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Dritter Abschnitt "Kalanthe II"


Kalanthe II

„Was ist mit ihr geschehen?“, fragte ich und stützte mich von Agelulfs Brust ab. „Was hast du mit Drimba gemacht?“ Obwohl sie nur noch eine seiner Erinnerungen war, war sie mir ans Herz gewachsen. Sie hatte so viele Widerstände im Leben gehabt und ist sich trotzdem treu geblieben. Agelulf schnaufte und erhob sich, sodass ich von ihm herunterplumpste. „Ich habe nichts mit ihr gemacht. Das war Wulfiga, der ich nicht mehr bin“, antwortete er. „Sie starb. Wulfiga hat ihr das Herz geraubt. Wörtlich“, sagte er, sah mich an und hielt mir eine Klaue hin, die ich ergriff und er mir aufhalf. Die Decke glitt von meinem Körper herunter und ich stand entblößt vor ihm. Ich hatte ein ebenes Gesicht, war aber keine Schönheit, sondern unförmig, hatte Orangenhaut, dickere Waden, Röllchen an der Hüfte. Aber was interessierte mich das? Das waren Äußerlichkeiten, mehr nicht. Agelulf hatte gesagt, ich gehöre ihm. Das war für mich eine neue Tatsache. Die Unvollkommenheit war das, was ihn anzog. „Er hat es gefressen, so wie bei Vlooriean, nicht wahr?“, fragte ich. Er sagte nichts darauf. Brauchte er nicht, es war offensichtlich. Er forderte mich auf, zusammenzupacken, um weiterzureisen. Wohin wir reisten, verriet er mir nicht. Es war ohne Bedeutung. Für mich war Agelulf zu meinem Bezugspunkt und Ziel geworden. Ziel deshalb, weil ich ihn verstehen lernen wollte. „Was ist mit dem Traumtagebuch?“, fragte ich, kurz nachdem wir aufgebrochen waren. „Was hat Drimba darin entdeckt? Hast du es noch?“ Nach der langen Erzählung war Agelulf erstaunlich wortkarg geworden. Jedes Wort zog ich ihm aus der Schnauze, um weitere Details zu erfahren. „Nein, habe ich nicht“, antwortete er zum einen. Zum anderen: „Sie entdeckte sich selbst.“ Er blieb kryptisch, zu gerne hätte ich mehr gewusst. Aber hartnäckig nachhaken führte zu nichts. Er gab mir die Antworten erst, wenn sie an der Reihe waren und Sinn ergaben. Ich suchte meine Gewänder zusammen und kleidete mich an. Dann packte ich den Reisesack und verzurrte ihn. Als ich ihn aufheben und über meine Schulter legen wollte, schob Agelulf mich zur Seite und hievte ihn mit Leichtigkeit in die Luft. An ihm sah er absurd nach einer größeren Damentasche aus. Er legte ihn sich um, so wie ich es getan hätte, und stapfte davon. Ich eilte hinterher. Es war anstrengend, gleichauf mit ihm zu bleiben. Während er einen Schritt tat, brauchte ich drei. Zwar schnaufte ich nach kurzer Zeit, hatte mich aber in den paar Wochen an die höhere Geschwindigkeit gewöhnt. Ich sah es als Abhärtung meines zu wenig geforderten Körpers, der auf Vordermann gebracht wurde. Für Agelulf hingegen waren wir quälend langsam. Ich war mir sicher, dass er alleine in wenigen Tagen dort angelangt wäre, wohin er uns führte. Andererseits gab es uns die Zeit, uns kennenzulernen. Oder eher, dass ich ihn näher kennenlernte. „Wenn du eine Frage hast, stell sie“, sagte er nach einer halben Stunde. „Damit wir uns verstehen: Wulfiga war schweigsam und in sich gekehrt. Er sagte nur etwas, wenn es etwas gab, das wichtig war. Ich bin anders, denn ich bin nicht mehr er. Ich bin viele, die eine Stimme haben. Nimm Drimba als Beispiel, sie war Wut und Treue. Das eine war ihre größte Schwäche, das andere die herausragendste Stärke. Ich habe von ihr erzählt, damit du das verstehst. Wenn du also mehr wissen willst, frag mich.“ Wenn er es verlangte, bitte. „Wer ist der Autor des Traumtagebuchs? Du hast zwar gesagt, er sei dir wichtig gewesen, hast aber nicht viel von ihm gesprochen.“ Agelulf sah zu mir herab. Ich erwiderte seinen Blick, bis mir etwas auffiel, das mich kurz straucheln ließ. Er fing mich auf, bevor ich stürzte. Ich bedankte mich für die Hilfe und sah ihn wieder an. Da war es weg. Seine Augen waren rosa gewesen, glaubte ich. Oder bildete ich mir das ein? Aber nach dem, was Drimba gesehen hatte, war es möglich. Andererseits - „Sein Name ist unwichtig. Es reicht, dass du weißt, wie wichtig er mir war.“ - „Er? Also ein Mann?“ - „Eher ein Junge, noch nicht ganz Mann. Die Erinnerungen an ihn sind schmerzhaft. Doch er hat mich auf den Weg gebracht, den wir alle schreiten.“ Jetzt war eine Frage unzureichend beantwortet und mehrere neue dazugekommen. „Wen meinst du mit ‚alle‘?“, fragte ich das Offensichtlichste. „Du und ich, und die Geister, von denen ich dir erzähle.“ Das half mir wenig und scheinbar verzog ich entsprechend meine Miene, als er sagte: „Für vieles ist es noch zu früh.“ - „Warum forderst du mich dann auf, dich mit Fragen zu löchern, die du nur halb oder gar nicht beantwortest?“ Ich verstand den Sinn dahinter nicht. Er sah die gepflasterte Straße entlang, auf die wir einbogen. Sie war eine der wenigen in dieser Gegend und führte, folgte man ihr lange genug, bis in die Hauptstadt. Wir aber gingen von ihr weg ins Grenzgebiet, wo kaum jemand lebte. Am Ende des Weges lag der Muralge-Wald. Da wurde mir klar, warum Agelulf diese Richtung einschlug. Muralge war die Region, aus der Werwölfe stammten, wenn man der Legende glaubte, dass dort eine Frau von einem Wolf geschwängert worden war, die darauf den ersten Werwolf geboren haben soll. „Deine Fragen sind wie Wellen in der Brandung bei zunehmender Flut. Jede Welle gelangt weiter ins Land. Je öfter du fragst, desto mehr Antwort wirst du erhalten.“ – „Wenn ich dir die Fragen also nochmal stelle, sagst du mehr?“, fragte ich mit hochgezogener Nase. Er sah mich an, schmunzelte und kicherte. „Nein, so einfach ist es nicht, aber das weißt du wahrscheinlich.“ Er dachte ein paar Minuten nach, während ich keuchend neben ihm herhechtete. Ich ärgerte mich darüber, nicht meine festen Arbeitsschuhe mitgenommen zu haben, in denen ich die groben Feldarbeiten immer erledigt hatte. Sie waren unbequem, doch dafür aus festem, steifen Rindleder, und hielten mehr aus als die Treter, die ich in aller Eile angezogen hatte, um schnell zu fliehen. Es waren Tagesschuhe, die ich für Spaziergänge oder Besuche auf dem Markt anzog. Nicht nur, dass mich wieder Blasen quälten, sie hielten dazu nichts aus und zeigten schon erste Anzeichen, bald auseinanderzufallen. Wenigstens war ich bei meinen Gewändern nicht so unüberlegt gewesen. Ich hatte mehrere Schurwollgewänder für kalte Nächte, ein dünnes Leinenkleid und eine Hose aus festem Leder dabei. Dazu zwei Paar Unterhemden und -hosen. Nicht viel, aber je weniger unnötige Sachen, desto besser, obwohl ich mir manchmal etwas Seife und ein warmes Bad wünschte. Was Letzteres anbelangte, hatte Agelulf mir schnell eine Lösung geboten. Alle paar Tage, oder wenn ich ihn darum bat, badete er mich, indem er mich ableckte, wie ein Junges. War ich zuerst hochrot angelaufen, empfand ich das mittlerweile als angenehm, zumal es mich erstaunte, danach nicht mehr zu riechen. Weder nach meinen Ausdünstungen, noch nach seinem Maulgeruch, was ich beim ersten Mal befürchtet hatte. Daneben wünschte ich mir mein Duftwasser, das ich mir vor einer Ewigkeit in meinen Zwanzigern erstanden hatte, um mich wie die Damen der hohen Gesellschaft fühlte. Schwelgen in Erinnerungen war etwas erheiterndes, wenn man welche hatte, an die man gern zurückdachte. Mein Leben hingegen war bisher ein hartes und langweiliges gewesen. Deshalb besaß ich wenige denkwürdige Augenblicke. „Zum richtigen Zeitpunkt gestellt, werde ich dir die Antworten geben, nach denen du bei mir suchst, Kalanthe“, sagte er in die Stille zwischen uns hinein. „Ich wusste nicht, dass ich etwas bei dir suche?“, wunderte ich mich. „Schon hast du die Antwort auf eine Frage, die du noch nicht gestellt hast. Du bist auf der Suche, ähnlich wie ich. Der Unterschied ist, dass ich dir gebe, wonach du suchst.“ - „Was gibst du mir denn?“, fragte ich. „Bestimmung“, antwortete er überzeugt. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber mir leuchtete es sofort ein. Vorher war ich eine kopflose Frau gewesen, nur dazu da, meinem Mann das Essen zu kochen, zu putzen, den Haushalt zu führen, den Hof zu bewirtschaften. Jetzt war ich eine, die Lust auf Abenteuer hatte und die Welt entdeckte. Alle Farben wirkten seit unserer Flucht bunter und deutlicher. Eine Bestimmung war das zwar nicht, aber Agelulf half mir, sie in mir zu entdecken. Er war das Trittbrett, das ich brauchte, um in die Luft zu springen und fliegen zu lernen. Ich grinste breit. „Du hast es schnell verstanden“, sagte er und grinste genauso. Darüber lachte ich, denn sein Grinsen war einschüchternd und monströs. „Hör auf zu lachen. Das zu machen, ist nicht leicht, wenn man keine Lippen hat, wie du“, sagte er, weiter die Zähne zeigend. Mein Zwerchfell schmerzte und ich hatte Luftnot, blieb stehen und verschnaufte. Er ließ mir keine Zeit dafür, seine Maulwinkel kletterten weiter hinauf, sein Gesicht wurde zu einer absurden Fratze, die nicht mal mehr bedrohlich aussah. Wann hatte ich das letzte Mal herzlich gelacht, wie jetzt? Ich erinnerte mich nicht. „Hrhrhr“, machte er und schaffte es, dass ich mich vergaß, den Kopf in die Höhe reckte und wild gackerte. Es war mir einerlei, was er warum auch immer tat, oder was am Ende dabei hervorkam. Oder dass er auf seiner eigenen Suche das Leben von Leuten wegwarf. Wenn er mich so zum Lachen brachte, war er gut so, wie er war. Obwohl er nicht mitlachte, sagte er: „Du bist ansteckend. So viel Spaß hatte ich lange nicht. Hoffentlich bleibst du bei mir.“ Ich vergrub meine Hand im Fell seiner Hüfte und hielt mich fest, um aus Luftmangel nicht umzukippen. Es dauerte, bis ich mich beruhigte. „Ich bleibe, solange ich darf.“

 

Ein paar Tage zogen ins Land, in denen ich nicht mehr nach Drimba, Vlooriean, dem Tagebuch oder etwas anderem fragte, weil ich fürchtete, dass es unsere neu gewonnene Leichtigkeit zerstörte, kaum dass wir sie gefunden hatten. Ich wusste, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft wieder vorbei sein würde. Agelulf verstand das. Er mied die unangenehmen Themen nicht und hätte sofort weitererzählt, wäre ich darauf zurückgekommen. Doch er wartete auf mich, bis ich den nächsten Schritt wagte. Ich hatte das Gefühl, dass er die Unbeschwertheit ebenfalls genoss.

Die Landschaft veränderte sich langsam, während wir viele Tagesreisen zurücklegten. Wir hatten seit unserem Aufbruch fast 600 Kilometer hinter uns gebracht. Da der Weg nach Nordosten führte, wurde es kälter. Zuerst nur gering, dann rapide. Nicht so, dass es schneite, aber morgens wachten wir in der Regel mit leichtem Frost im Fell und in den Haaren auf. Die Temperatur im Freien über Tag war die eines milden Herbsttages. Die Pflanzen änderten ihre Erscheinung. Während zu Hause der Frühling alles in intensiven, bunten Farben prächtig eindeckte, das Gras saftig grün war, die Tulpen und Rosen und allerlei Blumen um die Aufmerksamkeit der Insekten buhlten, dominierte in dieser Gegend der vergehende Winter, der seine kalte Faust nur langsam lockerte und nie völlig von Mutter Natur abließ. Entsprechend dunkel und düster wirkten die steilen Hügel, die wir passierten. Das Gras dunkelgrün, die Sträucher ebenso, vorwiegend Wildkräutergewächse. Es war ein wenig trostlos, aber ich freute mich dennoch wie ein kleines Mädchen, denn es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine andere Weltgegend kennenlernte.

Entgegen seiner Natur und des Stolzes hatte Agelulf an einem regenverhangenen Tag, an dem ich die Sohle meines rechten Schuhs endgültig durchlief und mein Fuß vom kalten Boden taub wurde, mich mit beiden Klauen umfasst und auf den rechten Arm gehoben. Ich war selten so dankbar für eine Bequemlichkeit wie diese gewesen. Daneben wurden wir schneller, da er nicht mehr auf mich achtgeben musste. Er rannte nicht, das war wegen mir nicht möglich, aber trotzdem waren wir, je nach Bodenbeschaffenheit, denn die gepflasterte Straße war längst zu Ende, doppelt bis dreimal so schnell. Das miese Wetter tat unserer Stimmung keinen Abbruch. Einmal, während es nur nieselte, machte ich Anstalten, auf seine Schulter zu klettern. Er ließ mich gewähren. Dort erhob ich mich, um aufrecht zu stehen. Er hielt an, damit ich nicht herunterfiel, und streckte den linken Arm empor, an dem ich mich abstützte. Weil ich das Gleichgewicht zu verlieren drohte, hockte er sich hin, sodass ich halb auf Agelulfs Kopf saß. Ich weiß nicht, was mich dazu verleitete, vielleicht die Energie der wilden, von Menschen unbekannten Natur um uns herum, ich umschlang meine Brust, als ob ich mich selbst umarmte und - heulte wie ein Wolf. Es hörte sich schief an, aber mir war danach. Es war affig und kindisch, das wusste ich. Einen Moment später wurde es mir peinlich. Doch bevor der letzte Ton in meiner Kehle verstummte, erhob Agelulf den Kopf und fiel in mein Heulen ein! Es war melodisch und wie die Stimme des Regens, der Luft und der Erde. Ausdrucksstark und sanft, dabei überraschend frisch und fürsorglich in meinen Ohren. Hatte er Drimba nicht weisgemacht, dass Werwölfe nicht heulten? Ich lernte, dass sie nicht ununterbrochen in demselben Ton hielten. Als ich Luft holte, um mit ihm gemeinsam zu singen, beobachtete ich ein paar Augenblicke, wie seine Kiefer sich leicht öffneten, der Ton anhob, schlossen, der Ton niedriger wurde. Er war so herrlich! Das hatte ich bis dahin nicht bemerkt. Er war ein Repräsentant. Von was, wusste ich nicht, aber es ergriff mich. Er ergriff mich. Ich hatte mit ihm geschlafen, weil er attraktiv war, aber jetzt sah ich die wahre Anmut, die mich mit seiner Stimme einfing. Es war nicht nur ein Gesang, es war eine Anrufung. Eine Nachricht, oder nein, eine Ankündigung. Unsere Stimmen verklangen, in der Ferne lauschten wir dem Widerhall. Dann eine Antwort. Leise, weit weg, nur einen kurzen Moment hörte ich sie, dann setzte stärkerer Regen ein und rauschte jedes andere Geräusch fort. Ich zog mir schnell die grobe Filzkapuze über. Agelulf half mir von der Schulter herab. In seinem Arm sah ich zu ihm auf. „Wer war das?“, fragte ich und bemerkte offene Überraschung in seinen Augen, wenn auch nur kurz. „Mein Bruder, Ibor. Er lebt unweit der Grenze von Muralge“, antwortete er. „Wir sind bald da?“, fragte ich irritiert. Ich hatte keine Waldgrenze am Horizont entdeckt. Agelulf schüttelte den Kopf, Regentropfen schleuderten aus seinem durchnässten Fell. „Nein, wir sind noch drei Tagesmärsche entfernt. Trotzdem hast du ihn gehört.“ - „Was hat er geantwortet?“, fragte ich und überging die Tatsache, dass ich als Mensch etwas wahrgenommen hatte, das ich auf diese Distanz nicht hätte hören können. „Er erwartet uns“, antwortete er und legte den Kopf leicht schief. Er taxierte mich, das war mir unangenehm, sodass ich den Blick anwandte und die Kapuze niedriger zog. „Und was ... hast du gesagt? Du hast uns angekündigt, das weiß ich. Aber davor hast du mit mir gesungen“, sagte ich. „Was war das für ein Lied?“ - „Es war dein Lied, nicht meins. Ich habe mich der Tonabfolge angepasst, die du vorgegebenen hast.“ Mein Lied? Ich hatte aus einer Laune heraus gehandelt, ohne Absicht und ohne eine Melodie im Sinn zu haben. „Ich weiß ungefähr, was du gerade denkst“, sagte er. „Nichts passiert zufällig. Du hast das Lied angestimmt, weil es Zeit dafür war und du befreit sein willst. Du entdeckst, wer du wirklich bist.“ - „Ich bin nur ein Mensch“, murmelte ich zu mir selbst und vergaß, dass Agelulfs Ohren fast alles hörten. „Du bist viel mehr als das. Mensch sein, Werwolf sein, irgendwas und -jemand sein. Das ist nur eine Hülle, wir streifen sie ab. Die einen früher, die anderen später, und die meisten Seelen in der Welt niemals. Sie bleiben verankert und verzweifeln. Aber du nicht. Und ich auch nicht. Du hast die ersten Schritte getan und bist auf dem Weg“, erläuterte er meine Selbstfindungssuche. „Aber es fühlt sich nicht danach an“, erwiderte ich. „Weil du die Stufen bisher ohne Widerstände aufsteigst“, sagte er, hob seinen Arm mit mir darauf an und lugte unter den Stoff. „Das erstaunt mich. Ich hatte es nicht so leicht. Aber du ... für dich gelten andere Regeln.“ Wenn ich nur wüsste, wie diese Regeln oder die Stufen aussahen, von denen er sprach. Aber es machte mich zuversichtlich und ein bisschen stolz, dass er mich auf diese Weise einschätzte.

 

Statt drei Tage brauchten wir sechs um nach Muralge zu gelangen. Kurz vor dem Ziel streckten mich meine Monatsblutungen nieder, sodass ich mit Bauchschmerzen und Übelkeit zwei Tage unbeweglich dalag. Versuchte ich es trotzdem, erbrach ich. Das Regenwetter kannte dabei keine Gnade und belästigte uns währenddessen. Schon als ich unter beidem litt, aber bevor die Blutung einsetzte, suchte Agelulf einen Unterschlupf, der keiner war. Ein dichteres Gestrüpp, dass den Regen einigermaßen abhielt. Zwar war der Boden zum Stamm hin feucht, aber nicht durchnässt. Er legte meine Decke vorsichtig aus und half mir unter das Blattwerk. Dann ließ er mich alleine und zeigte sich bis zum Abend des übernächsten Tages nicht mehr. Nicht nur erschreckte mich die Heftigkeit der Schmerzen - mit Anfang vierzig waren sie mir nicht fremd, zwar unangenehm, aber ich hatte gelernt, mit ihnen zu leben - sondern vor allem, dass Agelulf ohne Erklärung weggegangen war. Ich durchlitt Qualen, die ich so zuletzt mit Mitte zwanzig erlebt hatte. Die Krämpfe in Bauch und Unterleib deuteten sich nicht an, wie sonst, sie überfielen mich abrupt und ohne Vorwarnung. Ich fluchte sie heraus, um sie zu lindern, hielt meinem Bauch und wälzte mich. Dabei übermannte mich die Übelkeit, die letzte Mahlzeit fand den Weg nach draußen. Zum Glück war ich schnell genug, meinen Kopf über den Rand der Decke hinauszustrecken. Kaum war mein Magen leer, verkrampfte ich erneut. „Agelulf!“, schrie ich. „Agelulf! Komm zurück! Bitte!“ Er kam nicht wieder. Ich erhielt keine Gelegenheit, entsetzt darüber zu sein, da peitschten die nächsten Krämpfe und Schmerzen meinen Unterleib. Erst gegen Abend gewährte mein Körper mir eine Pause und ich schlief erschöpft und frierend ein. An Agelulf verlor ich keinen Gedanken mehr.

Am zweiten Tag glaubte ich, zu sterben, als sich zu Übelkeit und Krämpfen der Durchfall gesellte, für den ich den Schutz der Blätter verließ, was wiederum Brechreize nach sich zog. Am späten Nachmittag setzte die Blutung endlich ein, was die Situation nicht vereinfachte. Es hörte nicht auf zu bluten, mir wurde schwindelig. Ich trank so viel Wasser, wie ich bei mir behalten konnte. Wenigstens regnete es nicht mehr, obwohl der Tag ekelhaft kühl geblieben war. Ich schlief ein, bevor es dunkel wurde. Eigentlich wurde ich ohnmächtig, was dann in den Schlaf überging.

Am nächsten Morgen war meine Decke vollgeblutet. Dafür waren die schlimmsten Schmerzen vorbei. Trotzdem wartete ich, um mich nicht zu überanstrengen. Sie Sonne schien nach fünf Tagen Dauerregen. Ich krabbelte unter dem Gestrüpp hervor, wobei ich mit der linken Hand versehentlich in mein Erbrochenes griff, das ich vergessen hatte. Kaum berührten die Strahlen mein Gesicht, fühlte ich mich lebendiger. Auf allen vieren krabbelnd entdeckte ich Agelulf ein paar dutzend Meter entfernt stehen. Fassungslos schüttelte ich den Kopf und schrie: „Wo warst du?!“ Gleich darauf eine letzte Welle Übelkeit, ich würgte, aber heraus kam nur Geifer. Er eilte her und half mir auf. „Ich konnte nicht bleiben“, erklärte er sich. Bevor er weitersprach, verpasste ich ihm eine Schelle und warf ihm verweinte und vorwurfsvolle Blicke zu. „Tut mir leid, es ging nicht anders.“ - „Warum?“, krächzte ich. „Es liegt an deinem Blut. Jemand wie ich gerät in Rage, wenn eine Frau mit Blutung in der Nähe ist“, erklärte er. „Ich war nicht weit weg. Aber ich musste Abstand halten, sonst hätte ich dich zerfetzt.“ Ich schluchzte. „Ich hatte Angst. Ich dachte, du bist gegangen.“ - „Nein. Dich lasse ich nicht zurück. Du bist zu wichtig.“

 

Ibor war ein kolossaler Werwolf. Agelulf empfand ich bereits als riesig, aber Ibor übertraf ihn. Das lag nicht an seiner Größe, denn er war nur einen halben Kopf größer, sondern es war seine Masse, die Eindruck schindete. Er saß gut im Fleisch, wie man bei mir zu Hause sagte. Er war nicht dick, aber schlank ebensowenig. Er erwartete uns an der Waldgrenze. Muralge war der älteste Wald der bekannten Welt. Seine Bäume waren so alt, dass sie unförmig wuchsen, so als wussten sie zum Zeitpunkt ihrer Verwurzelung im Boden noch nicht, wie sie wachsen sollten. Ibor mit seiner Größe war offensichtlich ein Kind des Waldes. Bevor wir ihm zu nahe kamen, setzte Agelulf mich ab und schritt alleine weiter. Einen Meter vor ihm blieb er stehen, beide fletschten knurrig die Zähne und starrten einander an. Agelulf hatte dunkel- bis hellgraues Fell und wirkte mit seinen gelben Augen düster. Ibor war dessen lebhaftes Gegenstück. Sein Fell war gold bis hellbraun gescheckt und dicht, an der Halskrause weiß, im Schulter- und Kreuzbereich nochmal länger. Rechts hellgrün, links türkis strahlten seine Augen die Lebendigkeit des Waldes aus. Die Krallen waren schwarze Schnitter, die sich jeder Farblichkeit entgegenstellten und kaum im Licht schimmerten. Er hatte ein hervortretendes Kinn und über seine Schnauze verlief eine alte Narbe. Für einen Werwolf war er bullig. Waren alle Werwölfe so unverwechselbar, oder lag es daran, dass ich vorher kaum einen von ihnen in ihrer natürlichen Erscheinungsform gesehen hatte? Sie spannten ihre Muskeln und gingen in Angriffsstellung, bevor sie einander zügig überfielen, sich in ein grollendes Knäuel verwandelten, und jeder den anderen zu Boden zu drücken versuchte. Was ich zuerst als echten Angriff wertete und mich bereit machte zu fliehen, stellte sich als Rauferei heraus, um festzulegen, wer von beiden das Sagen hatte. Obwohl Ibor überlegen aussah, gewann am Ende Agelulf, indem er es schaffte, dessen Hals mit halbgeschlossenen Kiefern zu umfangen. Er hätte nur zubeißen müssen, dann wäre sein Bruder tot. Ibor bewegte sich nicht mehr und lag starr auf dem Rücken, zeigte seinen Bauch, was Unterwürfigkeit ausdrückte. Er erkannte die Niederlage an. Trotzdem verblieben beide in der merkwürdigen Stellung, die aus der Ferne aussah, als küsste Agelulf Ibor lasziv am Hals. „Du hast gewonnen“, sagte der genervt, dessen Stimme heller war, als ich erwartet hatte, aber trotzdem dunkler als jede menschliche Stimme. Agelulfs Lefzen zuckten. „Lass mich endlich los“, quengelte Ibor. „Deine Kleine bekommt Angst.“ Das stimmte gar nicht. Er ließ von ihm ab und sah ihn schief ab, stand auf und bot ihm die rechte Klaue, die Ibor annahm und sich aufhelfen ließ. Er zog ihn abrupt am sich heran und starrte offen in seine Augen, was als aggressiv galt. „Du bist dreist, Ibor“, sagte er. Der legte die Ohren an, erwiderte den Blick und grinste - genauso monströs Agelulf. „Du warst lange weg. Da musste ich es versuchen“, meinte er. „Ich bin am Leben. Solange bin ich Anführer des Rudels.“ Ibor lachte und drückte ihn an sich, was Agelulf abwehrte, aber nichts nützte. „Ein Rudel, das nur aus dir und mir besteht? Dein Humor hat sich nicht verändert. Noch genauso schlecht wie damals.“ Er sah auf und wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. „Und wer ist das?“, fragte er. „Du weißt, dass ich keine Menschen fresse, großer Bruder.“ Da ich die Situation für geklärt hielt, näherte ich mich, bis ich mit ein paar Metern Abstand bei ihnen war. Man wusste ja nie. „Das ist Kalanthe“, stellte Agelulf mich vor. Ibor schnupperte in meine Richtung. „Wusste ich es doch“, sagte der und sah Agelulf wieder an. „Sie ist unser neues Rudelmitglied.“ Hatte ich mich verhört? Rudelmitglied? Was, bei allen Unheiligen -? „Nein, nicht direkt. Sie gehört zu mir“, schränkte Agelulf ein. „Nur zu dir?“, wunderte sich Ibor und schnupperte erneut. Bevor er etwas sagte, was wir beide als ungehörig empfanden, patschte Agelulf gegen dessen Schnauze. „Hör auf damit. Du hast mich verstanden.“ Ibor rieb sich die Nase, stellte sich aufrecht hin und sagte: „Ist ja gut. Ich mache ja nichts. Dein ist dein. So war es schon immer.“ An mich gewandt breitete er die Arme aus. „Ich heiße dich willkommen, Kalanthe. Mein Name ist Ibor“, stellte er sich vor, zeigte sich offen und freundlich. Ich trat heran und umarmte ihn, was beide verwunderte, da seine Geste keine Einladung dafür gewesen war. Ibor war überfordert damit. „Äh, also - was mache ich jetzt?“, stammelte er ratlos. Ich ließ sofort von ihm ab. „Tut mir leid!“, sagte ich. „Ich dachte nur ... egal.“ - „Schon gut“, meinte Ibor und kniete sich nieder, damit wir annähernd auf derselben Augenhöhe waren. „Es ist nur nicht üblich, dass unsere Leute einander umarmen. Wulfiga und ich sind Brüder, deshalb machen wir das.“ - „Oh, achso ...“ Ich sah befremdet zwischen ihnen hin und her. „Was ist?“, fragte Ibor. „So schlimm ist es nicht. Wenn du gerne umarmst, gewöhne ich mich daran.“ - „Das ist es nicht“, mischte sich Agelulf ein, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten. „Ich bin nicht mehr Wulfiga. Ich bin jetzt Agelulf.“ Abrupt erhob sich Ibor schockiert, er taxierte seinen Bruder. „Wirklich? Du bist jetzt Varwúlfur?“ Agelulf nickte. Ibor schüttelte den Kopf. „Du hast dich so lange dagegen gewehrt. Wie kommt das?“ - „Ich habe jemanden kennengelernt“, antwortete er. Ibor sah mich. „Nein, nicht sie!“, grollte er. „Dann sei nicht so wortgeizig und erklär es mir!“, meckerte Ibor. „Alles muss ich dir aus der Schnauze ziehen.“ Agelulf grummelte. „Es war ein Mensch, der mir etwas gezeigt hat. Dadurch ... hat sich meine Meinung geändert.“ - „Umso besser“, nickte Ibor anerkennend. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie genau sprachen. Aus dem bisschen aber reimte ich mir zusammen, dass es eine aktive Entscheidung für Werwölfe war, ihre Namen zu ändern. Varwúlfur schien mir weniger ein Name, vielmehr ein Titel oder eine Zugehörigkeit auszudrücken. „Trotzdem freue ich mich auf die Geschichte, die dahintersteckt.“ Agelulf winkte ab. „Nicht jetzt. Kalanthe braucht Ruhe, die letzten Tage waren hart für sie.“ Ibor betrachtete sie. „Ja, du siehst schlimm aus, Kleines“, sagte er, was mir gar nicht gefiel. „Nenn mich nicht Kleines. Du bist Agelulfs jüngerer Bruder, oder? Wie alt bist du? Mitte zwanzig?“ - „28 Sommer“, antwortete er zögerlich. Huch? War Agelulf etwa doch schon dreißig? Ich hatte nie den Eindruck gehabt. Trotzdem ließ ich mich nicht beirren. „Ich habe ein paar mehr Jahre in den Knochen, als du. Auch wenn ich eine Zwergin für dich bin, ist es respektlos, mich so zu nennen.“ Ibors Maulwinkel kletterten hinauf, er lachte in sich hinein. „Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte er. Seine Augenfarbe - änderte sich! Beide Augen wechselten zu Opalrot. Aber anstatt Angst zu bekommen, streckte ich den Kopf neugierig vor. Ibor leckte sich über die Lefzen, als deutliche Botschaft. „Ich verstehe, warum sie dein bleibt“, sagte er an Agelulf gerichtet, ohne den Augenkontakt zu mir zu unterbrechen. An mich: „Du bist eine Wölfin in Menschengestalt. Wenn er nicht schon Anspruch auf dich geltend gemacht hätte, hätte ich dich heute Nacht oder morgen aufgesucht.“ Ich leugne nicht, dass die Vorstellung mich reizte. Nachdem ich über zwanzig Jahre mit demselben Mann das Bett geteilt, von denen er die letzten fünf statt mich ein junges Ding aus der Stadt berührt hatte, war ich bereit, neue Erfahrungen zu sammeln, und meine echte Sexualität kennenzulernen. Ich sah zu Agelulf, der meinen Blick richtig einschätzte. „Du willst das?“, fragte er skeptisch. Weder nickte ich, noch schüttelte ich den Kopf. Er schnalzte. „Ich habe den Anspruch auf dich ausgesprochen, weil ich dich vor Ibor schützen wollte. Er ist nicht nur ein Maulheld-“ - „Hey!“ - „- sondern auch ein Frauenverschlinger. Ich war mir nicht sicher, ob du den Willen hast, dich gegen ihn zu wehren. Aber so sieht es natürlich anders aus.“ Er räusperte sich. „Ich hoffe, du weißt, worauf du dich einlässt. Ich gebe den Anspruch auf dich auf.“ Ibor wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, der ab und zu auf den Erdboden hämmerte. „Bist du nicht eifersüchtig?“, fragte ich ein bisschen überrascht. Agelulf schüttelte leicht den Kopf. „Du verstehst da etwas falsch. Ich mag dich, aber von Liebe ist das weit entfernt. Das solltest gerade du wissen. Das klingt jetzt verachtend, aber so ist es nicht gemeint: Du bleibst in der Familie. Ich habe meinen Anspruch aufgegeben. Bei uns bedeutet das, alles was mein ist, gehört dem Rudel. Darüber hinaus töten wir aber jeden, der mit oder gegen deinen Willen Hand und Pfoten an dich legt.“ Es war kein Scherz gewesen, ich war jetzt Teil ihres Rudels. Zwar war mir nicht klar, was das alles bedeutete, aber dass es besonders war, erkannte ich. Ich wurde flatterig, mein Bauch warm. „Danke“, war das Einzige, was ich herausbrachte. „Wunderbar, dann ist es also ausgemacht“, meinte Ibor und lächelte dreckig. „Ich komme dich besuchen.“ - „Genug davon. Ich habe Hunger“, unterbrach Agelulf und ging voraus. „Warte, nicht da lang“, sagte Ibor und hielt ihn auf. „Ist die alte Hütte zusammengefallen, oder hast du die Höhle geerbt?“, fragte der. „Der Alte ist weg. Hat sich abgesetzt, nachdem er seine Leute vergrätzt hat. Sie hatten kein Interesse an ihr. Zu viele schlechte Erinnerungen“, erklärte Ibor, worüber Agelulf den Kopf schüttelte. „Du lebst im Luxus.“ - „Schon. Dafür siehst du mehr Leute.“ - „Wer hält dich auf, zu gehen?“ Ibor funkelte Agelulf an. Ich hatte es schon bemerkt, zwischen ihnen gab es eine Kluft. Ich vermutete, dass es Agelulf, als sie sich das letzte Mal sahen, in die Welt hinausgezogen hatte, während Ibor blieb und sich zurückgelassen fühlte. Das war der Stoff, aus dem viele Tragödien entstanden sind, obwohl ich keine davon kannte. „Wie geht’s deinem Ziehvater? Hacke?“, fragte Ibor und traf eine offene Wunde, Agelulf fletschte die Zähne. „Sei vorsichtig, sonst reiße ich dir die Zunge raus“, drohte er und schritt an ihm vorbei in den Wald hinein.

Ich ruhte nicht aus, zuerst wurde ich von Agelulf gewaschen. Dabei sah Ibor uns zu. Er hatte angeboten, wegzugehen, ich hatte ihm erlaubt zu bleiben. Es war eine Wohltat, wie jedes Mal, wenn er meinen Körper reinigte. Zudem reizten mich die begehrlichen Blicke, die er mir schenkte. Nach dem Bad zog ich mir einen dicken Rock über. Es war später Nachmittag und zu früh, um schlafen zu gehen. Das einzige, was ich damit erreicht hätte, wäre eine Nacht, in der ich kein Auge zubekam. Die Höhle, in der Ibor lebte, war am Eingang eng. Zumindest für ihn und Agelulf. Nach etwa zehn Metern betraten wir den ersten Raum, der voll möbliert war mit allem, was es zum Leben brauchte. Die Einrichtung passte nicht in eine Höhle wie diese. Ein Schrank aus Eichenholz, eine große Truhe, in der ich mich verstecken könnte, ein edler Sessel mit dazugehörigem Schemel, dessen Polster mit Silberbrokat bezogen und der voller Haare war. Eine Art kleine Handwerkerschmiede, die schon lange ungenutzt aussah. In der Mitte gab es sogar eine Feuerstelle, deren Rauch durch ein halben Meter großes Loch an der Decke abzog. Nichts passte in irgendeiner Weise zusammen. Von hier aus gelangte man in zwei weitere Räume, ein Vorratsspeicher, der vor allem mit Fleisch gefüllt war, und eine mit Fellen ausgelegte Schlafhöhle. Von dort aus war es möglich, weiter in das Höhlensystem vorzudringen. Der Durchgang dorthin war jedoch mit schweren Steinen versperrt worden. Die Hohlräume sahen aus, als seien sie durch Wasser entstanden. In der Nähe meiner Heimat gab es eine ähnliche Höhle, die halb unter Wasser stand und genauso geformt war. Ibor entfachte ein Feuer, obwohl weder er noch Agelulf es nötig hatten. Mir hingegen war kalt. Mit einem der Felle aus der Schlafhöhle setzte ich mich vor die prasselnden Flammen. Ibor begab sich auf die Jagd. Es war bei all den Vorräten nicht nötig, aber er wollte uns Zeit geben, zur Ruhe zu kommen. „Bleib bei ihr, ich bin bald zurück“, sagte er zu Agelulf, der ihn begleiten wollte. „Außerdem kannst du bestimmt nicht mehr jagen“, meinte er frech und verschwand durch den Eingangstunnel.

Danach hingen Agelulf und ich unseren Gedanken nach. Ich dachte daran, meine mit Blut vollgesogenen Gewänder am nächsten Tag zu waschen. Darauf hatte ich keine Lust, aber auch keine andere Wahl. Hier bei den beiden mitten im Wald fand ich eher wenig Kleidung. Mein Geist schweifte und wandte sich keinem Thema direkt zu. Vor allem die Frage, wie mein Leben in Zukunft aussah, drängte sich in den Vordergrund. Wir waren auf der Flucht, aber war Ibors Höhle Agelulfs Ziel? Mein Gefühl sagte mir etwas anderes. „Wer war der Nächste?“, fragte ich. Agelulf horchte auf und spitzte die Ohren. Er hatte sich im Durchgang zur Schlafhöhle niedergelassen und saß dort halb im Schatten. Vom Feuer wurde er nur wenig angeleuchtet, wodurch er wie ein diffuses Schemen aussah. Nicht greifbar und trotzdem da. Sein Fell sah trotz des warmen Lichts kalt aus. Seine Augen leuchteten. Oder, doch nicht? Er betrachtete mich. „Du meinst den nächsten Geist?“, fragte er, ich nickte. „Ich habe nicht erwartet, dass du das noch wissen willst.“ - „Sicher will ich. Du bist mir immer noch die Erklärung schuldig, warum du Vlooriean auseinandergenommen hast“, entgegnete ich entschieden, worauf er zur Antwort leise grollte. Ich vermutete, mein neues Selbstbewusstsein gefiel ihm nicht, obwohl es ihm gleichzeitig eine Richtung gab. Er schnaufte. „Wie du willst“, nickte er Zustimmung. „Der nächste Geist war Okka“, fing er ohne Umschweife an. „Er war ein Fernschweifdrache, der sich in jeder anderen Gestalt zeigte, nur nicht als Drache.“