden. Deshalb war es ihnen und allen anderen bis zum Erwachsenenalter verboten, nur in die Nähe des Frok-Viertels zu gehen.

Aber das waren nicht die Gründe, weshalb sie nicht dorthin wollte. Sie hatte mit fünfzehn Sommern einmal einen von ihnen wegen einer Mutprobe geküsst. Wissen die Götter, was sie da geritten hatte! Seitdem liebte der Kerl sie. Sein Name war Quatl. Kein Verliebtsein, nein, aufrichtige Liebe. Obwohl sie glaubte, dass er eher eine Vorstellung von ihr liebte, wie er sich Drimba wünschte. Bei jedem Besuch danach war sie von ihm verfolgt worden, sobald er erfuhr, dass sie da war. Sie musste es hinbekommen, dass er sie nicht sah. Oder sie war fort, bevor ihm jemand zutrug, dass sie ihm Viertel unterwegs war. Jenes war trockener, als man denken könnte. Die Häuser ähnelten hochgebauten Strohbehausungen. Sie hatten meistens nur einen Raum, in dem das ganze Familienleben stattfand. Und als wollte der Gott des Schicksal ihr ein weiteres Mal ins Gesicht scheißen, war der erste Frok, dem sie über den Weg lief ... Quatl. Sobald der ihre Silhouette erkannte, hüpfte er zu ihr her. „Drimba, Drimba!“, quakte er aufgeregt. „Liebe, hübsche, wertvolle Drimba! Du bist zurückgekommen!“ Sie überlegte einen Moment zu lange, in eine andere Richtung davonzurennen, als Quatl zu einem Hechtsprung ansetzte und im nächsten Moment an ihr klebte, um sie mit Küssen zu überhäufen. „Lass das!“, bellte sie und stieß ihn von sich weg. Er landete unsanft auf dem Boden, was ihn aber überhaupt nicht interessierte, er sich sofort aufrappelte und sich um ihre Beine klammerte. Er war drei Köpfe kleiner als sie. Keine stattliche Größe. „Endlich bist du wieder da. Ich habe jeden Tag an dich gedacht“, sagte er. „Ja, schön“, erwiderte sie. „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass du dich verpissen sollst.“ - „Ich weiß, ich weiß. Aber in Wahrheit willst du mich, sonst hättest du mich niemals geküsst“, entgegnete er. Es war egal, wie oft sie ihm sagte, warum sie ihn damals geküsst hatte, er legte sich die Wahrheit so zurecht, wie er sie brauchte. „Lass mich los“, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich lasse dich nie mehr los. Du gehörst jetzt mir, für immer!“, widersprach er liebestrunken. Ihr linkes Augenlid zuckte. „Lass mich los, du hässliche Kröte“, murmelte sie. Er ließ nicht los. „Nein, ich werde -qua-araghqua!“, quakte Quatl panisch und er wurde weggezerrt. Sie drehte sich um und sah nur einen großen Berg schwarzgrauen Fell. „Araquampfh!“, schrie er, bis sein Gequake dumpf erstarb und von grollendem Knurren abgelöst wurde. Drimba schritt ein paar Meter zurück, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Würgende Geräusche. Das Ding hatte einen Kopf, den es in die Höhe emporstreckte. In einer hungrigen Schnauze sah sie Quatls Beine verschwinden und wie die Kreatur angestrengt schluckte. Wenige Momente später war alles vorbei. Zuerst glaubte Drimba, es sei einer ihrer Leute, dann dachte sie an den verfressenen Māltung aus der Leonidenfamilie Slung, dem sie heute schonmal begegnet war. Aber die lange Schnauze passte nicht, die Fellfarbe auch nicht. Es war Wulfiga, der sich abrupt und mit gehetztem Blick nach ihr umsah. Sie erwartete, ... ja, seine Augen waren grün und gelb. Aber er war riesig. War er schon vorher so gewesen? Bisher war er gebeugt mit ihr umhergegangen, das hatte sie nur nicht wahrgenommen. Aber jetzt stand er vor ihr, gerader Rücken, der Kopf nur insofern nicht aufrecht, weil er sie ansah. Vier oder mehr Meter Werwolf. Er neigte seinen Kopf einmal knackend und schluckte geräuschvoll. Sein Bauch wölbte sich leicht. Drimba sah hinunter auf den Boden mit offenem Maul. Er hatte Quatl nicht zerbissen, Wulfiga hatte ihn geschluckt, als wäre er ein Frok, der einen anderen verschlingt. Wulfiga beugte sich nach vorne, die Körpergröße verringerte, seine Masse schrumpfte. Die Augen änderten in das friedliche Blau. Von wegen friedlich. Drimba schüttelte entsetzt den Kopf. Quatl war ihr nichts wert gewesen, hatte sie nur genervt und war lästig. Aber den Tod hatte sie ihm deshalb nicht gewünscht, so oft sie ihm den auch angedroht hatte. „Geht es dir gut? Hat er dich verletzt?“, fragte er tiefdunkel. Sie wollte weder wissen, warum er das tat noch wo er herumgeschlichen war. Langsam hatte sie genug von ihm. Aber ihren Pakt erfüllte sie, abhauen war nicht drin. Sie glaubte an die Macht des Blutes. „Ist egal“, sagte sie, drehte sich weg und betrat das Frok-Viertel. Wulfiga direkt in ihrem Rücken.

Er folgte ihr schweigend. Freilich sind sie beobachtet worden. Vor allem nach Quatls quakenden Geschrei. Zwar wunderten sich die Anwesenden darüber, dass ein Werwolf einen Frok auffraß, aber die meisten zuckten mit den Achseln, oder beachteten sie nicht weiter und gingen ihrer Wege. Nur zwei junge Frokkinder waren danach verschreckt und flohen vor ihnen, als sie den beiden entgegengingen. Drimba näherte sich einer Frokfrau, die gebührenden Abstand zu ihnen hielt. Ihre Hautfarbe war braungrau, glatt und glänzend feucht. Sie trug einen Sack, der eine Tunika sein wollte und kläglich dabei versagte. Es war nicht so, dass Frok keine Gewänder trugen. Aber ihre Ansicht von dem, was ordentlich und modisch war, war ungewohnt. Freundlich ausgedrückt. „Ebbdu schickt mich. Er braucht mehr Schlamm“, sagte sie und erwartete keine Antwort von ihr. Wer wusste schon, ob sie ihn überhaupt kannte? Sofort verschwand das zurückhaltende Misstrauen, die Frokfrau lächelte dezent geheimnisvoll, und zeigte wortlos in eine Richtung, der sie anschließend folgten. Ihr Weg führte sie tiefer ins Viertel, das kaum von Außenstehenden besucht wurde. Hier gab es nichts, was interessierte. Frok hatten kein Interesse an Geschäften oder anderen Wirtschaften. Während sie sich durch die engen Gassen zwängten, durch die Wulfiga sich mehr als einmal seitlich quetschte, fragte sich Drimba, ob sie der Grund war, dass er Leute umbrachte. Sie schüttelte den Gedanken ab. Es war ihr egal. Es musste ihr egal sein. Wenn sie jetzt anfing, darüber nachzudenken, wieso, weshalb und warum, war sie bald nicht mehr in der Lage, weiterzumachen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass er ihr im Gegenzug half. Obwohl sie mittlerweile davon ausging, dass Wulfiga Lammb zerfetzte, um sie aus der Ehe-Aufforderung rauszuhauen. Das wäre weniger in ihrem Sinne. Sie wäre die Erste, die man danach verdächtigte, einen Menschen umzubringen, um an seinen Reichtum zu gelangen.

Sie fragten sich durch. Es war, als ob die Frok einen Spaß mit ihnen trieben, da sie sie mehrmals hin und her, und manchmal dorthin zurückschickten, woher sie eben gekommen waren. „Das ist doch lächerlich“, sagte sie, als sie zum dritten Mal an einem Wohnhaus vorbeikamen. Sie war hineingegangen, weil sie dachte, dass sich darin die versteckte Bibliothek vorfand. Ein Irrtum. Einer, der Sinn machte. Sie wäre beschissen versteckt, wenn sie leicht zu finden wäre. Stattdessen hatte sie eine Familie mit zahlreichen Kindern gestört, deren Mitglieder sich erschraken und wild durcheinander quakten. Wieder draußen wandte sie sich zu Wulfiga um und sah ihn entnervt an. „Und? Hast du eine Idee? Irgendwo müssen die Papierberge ja sein“, fragte sie ihn, erwartete aber keine Antwort. Er gab ihr schlechterdings keine. „Es ist genug“, sagte er. „Was ist genug?“ - „Die Suche. Wir sollten uns ausruhen. So kommen wir nicht weiter“, antwortete er. Drimba sah ihn an, als hätte jemand seinen Schädel geöffnet, reingespuckt und mit einem Suppenlöffel das Hirn verrührt. Aber anstatt sich zu beschweren und ihm Flüche an den Kopf zu schmeißen, nickte sie wortlos. „Komm mit“, sagte Wulfiga und ging voraus. Sie wunderte sich, dass er sie führte, nicht umgekehrt. 

Sie hatte geglaubt, er bringt sie aus der Stadt zurück zu Vlooriean, um dort zu übernachten. Sie hatte nichts dagegen, dortzubleiben, denn zu Hause wartete nur Ärger auf sie, wenn sie an ihre Tante dachte. Weit gefehlt. Etwa eine halbe Stunde später standen sie in einem Lykantherhaus, das genutzt wurde. Von den Bewohnern fehlte jede Spur. War er hier gewesen, während sie sich von Ebbdu untenrum hatte weiten lassen? Lykanther wohnten ähnlich wie Hyena in richtigen Steinhäusern, die aber ordentlich erbaut waren, und nicht aus Resten anderer Baumaterialien. Entfernt glichen sie damit denen der Hominiden und somit der menschlichen Bauweise. Heißt, viereckiger Grundriss, ein Dach mit Schieferplatten oder anderem Gestein, einer stabilen Holztür, Fenster mit Fensterläden. Das Haus, in dem sie waren, hatte einen Gemeinschaftsraum, das als Wohnzimmer, Küche und Eingangsbereich diente, zwei Schlafzimmer mit Pritschen - Luxus wie ein Kissen oder Decken brauchten sie nicht - sowie eines, in dem sie ihrer Natur gelegentlich freien Lauf ließen. Das bedeutete, dass sie sich darin mit Lebendfutter einschlossen, dass sie dann töteten und roh aßen. Drimba dachte abfällig darüber nach, dass ihre Leute als primitiv und vulgär galten, während die echten Raubtiere sich solche Orte in ihren eigenen Häusern erlaubten. Wer wusste schon, was als Lebendfutter herhielt? Wulfiga hatte eben deutlich gezeigt, dass nicht nur Tiere auf seinem Speiseplan standen. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er außerdem ein Stück von Ziina gefressen hatte. „Hast du den Leuten von hier auch den Kopf abgerissen?“, fragte sie, nachdem sie sich in allen Räumen umgesehen hatte. Seine Ohren hoben an, er neigte den Kopf leicht und antwortete: „Ihre Besitzer haben mir das Haus überlassen.“ Sie sah ihn skeptisch an. „Unfreiwillig, nehme ich an?“ Er schüttelte andeutungsweise den Kopf. „Nein, ich habe sie gefragt. Morgen sind sie zurück.“ - „Alles klar, ich wusste es!“, rief Drimba aus. „Du willst also doch mit mir pennen.“ Warum sagte sie sowas? Es passte rein gar nicht in die Situation. Sie war nervös. „Nein, das will ich nicht“, entgegnete Wulfiga. „Ich will nur die Nacht hier verbringen. Das ist alles. Mehr nicht.“ Drimba verschränkte die Arme. „Komm schon, Wölfchen. Denkst du, dass die Leute hier dir, einem Fremden, frewillig ihr Haus überlassen?“ - „Ich habe ein wenig gebraucht, um zu verstehen, warum du mich Wölfchen nennst. Nicht, um mich zu beleidigen“, sagte er und wechselte unvermittelt das Thema. „Warum dann?“, hakte sie nach, als er keine Anstalten machte, weiterzusprechen. „Du hast Angst. Aber nicht vor mir an sich, sondern vor dem, was ich dir biete.“ - „Was laberst du da? Ich verstehe kein Wort.“ Wulfiga schloss die Tür. „Doch, das tust du. Aber dein Bewusstsein wehrt sich dagegen. Dein Unterbewusstsein hingegen hat es verstanden. Beide stehen im Konflikt miteinander, deshalb reagierst du mit Angst. Das ist normal, es ist Instinkt.“ Sie sah sich dezent um und ging ein paar Schritte von ihm fort, worauf er sofort reagierte und sie wissend, aber gestellt, anlächelte. „Das meine ich. Anstatt mich zu fragen, was ich dir biete, damit du verstehst, was dein tiefstes Inneres begehrt, lotest du aus, wie du entkommst, weil du glaubst, ich überfalle dich“, erklärte er. Drimbas Herz geriet in Rage und pochte. Nicht aus Furcht, sondern weil sie nicht anerkannte, dass Wulfiga in sie hineinblickte, als wäre sie ein dünnes, durchsichtiges Tuch. Ihre Lefzen zuckten. Sie hasste ihn dafür. „Na dann, werter Schlauwolf, sag mir, was mein tiefstes Inneres begehrt, außer einem dicken, langen Penis“, knurrte sie gehässig. „Was ist es, was du mir bietest, und was ich so sehr will?“ – „Vollendung“, antwortete er, breitete die Arme aus und fuhr fort: „Das ist es, was alle suchen, und wovor alle Angst haben, weil sie etwas von sich opfern müssen.“ Er zeigte auf sie. „Du suchst besonders danach, denn du bist orientierungslos. Weder als Mann noch als Frau geboren, hält dein eigener Körper dir deine Unschlüssigkeit jeden Tag vor, mit der du konfrontiert bist, die du aber verdrängst.“ Drimba schüttelte mit dem Kopf, lachte auf und sah weg, damit er nicht die kleinen Tränchen in ihren Augenwinkeln sah. „Gequirlte Scheiße“, kommentierte sie kleinlaut, leckte sich über ihre Zähne und schnalzte. „Es war ein Fehler, mit dir einen Pakt einzugehen. Du bist ein Irrer.“ - „Trotzdem bist du ihn eingegangen und hältst daran fest“, entgegnete er. „Was ist, wenn ich jetzt gehen und für immer verschwinden will? Scheiß doch was auf den Pakt!“, sagte sie. Wulfigas Augen veränderten wieder ihre Farbe, grün und gelb. Er senkte die Arme und beugte den Kopf ein paar Zentimeter. „Das wagst du nicht“, sagte er finster. Es war, als ob an der Stelle, an der er stand, das Licht verjagt wurde und ein bisschen mehr Dunkelheit zurückblieb. Aber das hatte doch eher mit ihren Gefühlen zu tun, die sie überwältigten. „Und nein, ich lasse dich nicht einfach gehen. Ich bin genauso gebunden wie du, und muss meinen Teil der Abmachung erfüllen.“ - „Ach, und wie?“, fragte sie herausfordernd. „Ich suche nach deinem verfickten Papier, während du gar nichts machst, außer Leute abmurksen. Wenn du jeden Tag welche umbringst, wirst du bald ein Gehetzter sein. Wie willst du sie dann noch erfüllen?“ Wulfiga schüttelte den Kopf. „Aber das ist es ja. Ich fange heute damit an“, sagte er. „Du verscheißerst mich“, entgegnete sie. „Nein, du hast gefunden, wonach ich dich gebeten habe. Jetzt bin ich an der Reihe. Aber bevor ich dir helfen kann, brauche ich dein Einverständnis, dir zu geben, was du brauchst.“ - „Vollendung?“ - „Vollendung“, sagte er und nickte. „Tsche ... ich weiß nicht mal, was du damit meinst. Aber ja, ich suche nach so etwas wie Vollendung. Das Leben war von Anfang scheiße zu mir. Für nichts war ich gut genug. Aber damit habe ich mich arrangiert“, meinte sie. „Das ist nicht mehr nötig“, sagte er. „Ach, wirklich? Wie willst ausgerechnet du das ändern? Du kennst mich nicht. Wir sind einander fremd.“ Sie spuckte aus. „Wann habe ich dein dämliches denn Buch gefunden? Kann mich nicht dran erinnern, es in der Pfote gehabt zu haben.“ Sie sahen einander schweigend an, bis Wulfiga zu einer Truhe schritt, sie öffnete und daraus ein in Leder gebundenes Buch hervorholte. Es war klein, selbst für menschliche Hände. „Hier ist es“, sagte er und hielt es ihr hin. „Was soll ich damit?“, fragte sie unwirsch. „Du wolltest es lesen. Nimm dir die Zeit, ich ruhe mich aus.“ Widerwillig nahm sie es in die Klaue und betrachtete es von allen Seiten. Es war mit einem dünnen Lederriemen umwickelte, damit es verschlossen blieb. Das Leder glänzte fettig und war abgegriffen. Wer immer es geschrieben hatte, hatte es oft in der Hand gehalten. Dass es hier war, bedeutete, dass er es schon längst gefunden hatte. Warum hatte er sie dann weitersuchen lassen? Ihr wäre mindestens eine unangenehme Situation erspart geblieben. Zornig suchte sie seinen Blick, doch Wulfiga entfernte sich wortlos und verschwand im größeren der beiden Schlafzimmer. Er lehnte die Tür nur an. Drimba war nicht nach schlafen zumute, obwohl die Sonne dabei war, unterzugehen. Sie setzte sich an eine an der Wand stehende, hölzerne Küchenbank, einfach gezimmert und unbequem, und öffnete das Traumtagebuch. Darin war eine Markierung auf einer Seite, die sie aufschlug. Die Schrift war verschnörkelt und für sie nicht leicht zu entziffern. Das würde eine Weile dauern. Doch nach dem ganzen Rotz hatte sie keine Lust mehr, es zu lesen. Auch weil es sie an Moor erinnerte, der sich für das Traumtagebuch interessiert gezeigt hatte. Ohne Elan blätterte sie mit einer Kralle zwei, drei Seiten hin und her, bis ihr etwas auffiel. Etwas, das unmöglich sein konnte.

 

Drimba hatte sich zurückgezogen, nachdem sie die Nacht damit verbracht hatte, die Sätze wieder und wieder zu lesen. Es war unmöglich, und trotzdem stand alles da drin. Ihre Hirnwindungen arbeiteten ununterbrochen, seit sie stockend entdeckt hatte, was dort geschrieben stand. Sie kam darauf nicht klar. Ihr Verstand begriff es nicht. Sie hatte das verdammte Buch weggeschmissen - es lag in irgendeiner Ecke - und war hierhergegangen. Die Tür hatte sie geschlossen, aber nicht abgesperrt. Das nützte am Ende ohnehin nichts. „Du hast es entdeckt“, sagte eine vertraute Stimme jenseits der Tür. Sie klang dröhnend, ohne dabei laut zu sein. „Ja, habe ich“, erwiderte sie heiser. Sie hatte sich in den letzten Stunden ihre scheiß Seele aus dem Leib geheult. Dabei war sie nicht leise gewesen, Wulfiga hatte sie mit Sicherheit gehört, war aber nicht zu ihr gekommen. Aus gutem Grund. „Es tut mir leid. Aber was ich dir anbiete, gilt immer noch.“ Sie saß auf dem Boden, des kahlen Raums, legte die Arme über ihren Kopf, vergrub das Gesicht zwischen ihren Beinen. „Sicher“, schniefte sie. „Ich habe ja auch keine Wahl, als anzunehmen, oder?“ - „Nein, hast du nicht. Das ist das einzige, was ich dir geben kann.“ Wulfiga klang abgeklärt, aber es lag ein bedauernder Unterton in seiner Stimme. Fühlte er sich schuldig? Hatte er die kurze Zeit mit ihr sogar genossen? Egal. Alles egal. „Ich habe meinen Teil des Paktes erfüllt. Wenigstens kapiere jetzt, warum“, sagte sie und wusste nicht, ob er sie verstand, weil sie in ihre Beine nuschelte. Keine Erwiderung. „Wulfiga ist also überhaupt nicht dein echter Name“, sagte sie feststellend und lauter. „Doch, ist er“, entgegnete er. „Im Moment jedenfalls.“ Sie lachte auf und kicherte dann. „Ich weiß nicht, wieso, aber ich bin überhaupt nicht wütend. Damit meine ich nicht nur auf dich nicht, sondern auf nichts und niemanden mehr. Das Feuer ist weg. Gelöscht. Ich fühle mich gut. Nicht frei und im Einklang, oder so ein Schwachsinn. Einfach nur gut“, sagte sie. „Das freut mich für dich.“ Sonnenlicht fiel durch das Oberfenster ein und erhellte das Zimmer. Außer alten Blutspritzern an allen Wänden war hier nichts. Die Strahlen erwärmten ihr Fell. Heute wurde ein milder Tag. „Willst du nicht reinkommen?“, fragte sie. „Sobald ich eintrete, gibt es kein Zurück“, erwiderte Wulfiga. „Red keinen Blödsinn. Gibt es ohnehin nicht“, spuckte sie aus. „Ja, stimmt. Aber bist du schon bereit?“ - „Spielt das eine Rolle?“ - „Nein.“ - „Dann komm rein.“ Er trat ein. So groß, wie er dastand, hätte er nicht sein dürfen. Andererseits war Drimba mehrmals bei ihm optischen Täuschungen erlegen. Die Enge des Zimmers ließ ihn gewaltiger erscheinen. Das Lebendfutter sollte hier drin nicht unnötig fliehen. Warum hatte sie sich ausgerechnet hierher zurückgezogen? Seine Augen grün und gelb, wie erwartet. Doch diesmal leuchteten sie im einfallenden Sonnenlicht. Die Pupille des grünen Auges war geweitet bis fast zum Rand der Iris, die des gelben zusammengezogen und klein, sodass sie nur einen schwarzen Punkt ausmachte. Sie war nicht rund, sondern geschlitzt und lag quer. Er stand aufrecht und stämmig vor ihr. Zuvor hatte er sich die Mühe gemacht, schwächer zu wirken, als er in Wahrheit war. Ein sanfter Schauer überkam Drimba. „Du hattest nie vor, mir zu helfen, oder?“, fragte sie ihn vorwurfsvoll. Sie erntete einen missmutigen Blick. „Das ist nicht wahr. Ich werde dir helfen, so wie abgemacht.“ - „Aber nicht so, wie ich es dachte. Du gehst nicht zu Lammb und bringst ihn um, oder sowas.“ Er schüttelte leicht den Kopf. Sie sah zum Fenster. „Tja. Bleibt mir nix anderes übrig, als es anzunehmen. Deine komische Vollendung.“ Sie wandte sich ihm wieder zu. „Wie funktioniert das jetzt?“ Er schwieg. Das war der Moment, sie wusste es, seufzte, stützte von der Wand ab und erhob sich. Eine Sekunde. Länger dauerte es nicht, bis er bei ihr war und sie einen platzenden Druck in ihrer Brust spürte. Drimba strauchelte, kippte nach vorne und ließ alle Kraft verfliegen. Ihr Kopf lehnte an Wulfigas Brust, ihre Klauen an seinen Schultern. Schwach betrachtete sie ihn. Da war es wieder, dieses grausam-verrückte Grinsen, und wie er den Kopf unnatürlich zur Seite neigte. Seine blanken Zähne. Sie kamen näher. Mehr sah sie nicht mehr, bevor sie das Bewusstsein verlor. Blanke Zähne.


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