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Vierter Abschnitt "Okka"


Okka

„Mein Gedanke ist, dass wir uns gegenseitig einander vorstellen. Erst erzähle ich etwas von mir, dann du von dir, dann erzählt dein Begleiter etwas über sich, wenn er will“, sagte Okka. Der Mensch war ihm an und für sich egal. Aber weil sie ein Paar waren, war es unhöflich, ihn auszuschließen. Der Werwolf hingegen war ... anders. Die beiden saßen ihm in der Schänke gegenüber, in der er gerne abstieg, um interessante Leute kennenzulernen. Sie hoben ein Bier und tranken auf das Trinken des Gesöffs. An dem Menschlein war nichts Bemerkenswertes, er war langweilig. Aber der Werwolf, der in menschlicher Gestalt auf der Bank saß, flimmerte. Nur deshalb hatte Okka die beiden angesprochen. Er sah grob aus. Seine Kleidung war bescheiden und aus dunkelblauem Leinen gefertigt, sie sah an ihm falsch aus. Er hatte ein markantes Kinn, meerblaue Augen, schwarze, etwas längere Haare bis über die Ohren, die zu den Spitzen hin grau wurden. Eine ausdrucksstarke Nase, einen großen Mund, breite Schultern, und ein Körperbau, der darauf hinwies, dass er oft körperlichen Anstrengungen nachging. Bei seiner Größe hatte er sich aber vergriffen. In dieser Gestalt zeigte er sich kleiner, als sein Partner, der selbst nur durchschnittlich groß war. Wie gerne hätte er ihn in Werwolfgestalt betrachtet. So erahnte er jene nur durch das Flimmern, das sie unzureichend in, um, hinter und vor ihm in der Alternative zeigte. Er war überrascht, einem sterblichen Wesen zu begegnen, das so viele hatte. Wusste er überhaupt von ihr? Vermutlich nicht. Wie die meisten Sterblichen hatte er keine oder nur geringe Ahnung von den Divergenzen, die ihn umgaben. Was das anbelangte, waren Drachen die Einzigen, die andere Zeitrealitäten betrachteten.

Er sah ihn interessiert an und lehnte sich vor. „Na gut, machen wir es so“, antwortete er. Sein linkes Auge floh leicht nach oben, er war angeschwipst und hatte die Kontrolle darüber verloren. Okka fand es immer wieder niedlich, wie wenig Alkohol Sterbliche vertrugen. Sein Begleiter atmete genervt aus. „Na, toll. Also schön, ich spiele mit“, sagte der. „Fabelhaft!“, rief Okka und klatschte in die Hände. Für dieses Mal hatte er eine menschliche Existenz angenommen, obwohl sie langsam abgenutzt war. „Dann fange ich gleich an. In diesem Leben bin ich Okka, und wie ihr seht, ziemlich abgehalftert und verbraucht. Die Halbglatze ließ sich nicht vermeiden. Oder die Falten und schlechten Zähne. Aber das ändert sich bald, dann wechsle ich zu einer anderen Existenz. 46 Sommer als Mensch sind genug.“ Sie sahen ihn versteinert an. „Bevor irgendwelche Fragen dazu aufkommen: Ich bin ein Fernschweifdrache.“ Jetzt starrten sie. Das passierte jedes Mal, wenn er jemandem die Wahrheit sagte. Fernschweifdrachen galten unter ihnen als Legende in alten Sagen und Mythen. Sie hatten keine Ahnung, dass die meisten in der ein oder anderen Form weiterhin seit Jahrtausenden unter ihnen lebten. „Jetzt bist du dran“, forderte er. Sein Gegenüber räusperte sich. „Mein Name ich Wulfiga“, sagte er und klapperte mit den Kiefern. „Ich bin ein -“ er senkte die Stimme - „Werwolf“, flüsterte er. „Ich bin 32 Sommer alt.“ Mehr nicht. Okka war ein wenig enttäuscht, obwohl er das erwartet hatte. Am Anfang waren sie alle versteift. Etwas Alkohol lockerte seine Zungen und vielleicht weiteres. „Ich heiße Vlooriean“, sagte der Mensch, dessen Stimme Okka als unangenehm quakend empfand. Innerlich verdrehte er die Augen, nach außen lächelte er den Nervbolzen an. „33 Sommer, Mensch“, sagte der kurz angebunden.

Das wurde lustig. „Wunderbar. Schön, euch kennenzulernen“, begrüßte Okka sie erneut. „Und ja, ich sage er nochmal: Ich bin ein Fernschweifdrache. Aber ich bin nicht so alt, wie eure Geschichten vermuten lassen. Keiner von uns ist das.“ Die beiden sahen ihn verunsichert an und versuchten einzuschätzen, ob er sie belog. Er sog ungeduldig Luft durch die Zähne ein. „Wisst ihr was? Hier, ich beweise es euch“, sagte er, schnappte sich ein Besteckmesser und ritzte die Haut seines kleinen Fingers der linken Hand sanft ab. Der hervortretende Blutstropfen schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Vlooriean hielt die Luft an, Wulfiga sah nicht so überrascht aus. Eher erleichtert. Wie ungewöhnlich. „Kann dein Blut ... kannst du damit -“ - „Steine in Diamanten verwandeln?“, vollendete Okka den Satz. „Ja, das geht. Aber nicht nur mit Steinen.“ Er zeigte ihm das Messer. Die Klinge hatte sich auskristallisiert, als sie mit seinem Blut in Berührung gekommen war. Jetzt war sie so viel wert, wie die Schänke, in der sie saßen. „Aber, bitte, macht keine große Sache draus. Sonst muss ich schneller die Gestalt wechseln, als ich vorhatte.“ Er suchte Wulfigas Blick, der auf seine Aufmerksamkeit gewartet hatte. „Was machst du hier?“, fragte er. Okka schmunzelte. Seine Fragen waren so blöde wie einfach und offen. Er fragte alles und nichts, anstatt konkret anzusprechen, was ihn interessierte. „Ich habe gesagt, ich bin nicht alt. Aber alt genug, um zu verstehen, dass du etwas anderes wissen willst, bin ich doch. Schätze mich nicht gering, mein Bester“, entgegnete er also. Ja, er war ein hochmütiger Drache, was er andere spüren ließ, wenn sie ihn für dumm verkauften. Die Wirkung seiner Worte war durchschlagend. „Entschuldige“, sagte Wulfiga kleinlaut. „Angenommen“, erwiderte Okka. So schnell war das Thema erledigt. Dafür liebte er die Sterblichen. Sie hielten sich mit unwichtigen Dingen nicht lange auf. Bei ihrer kurzen Lebenszeit nicht überraschend. „Ich komplettiere deine Frage: Was macht ein Fernschweifdrache hier in einer heruntergekommenen Schänke, in der sich nur Idioten oder arme Leute, wie ihr beide, blicken lassen?“ – „Das trifft es auf den Punkt“, meinte Vlooriean. Wulfiga sagte nichts mit Worten, dafür sprach sein Blick deutlich. Fasziniert stellte Okka fest, wie seine Augenfarbe sich veränderte. Von sanftem Blau in Magenta. Einen Moment lang verfestigte sich das Flimmern um ihn herum und wurde synchron mit dessen Hier und Jetzt. Ungeheuerlich! Alle seine Zeitebenen hatten sich einen kurzen Augenblick an einem einzigen Punkt getroffen. Darüber vergaß Okka fast die Frage, bis Wulfigas Flimmern wieder einsetzte und seine Iris zurück zu Blau wechselte. „Ach, wisst ihr, jemand wie ich langweilt sich. Ich bin quasi unsterblich und omnipräsent, wenn ich will. Und weil meinesgleichen schlechte Gesellschaft ist - die anderen sind verbohrt bis zum Rausch - suche ich mir interessante Personen, mit denen ich quatsche. Meistens enttäuschen sie mich, dann muss ich sie fressen, damit sie meine Identität nicht aufdecken“, erklärte er und sah Vlooriean an. „Du bist so einer. Du bist einschläfernd, geisttötend und stumpfsinnig. So, wie die meisten hier.“ Vlooriean verdrehte die Augen. „Na, danke, Arschloch“, sagte er. „Wirst du mich jetzt auch fressen?“ Okka verneinte. „Nein. Wenn ich es wollte, hätte ich es schon längst getan. Zumal ich dich nicht herkömmlich verschlinge, wie du es dir vorstellst. Stattdessen hätte ich dich aus der nächsten Alternative getilgt und deinen Geist aufgenommen. Dann wärst du weg, ohne dass Wulfiga es überhaupt bemerkt hätte.“ - „Aha“, erwiderte Vlooriean tonlos. „Wenn ich dich nerve, setze ich mich an einen anderen Tisch. Ist das besser?“ Okka überlegte kurz. „Nein, nicht nötig. Mit deiner Gesellschaft ist er redseliger, denke ich“, sagte er und sah zu Wulfiga. „Er ist überhaupt der Grund, weshalb ich mich mit euch abgebe. Nach Leuten wie ihm suche ich.“ Wulfiga zog die Stirn in Falten. „Wieso nach mir?“ Okka hob den Finger. „Na, na! Jetzt seid ihr wieder dran. Was macht ihr hier? Außer trinken, versteht sich.“ Sie sagten nichts. Obwohl unterhaltsam, waren sie doch begriffsstutzig. „Ich konkretisiere die Frage. Ihr seid hier auf der Durchreise. Wohin? Was ist euer Ziel?“ Vlooriean atmete schwer ein und aus. „Ich folge ihm“, sagte er und legte seine auf Wulfigas Hand. „Wo immer er hingeht, gehe ich auch hin. Es sieht nicht so aus, aber wir lieben uns.“ - „Ach, mein Junge, hör auf von Liebe zu sprechen. Ihr seid beide viel zu jung, um nur im Ansatz zu verstehen, was das bedeutet“, sagte Okka. „Das, was du Liebe nennst, ist für euch in Wahrheit nichts anderes als ein bisschen mehr Zuneigung gepaart mit Sex.“ - „Willst du unsere Antworten hören, oder nicht?“, entgegnete Vlooriean pikiert und stierte ihn an. „Bitte, entschuldige. Die meisten meiner Art haben ihre Manieren mit der Zeit verloren. Das ist eins unserer wenigen Defizite. Natürlich will ich sie hören“, beschwichtige er sogleich. Herrje, da war jemand dünnhäutig. Vlooriean war offensichtlich nicht überzeugt von seiner Ehrlichkeit und trommelte abschätzig mit den Fingern auf dem Tisch. „Jedenfalls, ich folge ihm. Er ist mein Ziel, sonst habe ich nichts“, sagte er. Okka nickte und sah zu Wulfiga. „Ich bin auf der Suche“, antwortete der. „Ich weiß noch nicht, auf was, ich verfolge eine Spur, die ich gefunden habe.“ - „Oho! Das klingt abwechslungsreich. Wie eine Jagd, oder?“ Wulfiga sah kurz zur Tischplatte. „Es ist auch eine.“ Er nahm seinen Holzbecher mit Bier und kippte den Inhalt in einem runter. Dann blickte er ins Leere. „Du haderst mit deiner Suche?“, fragte Okka. Wulfiga schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mit der Suche. Ich hadere damit, was ich vorher angerichtet habe.“ Sie schwiegen einen Augenblick. Okka blieb geduldig, er nahm Notiz davon, wie sein Kinn zuckte, so als weinte er gleich. Als er weiterhin nichts sagte, sah er zu Vlooriean. „Er fühlt sich schuldig, weil er ... jemanden zurücklassen musste“, sagte der vorsichtig. „Und durch die Suche, mache ich wieder gut, was ich kaputt gemacht habe“, fuhr Wulfiga fort. Okka verschränkte nachdenklich die Arme. „So viel kann das nicht sein“, meinte er, was ihm verwunderte Blicke einbrachte. Die flimmernde Präsenz um ihn herum spitzte ihre Werwolfsohren. „Jemanden kaputtzumachen, ist nur möglich, wenn er es zulässt. Wen immer du zurückgelassen hast, wollte zerbrochen werden.“ Okka sah zwischen den beiden hin und her. Sein Blick blieb auf Vlooriean haften. Oder eher auf dem, was an seiner Stelle hätte sein können. Eine Alternative zeigte eine leere Bank, auf der nur Wulfiga ihm gegenüber saß. Eine andere, deutlichere einen Menschen, kleiner und jung, kaum erwachsen, der neben ihm saß und seine Hand hielt, wie Vlooriean es gerade tat. Vermutlich die Person, die er zurückgelassen hatte. Eine dritte zeigte sie alle drei, aber nicht an diesem Tisch, sondern entfernt auf der anderen Seite des Schankraums, wie sie miteinander stritten. Hätte Wulfiga eine andere Entscheidung getroffen, wäre Okka dem Jüngling begegnet, oder keinem von ihnen. In allen Alternativen war sein Gemüt gedrückt und er besoff sich.

Wulfiga zeigte sich misstrauisch gegenüber seinen Worten. „Drache hin oder her. Über meine Gefühle weißt du nichts. So allmächtig du bist, in mich hineinsehen gelingt dir nicht“, sagte er. Es waren nicht seine Worte, die Okka ärgerten und herausforderten, sondern die Überzeugung, die in ihnen lag, sowie die schlichte Wahrheit, die er aussprach. Es stimmte, er wusste nichts über seine Gefühlswelt, und er verstand den deutlichen Hinweis, dass Wulfiga von ihm nicht analysiert werden wollte. Ohne dass er es bemerkt hatte, hatte der Werwolf das verbale Tauziehen zwischen ihnen durchschaut und das Seil durchgeschnitten. Diese widerliche, stinkende Flohsammlung. Da hatte er Spaß und seine Subjekte der Abwechslung vermiesten ihm das. Okka winkte ab. „Du hast recht. Ich habe nur fast achttausend Jahre mehr Lebenserfahrung, nach eurer Zeitrechnung. Das zählt nichts“, sagte er und lächelte. „Vielleicht drehen wir das Spiel für eine Weile um“, schlug Vlooriean vor. Okka sah ihn an. „Ja, gerne! Was schwebt dir vor?“ - „Dass wir mit den Fragen anfangen“, sagte er. Okka nickte. „Du meinst, weil ich bisher das Thema vorgab? Meinetwegen.“ Vlooriean sah Wulfiga an, der dessen Blick erwiderte. „Gut, aber vorher ...“ Er beendete den Satz nicht, kletterte auf den Tisch, und gerade als Okka sich fragte, was er vorhatte - zog Vlooriean seine Hose herunter und schiss ihm auf den Teller, auf dem ein paar Reste des Abendessens lagen. Okka verzog angeekelt die Miene. Nicht nur er sah ihn verstört an, sobald er sich wieder setzte. Jede Person im Raum, die die Szene bemerkte, starrten her. „Was sollte das denn?“, fragte Wulfiga. Vlooriean zuckte mit den Schultern. „Ein Ausdruck meines Respekts einem freundlichen Gesprächspartner gegenüber.“ Kotgeruch verbreitete sich. „Ist das Unerwartete nicht das, was du willst?“, fragte er Okka provozierend. Der stellte sich vor, wie er ihn nicht nur aus der Zeit tilgte, sondern jeden Beweis seiner oder der Existenz seiner Familie auslöschte. „Durchaus. Aber unerwartet handeln um der Unerwartung Willen ist ideenlos und flach. An meiner Meinung über dich hat sich nichts verändert“, sagte er. „Du siehst ja, selbst Wulfiga lehnt sich angeekelt weg.“ Vlooriean, bisher ohne große Emotionen in Mimik und Gestik, grinste frech. Mittlerweile rochen alle in der Schänke den stinkenden Stuhlgang. Der Wirt stapfte geräuschvoll her. „Gibt’s Probleme?“, fragte er barsch, das Gesicht völlig verzogen, an Okka gerichtet. „Nein, mein Bester, der Jungspund hatte Druck.“ Der Wirt sah zuerst Wulfiga, dann Vlooriean vernichtend an und sagte: „Deine Scheiße bringst du selber raus, klar? Jetzt! Wenn nicht, wirst du fettes Stück mich kennenlernen.“ Darüber war Vlooriean wiederum nicht begeistert. Er erhob sich schweigend und ohne Ausdruck im Gesicht, schubste den protestierenden Wirt zur Seite und nahm Okkas Teller, den er nach draußen brachte, ohne allzu schnell zurückzukommen. Die Gemüter beruhigten sich. „Beim nächsten Mal schmeiß ich euch raus“, drohte der Wirt und ging geräuschvoll wieder hinter die Schanktheke, wo er sich mit zwei Alligatonen unterhielt, die abfällig in ihre Richtung sahen und über sie lästerten. Okka schnalzte langgezogen. „Dein Liebchen braucht etwas länger, wie es aussieht. Wollen wir weitermachen?“, fragte er. Wulfiga hatte seinen Becher erhoben, den dritten an diesem Abend, um daran zu süffeln. Er stellte ihn ab, hob langsam den Blick und grollte aus tiefer Kehle. Dabei zuckten seine Lippen und entblößten die nichtmenschlichen Eckzähne. Werwölfe nahmen zwar eine menschliche Erscheinung an, aber nicht jedes Detail. Ihre Augenfarbe blieb von der Transformation unberührt, ebenso sahen ihre Zähne anders aus, als die echter Menschen. Auch ihre Geschlechtsteile hatten eine eher wölfische Form. Und ihre Fingernägel erinnerten weiterhin an Krallen. „Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte Okka. „Er ist nicht mein Liebchen, er ist mein Partner und ein Teil von mir.“ Okka fuhr mit der Zunge über seine spröden Lippen. „Eine interessante Wortwahl. Ein Teil von dir...“, wiederholte er und sinnierte über die gesagten Worte. Ein Teil von etwas sein, implizierte, dass etwas oder jemand durch eine Verbindung untrennbar mit etwas anderem verbunden war, so wie der Arm eines Körpers. Aber Vlooriean war kein geistiger Zombie, sondern weiterhin ein - obwohl störendes - Individuum. Okka kam zu dem Schluss, dass Wulfiga sich entweder verplappert hatte über einen Verhalt, den er verbarg, oder dass er bewusst platzierte, was er sagte, angetrunken hin oder her. Ein solches Detail, ohne Hintergedanken, erwähnte man nicht im normalen Gespräch. Er entschloss sich, nicht direkt darauf einzugehen, der Unterhaltung ihren Lauf zu lassen und die Alternativen aufmerksam zu observieren.

„Warum Fernschweifdrachen?“ Okka richtete den Blick und blinzelte. „Wie bitte?“ - „Eure Rasse. Warum heißt ihr Fernschweifdrachen?“, fragte Wulfiga. Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Was sollte die beknackte Frage? „Den Namen haben wir durch unsere langen Schweife erhalten, die selbst dann gut zu sehen sind, wenn wir hunderte und tausende Meter über der Erde durch die Luft gleiten“, antwortete er und verdrehte die Augen. „Aber was ist der wirkliche Grund?“, hakte Wulfiga nach und wurde erneut für einen Moment synchron. Er überraschte Okka schon zum dritten Mal, seit sie miteinander sprachen. „Die Erklärung ist so simpel wie andersartig“, hob er an. „In der alten Welt haben wir uns den Sterblichen noch oft in unserer natürlichen Form gezeigt. Wenn wir durch die Himmel der Welt schwammen, schlugen wir Wellen in Raum und Zeit - das machen wir immer noch. Die Völker, die auf dem Boden lebten, erhaschten dadurch einen kurzen Blick auf andere Welten oder ihre eigene im Spiegel, manchmal sahen sie fremde Galaxien aus nächster Nähe. Das nannten sie die ‚Ferne‘. Weil sie glaubten, dass unsere Schweife dafür verantwortlich sind, gaben sie uns den Namen ‚Drachen mit Schweifen aus der Ferne‘. Oder eben kurz: Fernschweifdrachen. Du siehst, die Leute früher waren um einiges kreativer und begeisterungsfähiger als heute“, erzählte Okka und schwelgte mit einem leichten Lächeln in Erinnerungen. „Das waren wundervolle Zeiten.“

Wulfiga legte den Kopf schief. „Hört sich für mich an, wie eine Lüge“, urteilte er niederschmetternd. Okkas Augen wurden groß. Wie war es möglich, dass er sich innerhalb so kurzer Zeit über die Worte eines Wolfjungen ärgerte? Er verbarg seine Gereiztheit hinter einer gelösten Schauspielermiene. „Warum eine Lüge?“, erwiderte er. Wulfiga zuckte mit dem Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber es klingt erfunden. Wenn du doch die Wahrheit gesagt hast, hast du sie ausgeschmückt.“ Zwischen ihnen entstand ein unangenehmes Schweigen. Okka kicherte. „Stimmt. Das habe ich. Aber was wahr ist, und was nicht, ist gleich. Denn außer andere meiner Art und mir erinnert sich ohnehin niemand mehr an die Bedeutung unseres Namens. Es ist irrelevant geworden.“ - „Habe ich was verpasst?“, fragte eine quakende Stimme rechts hinter ihm. Okka wandte sich langsam um. Vlooriean. Sein Gesicht war gerötet und aufgedunsen. Er hatte geweint. „Perfekt! Jetzt bin ich wieder an der Reihe“, sagte er und grinste die beiden an. „Nein, stimmt nicht“, widersprach Wulfiga. „Vlooriean ist dran.“ Er wies ihn an, sich wieder neben ihn zu setzen. Dabei hauchte er ihm einen Kuss auf die Wange. Sie sahen einander an, zum ersten Mal hatte Okka den Eindruck, dass sie zusammengehörten. Wie naiv und unschuldig war doch die Hingezogenheit zu einem anderen Wesen in unerfahrenen Jahren. Er stützte den Kopf mit den Händen auf dem Tisch ab und dachte wehmütig an seine eigenen verflossenen Liebschaften zurück.

Die erste mit einer Fernschweifdrachin, eine intensive Beziehung, die viele Epochen Bestand hatte. Sie hatten sich getrennt, bevor die erste Lüge ihre Vertrautheit verdarb. Die Zweite hatte er mit einem Erddrachen. Andere Drachenarten waren für ihn stupide und vergleichsweise zurückgeblieben. Das Verhältnis war dasselbe, wie das zwischen Menschen und Menschenaffen, oder Werwölfen und Wölfen, Alligatonen und Sumpfalligatoren, und so weiter. Aber die Beziehung war beständiger als erwartet. Okka war in dieser Zeit das gewesen, was man vermeintlich glücklich nannte. Sie endete, als sein Partner an Altersschwäche starb. Andere Drachenarten waren nicht unsterblich, nur langlebig. Alle Beziehungen danach hatte er mit kurzlebigen Sterblichen gehabt, die nicht älter als zweihundert Jahre alt wurden. Aber eine echte Liebe hatte sich nicht mehr entwickelt, der Zugang zu ihr war abgestumpft. Nur Körperlichkeiten, mehr nicht. Die meisten seiner Partnerinnen und Partner waren zufrieden damit gewesen, andere hatten ihn verlassen, wenige sich aus Kummer das Leben genommen, was er als infantiles Verhalten abgetan hatte. Umso neidischer war er, als er Wulfiga und Vlooriean betrachtete. Sie zeigten ihre Zuneigung ohne Worte, ohne größere Gestik, nur durch Augenkontakt. Das hätte er gerne wieder. Innerlich blutete sein Herz sehnsuchtsvoll.

Er wusch die sentimentalen Gedanken zur Seite, sie lenkten nur ab. „Was willst du wissen, mein quakender Freund?“, fragte er und stichelte gleich wieder los. Vlooriean warf ihm missbilligende Blicke zu und sagte: „Haben wir genug vorgeplänkelt? Wann kommen wir zu den richtigen Fragen?“ - „Die richtigen Fragen? Oder die wichtigen Fragen?“ - „Beides“, antwortete er. Okka hob die Arme und spielte den Ratlosen. „Für mich sind alle Fragen richtig und wichtig, obwohl ich mir vorstellen kann, auf was du hinaus willst.“ - „Und das wäre?“ Okka lachte auf, verstummte und wurde dann abrupt ernst. „Nein, so leicht lockst du mich nicht aus der Reserve. Stell die Fragen, dann erhältst du die Antworten. Sind sie falsch, bekommst du nichts.“ Vlooriean sah Wulfiga verunsichert an. „Nur zu“, meinte der und nickte. „Wir haben ein Traumtagebuch“, sagte er, Okka horchte auf, ließ sich aber seine Überraschung nicht anmerken. Ein Traumtagebuch! Das änderte einiges. „Darin stehen ... Dinge“, fuhr Vlooriean fort. „Dinge, die du nicht verstehst, habe ich recht?“, ergänzte Okka. Es gab nur eine Hand voll Spezies, die sich nach dem Schlaf an ihre Träume erinnerten. Drachen, wie er, mehrere Tierarten, die der Sprache nicht mächtig waren, und Menschen. Letztere mussten dafür lange üben und waren entsprechend selten. Was keiner wusste, mit Ausnahme seines Volkes: Solche Werke waren Artefakte. Wie einflussreich sie waren, hing davon ab, von wem sie geschrieben wurden und wer ihre Texte in einen sinnvollen Zusammenhang brachte. Sie waren ein Grund, weshalb sich Fernschweifdrachen nie vollends aus der Welt zurückgezogen hatten. Vlooriean nickte betreten. Okka lehnte sich mit beiden Armen auf den Tisch und faltete die Hände. „Bevor ich euch etwas darüber sage, will ich wissen, wer es geschrieben hat“, sagte er hart und kompromisslos. „Du etwa?“, fragte er an Vlooriean gerichtet. Der schüttelte vehement den Kopf. „Nein.“ - „Nicht verwunderlich. Du bist kein reiner Mensch.“ Vlooriean zuckte zurück. „Woher weißt du davon?“ Selbst Wulfiga schien verblüfft. „Spielt nicht dümmer, als ihr seid. Das steht euch nicht“, entgegnete er. „Von wem ist es? Wer hat es geschrieben und euch überlassen?“ Wulfiga legte die Augenbrauen schief. „Warum ist es so wichtig für dich, das zu wissen?“ - „Das kann dir gleich sein.“ - „Nein, ich denke nicht“, entgegnete er entschieden. Okka schüttelte den Kopf und lachte dumpf in sich hinein. „Ich erzähle dir jetzt etwas, kleiner Werwolf. Du bist nicht mehr als ein Staubkorn für mich, verstehst du?“ Wulfiga blieb stur. Vlooriean wusste offensichtlich nicht, wie er reagieren sollte und schwieg. „Ich kann nicht nur Dinge in Gold verwandeln, sondern habe Einblick und Einfluss in andere Welten und Realitäten. Dazu gehören auch Parallelrealitäten, die so sind wie unsere, aber leicht anders aussehen. In jeder existiert ein Gegenstück zu uns. Wir Fernschweifdrachen existieren in allen mit einem einzigen Bewusstsein gleichzeitig, weshalb wir Einfluss auf jede einzelne Realität nehmen können. Wenn wir es wagen, hat das Einfluss auf alle anderen Realitäten. Sie hängen miteinander zusammen und befinden sich im Storm, haben Wechselwirkungen.“ - „Was willst du sagen, Okka?“, fragte Wulfiga, seine Augen wurden Magentarot. „Seht euch um. Ist dir nichts aufgefallen?“ Zögerlich wandten sie ihre Blicke hin und her. Vlooriean sog erschrocken die Luft ein. Die Schänke war leer. Außer ihnen war keiner mehr da. Die Möbel sahen verlottert aus, als habe schon sein Jahren niemand mehr daran gesessen oder hinter der Schanktheke gearbeitet. Ihre entsetzten Blicke richteten sich zurück auf Okka. „Ich habe die Realität verändert. In dieser ist der Wirt der Schänke vor acht Jahren gestorben. Dasselbe kann ich mit euch machen. Eine Warnung. Sag mir, von dem du das Tagebuch hast“, forderte Okka. Wulfiga sah ihn finster an. „Wulf, vielleicht ist es besser -“, fing Vlooriean an. „Nein, ist es nicht“, erwiderte der entschieden. „Ich sage dir nichts.“ Okka fand es abwechslungsreich, wie vehement er die Identität des Autors schützte. „Es gibt andere Möglichkeiten, wie ich dich davon überzeuge, mir den Namen zu nennen“, sagte er. Keine Antwort. Er seufzte. „Wie du meinst.“ Er sah von Wulfiga zu Vlooriean, dem gar nicht mehr wohl zumute war. „Weißt du wie es aussieht, wenn jemand erstickt?“, fragte er niederträchtig. „Zum Beispiel, weil er keine Lunge mehr hat?“ Kaum hatte er den Satz beendet, fasste Vlooriean sich an den Hals und auf die Brust, würgte stimmlos und versuchte verzweifelt zu atmen. Panisch sprang er auf, stolperte über die Bank und fiel hinterrücks zu Boden, wo er kauerte und um sich schlug. Wulfiga stand ihm sofort bei. „Was hast du getan?!“, bellte er. „Hast du nicht zugehört? Er hat keine Lunge mehr“, sagte Okka. An Vlooriean: „An deiner Stelle würde ich mich nicht bewegen. Umso schneller geht dir der Rest Luft aus, die du noch im Körper hast.“ Wulfiga stürmte zu ihm, packte ihn an den Schultern und hob ihn ohne Anstrengung hoch. „Mach es rückgängig!“, keifte er. „Sonst reiße ich dir den Kopf ab!“ Okka lachte ihn aus. „Wie willst du das machen, wenn du dich vor Schmerzen wegen eines Magengeschwüres auf dem Boden krümmst und Blut kotzt?“ Wulfiga strauchelte, ließ ihn los und sank stöhnend in sich zusammen, hielt sich schmerzvoll den Bauch und spuckte mit Geifer vermischtes Blut auf seine Beine. Okka stellte sich wie ein Herrscher vor ihn. „Nenn mir den Namen. Sonst werdet ihr sterben. Qualvoll. Dann, wenn ihr tot seid, werde ich die Realität ändern, sodass ihr wieder lebt, und von vorne beginnen.“ Wulfiga sah zu ihm empor, dann zu Vlooriean, dessen Augen aus seinem Schädel hervorquollen. Kaum bei Bewusstsein zuckte er nur noch. Bald war es zu spät. Er nickte, ihm blieb keine Wahl. „Nein, nicht so“, sagte Okka. „Erst der Name.“ Wulfiga röchelte und spuckte Blut, seine Stimme versagte, die Schmerzen waren unerträglich. Okka hatte ihm ein Geschwür geschenkt, das seinen gesamten Magen ausfüllte. Keiner lebte lange genug, damit eins soweit anwuchs. Vorher starb derjenige. Er kniete nieder. „Flüstere es mir ins Ohr“, sagte er und lehnte sich weit vor. Wulfiga hob den Kopf. Okkas Herz sprang aufgeregt in seiner Brust. Er suchte Wulfigas Blick. Hoffte, die Lüge darin zu finden. Er sagte die Wahrheit. „ ... oddi Dynyol“, wiederholte Okka flüsternd. Er hatte nicht damit gerechnet, dass noch Nachfahren lebten. Seines Wissens nach waren die Dynyols ausgestorben. Aber scheinbar hatte ein kleiner Zweig überlebt und einen neuen Stammbaum begründet.

Wulfiga brach zusammen.

Ein Blinzeln, und sie saßen wieder am Tisch. Um sie herum murmelnde Gespräche, unterbrochen von überkommenen Gelächter dämlicher Männerwitze. Vlooriean keuchte, sah sich gehetzt um. Alles war wieder normal. Er atmete tief ein, so als befüllte die Luft das erste Mal seine Lungen in diesem Leben. Gewissermaßen entsprach das der Wahrheit. Wulfiga tastete seinen Bauch ab und strich über sein Kinn. „War das eine Illusion?“, fragte er. Okka sah ihn entgeistert an. „Das fragst du mich, nachdem ihr fast verreckt seid? Keine Illusion ist so täuschend echt, dass sie Schmerzen und Luftnot hervorruft.“ Er atmete aus. „Du bist schwerer von Begriff, als es den Anschein hat. Du zweifelst an Tatsachen, die du am eigenen Leib gespürt hast.“ Wulfiga verzog das Gesicht und fixierte ihn. „Sinne lassen sich leicht täuschen. Es reicht, uns etwas ins Bier zu geben“, wandte er ein. „Das ist die typische Vorgehensweise eines Sterblichen. Nur euresgleichen kommt auf solche Ideen.“ Er wedelte mit der Hand. „Ist auch egal. Du hast mir den Namen genannt. Ich halte mein Versprechen. Zeigt mir, was ihr habt, dann helfe ich euch, es zu verstehen.“ - „Es war nie die Rede davon, dass du es zu Gesicht bekommst“, sagte Vlooriean. Okka lächelte schief. „Wie soll ich euch dann helfen?“ Langsam nervte ihn die Kurzsichtigkeit der beiden. „Es hilft uns schon, wenn uns erklärst, was es damit auf sich hat“, meinte Wulfiga, dessen Wangen zuckten. Okka legte den Kopf in den Nacken. „Also der übliche Allgemeinkram. Bitte, wenn ihr es wünscht. Aber das alleine bringt euch nichts.“ - „Das entscheiden eher doch wir“, entgegnete Vlooriean unerwartet selbstsicher. Dafür, dass sie beide eben fast gestorben waren, zeigten sie sich überaus dreist. „Was wisst ihr über Träume?“, fragte er und stellte sie auf die Probe. „Darüber habe ich nie viel nachgedacht“, sagte Wulfiga kopfschüttelnd und suchte Vlooriean Rat. „Verwirrend“, antwortete der. „Meistens neblig. Ich weiß danach nicht, was ich träumte, aber es fühlt sich oft täuschend echt an. Die Gefühle alleine bleiben zurück.“ Okka schnalzte. „Du liebes Bisschen, ihr habt ja gar keine Ahnung“, urteilte er, hatte aber ohnehin nichts erwartet. „Dass Träume mehr als nur ein flüchtiges Gefühl sind, die der Schlaf hinterlässt, dürfte euch seit eben jedenfalls klar sein“, meinte er. „Aber was verbirgt sich hinter ihnen? Dazu müsst ihr erstmal verstehen, was ein Traum ist. Er entführt euren Geist in euch selbst hinein und erschafft eine Welt für euch, in der ihr erlebt, entdeckt, euch selbst kennenlernt. Jeder Aspekt in einem Traum spiegelt euch selbst wider. Klingt einfach und ist leicht verständlich, oder?“, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Wulfigas Augen sagten das, was Vlooriean sich zu fragen traute. „Aber da ist noch mehr?“ Okka verzog den Mund, sah ihn an und frotzelte: „Was eine rhetorische Frage ist, hat dir keiner gesagt, wie ich feststelle. Natürlich ist da mehr!“ Er rieb sich die Schläfe. „Träume sind Einblicke. Nicht nur in euch selbst, sondern in andere Realitäten. Wenn ihr sie beeinflussen könntet, würdet ihr andere Realitäten verändern, Alternativen ermöglichen, die sonst nicht existieren. Aber da hört es noch nicht auf. Denn Träume sind eigene Realitäten. Jedes träumende Wesen ist ein Weltenschöpfer, ein Demiurg. In dem Moment, in dem ihr träumt, entsteht ein neues Universum irgendwo da draußen. Die meisten sind rudimentär und zerfallen, wenn der Träumer aufwacht. In ihnen existiert das Leben nur solange, wie ihr schlaft“, erläuterte er und sah sich befremdlichen Blicken ausgesetzt. Ihre Einbildungskraft war nicht groß genug, als dass sie sich vorstellten, was er sagte. „Und hier der Unterschied zwischen euch und den Menschen: Dadurch, dass sie sich an ihre Träume erinnern, nehmen sie das Wissen über andere Realitäten in ihre wache Existenz mit. Manche lernen, dieselben Traumrealitäten mehrmals aufzusuchen. Dadurch ermöglichen sie die Schöpfung konstanter Universen, die weiterbestehen, selbst wenn sie nicht mehr schlafen. Ihnen fehlt eine Barriere, die die Natur euch auferlegt hat, und die ihr niemals umgehen oder zu durchbrechen in der Lage sein werdet. Neben uns Fernschweifdrachen macht sie das zu personifizierten Gewalten.“ Wulfiga schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nur wenig davon“, sagte er. Vlooriean wandte aufgeregt ein: „Wenn sie solche Macht haben, warum wissen und merken wir nichts davon? Warum beeinflussen sie unsere Welt dann nicht?“ Ausnahmsweise stellte der Dümmere von beiden die gescheiten Fragen. „Zu deiner ersten Frage: Du bist Teil dieser Welt. Ich zwar auch, aber ich kann sie von außen beobachten und beeinflussen, wenn ich will.“ - „Doch alle, die in ihr leben nicht. Sie wissen nicht, dass sich etwas verändert hat“, sagte Wulfiga. „Wie schön, du denkst mit! Ja, so ist es. Nur Außenstehende sehen die Veränderungen, so wie ihr eben, als wir in der leeren Schänke waren. Da habe ich euch mitgenommen, deshalb konntet ihr die Wandlung sehen. Das führt uns zur Antwort auf deine zweite Frage“, sagte Okka und lehnte sich verschwörerisch zu Vlooriean. „Woher weißt du denn, dass die Menschen die Welt nicht beeinflussen?“ Der setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich selbst, dachte kurz nach und schüttelte ratlos den Kopf. „Sie tun es ständig“, fuhr Okka fort. „Sie wissen nichts von ihrem Einfluss, aber sie nutzen ihn trotzdem. Sie erklären sich das, indem sie behaupten, ihre Ideen und Einfälle kommen ihnen ‚im Schlaf‘. Also durch Träume, über die sie in Wahrheit die Realität um sich herum transformieren. Warum sind sie wohl die dominierende Spezies unserer Welt, obwohl sie anderen Völkern allein schon zahlenmäßig deutlich unterlegen sind?“

Er unterbrach sich. Es gäbe viel mehr darüber zu sagen, denn es war ein für seinesgleichen interessantes wie überlebenswichtiges Thema. Doch es lag jenseits ihres Verständnisvermögens. Vor allem, weil er sie ins kalte Wasser schmiss. Er gab ihnen etwas Zeit, damit sie ihre Gedanken ordneten. Er nutzte die Minuten, um ihre Krüge beim Schankwirt auffüllen zu lassen. „Wann gehen deine Freunde? Die verbreiten schlechte Stimmung“, moserte der, als er ihm die vollen Bierkrüge überreichte. „Das kann noch etwas dauern, mein Bester. Ich habe sie eingeladen und eben eine Wette verloren. Freibier, so viel sie trinken können“, log er. Der Wirt horchte auf. „Na, wenigstens klingelt dann meine Kasse.“ Okka nickte zweimal und scharwenzelte zurück zu ihrem Tisch. Dabei nickte er den beiden grob aussehenden Alligatonen neckisch zu, die von seiner Geste nichts zu halten wussten, und ihn wie zwei kaputte Kutschen ansahen. „Wie sieht es aus?“, fragte er und stellte Wulfiga und Vlooriean das Bier hin. Letzterer nahm seinen Krug und trank ihn sofort in einem leer. Danach schob er ihn Okka wieder zu, nahm Wulfigas Krug und kippte auch den zur Hälfte weg. Weil er nicht so sein wollte, holte Okka Nachschub. Vier Krüge, einen neuen für Wulfiga und je einen weiteren für später. Dann setzte er sich wieder und nippte an dem Bier, das er seit zwanzig hier Jahren trank. Es war wässrig und je nach Fass nicht ausgereift gegoren. Manchmal schmeckte es widerlich, weil die billige Brauerei in der Nähe verfaulten Hopfen beimischte, um zu sparen. Ihn kümmerte das nicht, aber oft genug wurden die Gäste der Schänke anschließend krank. „Ohne das Tagebuch gelesen zu haben, kann ich euch nicht mehr sagen, als bisher“, sagte er irgendwann, durchbrach die betroffene Stille zwischen ihnen und zog Vloorieans Aufmerksamkeit auf sich. „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst“, sagte er zu ihm, der ihn schief ansah. „Ach, ja?“ - „Du bist nur zu einem ganz kleinen Teil ein Werwolf, aber das reicht schon, dich von einer Fähigkeit abzuschneiden, die jeder andere Mensch besitzt. Nur du nicht. Ich an deiner Stelle wäre jedenfalls sauer.“ Vlooriean prustete. „Wenn du meinst... Ja, ich bin scheiße sauer, dass meine Mutter sich von Wölfen hat ficken lassen.“ - „Urteilst du nicht ungerecht über sie? Sie wurde gezwungen“, meinte Okka. Vlooriean zog die Augenbrauen zusammen, die Frage, woher er sogar das wusste, stand ihm im Gesicht. Da besann er sich, schüttelte den Kopf und erwiderte: „Ist egal. Ich bin, wie ich bin. Was soll ich darüber jammern?“ Okka wog den Kopf hin und her. „Manchmal hilft es, sich mit einer Situation abzufinden.“ - „Nein, das ist Schwäche. Besser, ich finde mich gleich mit etwas ab, als damit zu hadern und mich selbst fertigzumachen.“ - „Hm“, machte Okka und taxierte ihn, was Vlooriean gar nicht passte. „Hör auf damit. Du machst mich nervös“, sagte er und sah weg, nahm wieder seinen Krug und trank. „Fürchtest du dich?“, fragte Okka. Vlooriean zog die Augenbrauen hoch. „Was soll die Frage? Nein, natürlich nicht.“ - „Ich denke aber doch.“ - „Warum sollte ich?“ Okka zuckte mit den Schultern. „Furcht ist eine Schwäche für dich. Sie zu zeigen eine Schmach und Schande, die du nicht riskierst. Gerade bin ich dabei, dir das klar zu machen. Du weißt, dass du nichts vor mir verbergen kannst, weshalb du abweisend reagierst und Angst vor mir hast. Nicht nur mir gegenüber, sondern allen Personen in deinem Umfeld. Zwar magst du Wulfiga lieben, stößt ihn aber zugleich von dir fort, wenn er dir zu nahe kommt.“ Vlooriean haute den Krug auf den Tisch und blökte: „Was hat das mit dem Tagebuch zu tun?!“ Die anderen Gäste sagen sich kurz nach ihnen um, schüttelten missbilligend mit dem Kopf und vertieften sich dann wieder in ihre eigenen Gespräche. Okka kicherte. „Nichts. Aber ihr seid noch dabei, zu verdauen. Ich brauche Beschäftigung. Und weil Wulfiga noch nachdenkt, bist du das Subjekt meiner Beobachtung, während ich dir deine eigenen Wahrheiten offenbare. Zum Beispiel auch das: Du hasst alles, durch das du nach außen hin schwach aussiehst, ob körperlich oder seelisch. Du willst stark sein, um unangreifbar und hart zu wirken. Dabei ist dein Herz das zerbrechlichste aller Leute hier im Raum.“ Vlooriean wurde rot, zum Teil aus Zorn, zum Teil wegen des Alkohols. Er funkelte Okka grimmig an, erwiderte aber nichts. Der arme Junge glaubte, ihm durch Schweigen jede verbale Waffe zu entziehen. Wulfiga kümmerte sich gar nicht um die Bedrängnis, in die sein Partner geraten war, und blieb weiterhin abwesend, den Blick nach innen gerichtet. „Was weißt du schon? Als Fernschweifdrache hast du keine Probleme, wie meine“, keifte er. „Keine wie eure“, korrigierte Okka. „Du vergisst, dass ich auch jung war, obwohl das schon eine Weile her ist.“ - „Ja, rede dir das ein. Selbst wenn, hast du längst vergessen, wie es ist, so zu sein, falls du es überhaupt jemals warst.“ Okka lehnte sich auf den linken Arm und sah Vlooriean erwartungsvoll an. „Ah, ja? wie denn zu sein?“, fragte er. Seine Sensationslust hatte einen Höhepunkt erreicht, den er kribbelnd auf der Haut spürte. Er hatte Vlooriean in die Enge getrieben und war erpicht darauf, zu beobachten, wie er reagierte. Gestand er sich eine oder alle Schwächen ein, oder leugnete er sie erneut auf absurde Weise? Beides hätte einiges über ihn ausgesagt. Seine Alternativen waren ausgeglichen. Es gab keine Tendenz, die überwog. Das liebte er an den Sterblichen mit kurzer Lebenszeit. Solcherlei Entscheidungssituationen kamen bei ihnen überdurchschnittlich zustande, während langlebige Spezies eindeutig zu erfassen waren. Bei der Betrachtung von Vloorieans Alternativen wurde seine Aufmerksamkeit abrupt von Wulfigas Varianten angezogen und gefangen genommen. Denn anstatt weiter um ihn her zu flimmern und zu wabern oder synchron mit ihm zu werden - zerstreuten sie sich. Am Ende blieb nur Wulfiga in der jetzigen Form in dieser Realität zurück. In ablaufenden Zeitrahmen gab es nur den einen Verlauf. Egal, wie Okka andere Realitäten verändert und beeinflusst hätte. Genau dieser eine Moment war bei Wulfiga alternativlos. Das hatte er vorher nur bei zwei anderen Individuen erlebt. Sie waren Markierungen im Realitätsgefüge, die wie unumstößliche Gesetze die Natur der Dinge verankerten. Einige seiner verrückteren Brüder und Schwestern sahen in diesen seltenen Augenblicken eine Möglichkeit, den metastabilen Zustand aus unendlichen Universen in einen stabilen zu verwandeln, indem sie sie zerstörten, um dadurch ein einziges, ein wahres Universum zu kreieren, in dem es keine Alternativen mehr gab. Eines, aus dem alle anderen geboren worden waren. Ein Gral für Fernschweifdrachen. Nach fast viertausend Jahren erlebte er zum dritten Mal diese ... Konvergenz. Mal sehen, wie lange sie anhielt.

Aber anstatt ihn anzusprechen und mit Wulfiga zu interagieren, zwang er sich, seine langweilig gewordene Spielerei mit Vlooriean fortzuführen. Wenn er ihn zu früh ansprach, passierte es, dass er den Moment unbeabsichtigt auflöste, was merkwürdige Konsequenzen zur Folge hatte. Das war ihm passiert, als er der Konvergenz bei einer Leonidin zuerst begegnet war und sie währenddessen angesprochen hatte. Sie war daraufhin katatonisch geworden, hatte sich verkrampft, mit unnatürlichen Körperbewegungen verbogen, als ob eine unsichtbare Kraft ihr alles verdrehte, und war gestorben. Herzinfarkt. Er hatte das damals nicht kommen sehen, weil es die erste Erfahrung dieser Art und er jung und unerfahren gewesen war. Das zweite Wesen war eine Kaulquappe in einem Teich. Die kleinen Viecher bewegten sich unentwegt. Diese eine nicht. Sie wurde von der Strömung und Verwirbelungen im Wasser zwar hin- und hergedrückt, war sonst aber starr gewesen. Selbst als sie von einem Karpfen entdeckt und verschluckt wurde, blieb sie unbewegt, so als sei ihr ihre Umwelt egal geworden. Bevor sie im Fischbauch starb, löste sich die Konvergenz wieder auf und die Quappe kehrte in den normalen Realitätsfluss zurück. Er blieb behutsam, sonst tötete er Wulfiga.

Okka sah wieder erwartungsvoll zu Vlooriean, der auf seine Oberschenkel hinabsah. Er hatte durchschaut, was er bezweckte. „Dreckskerl...“, murmelte er. „Dich mache ich fertig.“ - „Nein, eher nicht“, entgegnete Okka. „Aber keine Sorge, das liegt nicht an Schwäche, sondern daran, dass ich dir überlegen bin.“ Vlooriean schüttelte abweisend den Kopf. „Ja ja...“, sagte er, wandte sich halb ab, mit dem Rücken zu ihm und Wulfiga, und schmollte niedergeschlagen in Gedanken versunken. „Ein Leben wie meins, ist nicht leicht. Ich habe viele Narben“, murmelte er. „Dann bin ich übersät davon“, meinte Okka. „Tsch. Du? Sicher“, sagte Vlooriean abfällig. „Denkst du, ich bin unangreifbar? Glaubst du, als Fernschweifdrache zu leben ist leicht? Wir sind die einzigen unsterblichen Lebewesen, die existiert haben, existieren und existieren werden. Die Ewigkeit zu akzeptieren ... ich bin nicht sicher, ob du dazu in der Lage wärst.“ Misstrauische Blicke. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte Vlooriean. „Achttausend Jahre. Habe ich das noch nicht erwähnt?“, wunderte sich Okka. „Kann mich nicht erinnern. Der Alkohol“, behauptete Vlooriean. „Aber achttausend Jahre ist nicht viel.“ - „Nicht viel?“, lachte Okka auf. „Ich meine, im Vergleich zum Alter der Welt. Bist du nicht in Wahrheit älter?“, fragte er die für einen Fernschweifdrachen indiskreteste Frage, die jemand stellen konnte. Es war niedlich, dass er sich das zutraute. Okka seufzte. „Nach deinem Verständnis ausgedrückt, bin ich tatsächlich achttausend Jahre alt. Aber weil mein Volk Zeit und Realität anders wahrnimmt, sind wir im Grund so alt wie der erste Stern am Firmament. Ich habe den Anfang von allem gesehen, und werde dessen - und unserem - Ende genauso beiwohnen.“ - „Also ... wirst du sterben?“, fragte Vlooriean vorsichtig. Okka schüttelte den Kopf. „So kann man das nicht nennen. Alles geschieht. Und alles, was geschieht, ist schon einmal geschehen. Und es wird wieder geschehen. Deshalb werde ich immer und immer und immer wieder da sein“, erklärte er redselig. Obwohl Vlooriean weit unter seiner Würde war, empfand er es als erfrischend, ihm das zu offenbaren. Dadurch wurde ihn leichter ums Herz. „Verzeih. Besser lässt sich das nicht ausdrücken. Die Variation gesprochener Worte ist zu begrenzt, um es dir begreiflich zu machen.“

Vlooriean schwieg. Er begriff nicht. Nicht so, wie es nötig wäre, um ihm zu erklären, wie alt er war. Okka hatte diese Art Fragen früher oft beantwortet. Sein Lebenslauf war von Zerfall geprägt. In den goldenen Epochen der Geburt vieler Welten geboren, ist er als Gott verehrt worden. Mur war sein Göttername gewesen. Danach wurde er zum quasigöttlichen Wesen degradiert. Dann zur unsterblichen, nicht mehr göttlichen Kreatur. Zum Schluss zum Lehrenden. Damit fing die interessanteste Zeit erst an, denn ab da wagten die Sterblichen, ihm dieselben Fragen zu stellen, wie Vlooriean. Es hatte ihm Spaß bereitet, mit ihnen Wissen zu teilen, das sie unmöglich alleine hätten erreichen können. Aber seine Bemühungen waren alle umsonst gewesen. Die alten Hochkulturen hatten sich nie weiterentwickelt. Irgendwann setzte das Rad der Zeit an und zerkaute sie gnadenlos. Die, die heute die Welt bevölkerten, waren ein Hauch im Wind. Technisch wie kulturell.

Vlooriean und Okka waren an einem toten Punkt in ihrem Gespräch angelangt. Letzterer wagte einen zweiten Blick zu Wulfiga. Er stellte überrascht fest, dass die Konvergenz anhielt - und er von ihm betrachtet wurde. Er erwiderte den Blick fragend, ohne etwas zu sagen. „Ein Traumtagebuch ist abgebildete Realität, nicht wahr?“, fragte Wulfiga, Okka blieb beharrlich und schwieg. Noch immer keine Veränderung. „Wenn der, der das Buch geschrieben hat“, fuhr er langsam fort, „nicht nur irgendeine Realität darin abbildet, sondern seine eigene, dann ...“ Wulfigas Augen weiteten sich im Licht einer inneren Erkenntnis. Er hatte es entdeckt, ohne dass Okka ihn darauf hingewiesen hat. Die Konvergenz löste sich auf, die zerstreuten Alternativen kehrten zurück, das wabernde Flimmern setzte wieder ein. Ein paar Variationen erhoben sich und verließen die Schänke, ein paar andere - überfielen Vlooriean und zerfetzten ihn. Aber der hiesige Wulfiga blieb gefasst, obwohl seine Wangen zuckten. „So ist es, mein Freund. Genau so“, bestätigte er. „Jetzt verstehst du, warum ich wissen wollte, von wem es ist. Denn ich bin nicht der Einzige, der auf der Suche nach traumschreibenden Menschen ist. Meine Geschwister suchen ebenfalls nach ihnen. Fieberhaft. Und ... nun ja, ich bin der Meinung, dass sie sie nicht finden sollten. Zu seinem eigenen Wohl. Jetzt, wo ich seine Identität kenne, werde ich ihn verstecken.“ Vlooriean sah verwirrt zwischen ihnen hin und her, erleichtert, dass sie das Thema wechselten. „Redet ihr gerade von -“ - „Gib es ihm“, sagte Wulfiga forsch und sah ihn an. „Sofort.“ Vlooriean fragte nicht, Wulfigas Augen waren wieder Magentarot. Er kramte in einer Tasche aus großem Stoff neben sich herum und holte das abgegriffene, in Leder gebundene Büchlein hervor. Darauf war ein Wappen eingestanzt. Ein Kreis, in zwei Hälften geteilt, auf der einen Seite eine Eule, die mit einer Blume - eine Tulpe? - im Schnabel durch die Luft flog, auf der anderen ein Grimmwolf, der übermäßig stilisiert aussah. Was Okka faszinierte, war, dass es sich konvergentem Zustand befand und eine entropische Grenze bildete, eine maximale Unordnung im Gefüge, die sich aus eigener Reaktion nicht mehr veränderte. Ein absoluter Endpunkt. Vlooriean hielt es ihm entgegen, er schnappte es ihm sofort aus der Hand weg, worauf Wulfiga warnend knurrte, was ihn aber nicht interessierte. Er hielt einen Schatz in der Hand und unterdrückte ein aufgeregtes Zittern. Vorsichtig öffnete er es und las.

Die nächsten zwei Stunden konzentrierte er sich nur auf die Worte in adäquater Schrift. Ästhetisch und ausgefeilt, nicht eine Zeile schief. Eine Wohltat für die Augen. Der Wortschöpfer war gebildet und schaffte es, für alle Traumgeschehnisse die richtigen Ausdrücke zu finden. Dabei geizte er nicht mit literarischen Stilmitteln, die er einsetzte, um den Text zu pointieren und im Leser zu manifestieren. Okka las zwar zwei Stunden, aber durchgelesen hatte er das Werk schon nach einer halben. Die restliche Zeit stöberte er aufmerksam, war begeistert von den Themen, den Gefühlen, den Geschehnissen, die darin beschrieben waren. Er schätzte das Büchlein als das wichtigste Werk der Geschichte ein. Aber niemand würde davon erfahren, denn es war zu gefährlich, das Wissen um dessen Existenz zu teilen. Schon gar nicht durften seine Geschwister davon erfahren. Er war jetzt der Herr darüber. Er hatte als erster unter ihnen ein intaktes Artefakt entdeckt. Sie nahmen es ihm nicht weg. Dafür sorgte er.

Es war aufschlussreich und nach langer, langer Zeit der erste Moment, in dem Okka etwas dazulernte. Als er aufsah, um mit Wulfiga und Vlooriean darüber zu sprechen, stellte er fest, dass sie ihm nicht mehr gegenübersaßen. Er hatte nicht bemerkt, wie sie aufgestanden und gegangen waren. Perplex sah er sich um und hielt Ausschau nach ihnen. Mit Ausnahme des Schankwirts und zwei weiteren Personen, einem betrunkenen Bauern und einer Raptora-Dirne, die den Wirt mit Augenklimpern verzauberte, war die Gaststätte leer. Es war kurz nach Mitternacht. Er erhob sich und ging zur Theke. „Wo sind sie hin?“, fragte er den Wirt, der mit seiner Zunge über seine Lippen fuhr, um der liederlichen Dame Interesse andeutete. Er zuckte mit den Achseln, ohne ihn anzusehen, und antwortete: „Sind vor einer Weile weg. Keine Ahnung, wohin. Haben nix gesagt. Ist mir auch egal. Zahlst du jetzt, oder hebst noch einen?“ Okka zahlte. Heute wurde er ein wenig mehr Geld los, was ihn nicht kümmerte. Er nahm das Büchlein und schritt hinaus in die Nacht. Einen Moment dachte er darüber nach, es zu behalten. Aber dadurch verursachte er genau das, was er nicht wollte, weshalb sie suchte. Vorwiegend Wulfiga, Vlooriean war ihm egal. Nicht vernachlässigbar, aber egal. An und für sich wusste er, wo sie waren, doch in menschlicher Gestalt mit beschränkten Sinnen, war es schwieriger das Ziel zu erreichen, ohne tausendmal zu straucheln oder zu stolpern. Die Schänke lag mitten im nirgendwo auf dem Land an einer Handelsstraße zur nächstgelegenen Stadt Arkenthand, in der er lebte. Rundherum nur Gräser und Felder. In die Stadt waren sie nicht gegangen. Er betrat einen Trampelpfad, der nur am Tag zu sehen war, in der Dunkelheit hingegen kaum auszumachen. Es war Frühsommer, von überall zirpten Grillen um die Wette. Die Luft war frisch, aber mild und duftete nach dem Weizen der Felder. Eine halbe Stunde folgte er dem Pfad, bis er an ihrem Lager angelangte. Ein unberührtes Stück Natur mit drei Buchen, um die herum in größerem Abstand Gebüsch und Sträucher wuchsen. Vlooriean kauerte seitlich und schnarchte leise. Wulfiga hingegen saß etwas entfernt aufrecht und sah in den Himmel, der nur gering von Wolken verhangen war. Sie waren beide entkleidet. So warm war es nicht, um des Nachts nackt schlafen zu müssen. Okka schlich sich leise an Vlooriean vorbei, von dem er trotz Schnarchen sicher war, dass er nicht fest schlief und seiner Ankunft gewahr war. Bei Wulfiga angekommen, setzte er sich ächzend neben ihn. Obwohl unsterblich, bereitete ihm dieser Körper Schmerzen und Beschwerden. Er könnte sie umgehen, bevorzugte aber das Leid der Physis. Die Arroganz und Weltenfremdheit seines Volkes begründete sich darin, dass sie jede Pein von vornherein vermieden, anstatt sich ihr auszusetzen. Das hatte sie stumpf und unnahbar werden lassen. Okka war seit langem ein Sonderling, der sich unter den Sterblichen in ihrer ebenso sterblichen Welt bewegte, obwohl er sich eine Alternative aussuchen und sie zu seinem persönlichen Universum umgestalten könnte, so wie alle Fernschweifdrachen. Doch etwas hielt ihn in der Welt der Unvollkommenheiten. Ein letzter Funke, den selbst er mit seinen Äonen an Erfahrungen nicht zu benennen in der Lage war. Zum Beispiel der unerwartete Kuss, den Wulfiga ihm auf die Lippen drückte, als er ihm das Gesicht zuwandte. Nichts leidenschaftliches, nichts Intimes. Ein schlichter, unverhoffter und unbescholtener Kuss der Naivität und Dankbarkeit. Ein Mund, der einen anderen berührte und doch kaum berührte. Er schmeckte den Alkohol in Wulfigas Atem, der ihn zweifellos dazu bewogen hatte. Obwohl es fast nichts war, war es gleichzeitig fast alles, das Okka begehrte. Er hatte das nicht kommen sehen. Zugegeben, er hatte nicht auf die Alternativen geachtet. Oder war es etwa wieder - ? Ja, in der Tat. Wulfiga war erneut in einer Konvergenz. Das bedeutete, dass Okka selbst in einer sein musste, denn der Moment des Kusses war unausweichlich gewesen. Er gehörte untrennbar zu ihnen beiden, und gleichzeitig gehörten sie dadurch einander. Das war die Art von nicht zu teilender Liebe, die Okka als tief und rein und ehrlich empfand. Nicht dieses Rumgehüpfe und Gewichse mit Austausch von Körperflüssigkeiten, das Vlooriean und Wulfiga hatten, bevor er zu ihnen gestoßen war. Nachdem er das Traumtagebuch gelesen hatte, wusste er, was das bedeutete.

Das Flimmern setzte ein. In einer Alternative schlief Wulfiga mit Okka, in einer weiteren - und das ließ ihn innerlich zusammenzucken - sprang er auf, überfiel Vlooriean und zerfetzte ihn. Schon wieder. In einer Dritten lösten sie sich voneinander und Wulfiga sah weg, als ob nichts passiert wäre. In der Vierten umarmten sie sich und schliefen ein. In dieser hier unterbrach Wulfiga den Augenkontakt zu Okka nicht, sondern warf ihm vor: „Du bist ihn zu hart angegangen.“ Er sprach von Vlooriean. „Er hat geweint. Zum zweiten Mal heute.“ - „Er brauchte das“, entgegnete Okka. „Sonst entwickelt er sich nicht weiter.“ – „Hm“, machte Wulfiga nachdenklich. „Trotzdem...“ - „Du sorgst dich sehr um ihn“, merkte Okka an. „Wir haben zusammen viel durchgemacht“, sagte er, atmete durch und wechselte Thema. „Wo ist es?“ Okka zückte das Buch sofort und übergab es ihm. Er nahm es und rieb mit der rechten Hand darüber, fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand des Wappens und streichelte es. „Du hast ihn geliebt, oder?“, fragte Okka. „Und bestohlen“, ergänzte er. „An unserem letzten Tag habe ich ihm, ohne es zu wissen, etwas geschenkt. Als ich ging, habe ich es mit mir mit- und ihm wieder weggenommen, dann ließ ich ihn zurück. Es hätte ihn gerettet, aber in dem Moment war ich egoistisch.“ - „Das brauchst du mir nicht zu erklären. Steht ja alles in seinem Buch. Was ich meine, ist, du hast Liebe empfunden, die du immer noch spürst.“ Wulfiga nickte betrübt. „Jeden Tag wird die Qual unangenemer und die Versuchung größer, umzudrehen. Aber ich weiß, dass er mich wegschicken würde, käme ich zu ihm zurück.“ Okka lächelte ihn an, was Wulfiga falsch auffasste. Er knurrte und fragte: „Das amüsiert dich, oder?“ Er wehrte ab. „Nein, nicht doch. Ich denke nur gerade an die Zeit zurück, in der ich das erste Mal Kummer aus Zuneigung empfand. Es ist ein schweres Gefühl, das uns zu Boden wirft und mit dem Gesicht in schlammige Erde drückt. Dabei führt er uns zur kreativen Schöpferkraft. In diesem Zustand erschuf ich meine größten und herrlichsten Werke, längst vergangen und vergessen, aber Monumente meiner Seele, wie ich sie nie wieder erschaffen werde.“ Er zwinkerte Wulfiga zu. „Du hast den Weg, den du gehen musst, nur durch deinen Kummer entdeckt. Ohne ihn stündest du auf der Stelle. Er ist die größte Kraft, die Sterbliche entwickeln, um voranzuschreiten. Das habe ich immer wieder erlebt. Halte daran fest und sorge dafür, dass du das Gefühl so lange wie möglich erleidest, wenn du die Hürden überwinden willst, die du dir selbst auferlegt hast.“ - „ ... du bist arrogant“, sagte Wulfiga. Okka schmunzelte und nickte zustimmend. „Kann sein. Ich darf das. Im Vergleich zu allem um mich herum bin ich ein höheres Wesen. Was erwartest du?“ Wulfiga antwortete nichts darauf. „Erzähl mir mehr. Der Dynyol-Junge scheint ein ungewöhnlicher Mensch zu sein, wenn er jemandem wie dir den Kopf durcheinandergebracht hat“, schlug er vor, was auf wenig Begeisterung traf. „Er war - ist einzigartig“, sagte Wulfiga gleichwohl. Das waren alle. Ob Mensch, Werwolf, Leonide, Mischwesen, und so weiter. Das machte sie wiederum gleich, was Okka langweilig fand. Doch das sagte er nicht laut, sondern hörte zu. „Ihm fehlt etwas, das niemand ausfüllen kann. Eine Selbstzufriedenheit, die wir alle von klein auf erlernt haben. Er kennt sie nicht, was tragisch ist, da er einer ist, der sie verdient. Umso mehr habe ich mich bemüht, sie ihm zu geben. Vergebens. Er nahm sie nicht an, weil er sie nicht kennt. Im Gegenteil zeigte er Hass und Grausamkeit. Mein Mitleid wies er angeekelt zurück. Er ist unschuldig und wurde zur Schuld gezwungen, was ihn verdorben hat.“ - „Du überraschst mich. Ein bisschen“, sagte Okka und unterbrach ihn. „Warum?“, fragte Wulfiga, er legte die Augenbrauen schief. „Weil du deinen Verstand und dein Herz offensichtlich an jemanden verloren hast, der beiden würdig und unwürdig zugleich zu sein scheint. Es ist erweichend, dass du immer noch an ihm hängst. Vor allem nach dem, was in seinem Traumtagebuch steht. Ist dir eigentlich klar, dass du dadurch sein Sklave bist?“ Okka erwartete Betroffenheit, oder eine andere ähnliche Reaktion, doch zeigte sich Wulfiga abgeklärt und der Tatsachen bewusst. „So hat es bisher niemand gesagt, aber ja, das bin ich. Ich kann nicht anders.“ - „Ich weiß“, meinte Okka leichthin. „Du bist mit ihm verbunden, ob du willst, oder nicht.“ Kurzes Schweigen. „Du beleidigst mich nicht? Warum?“ - „Wann habe ich dich je beleidigt? Ich habe euch aufgezogen, höchstens geneckt, mehr nicht. Ihr jungen Leute haltet ja gar nichts mehr aus.“

Okka ließ sich auf den Rücken fallen und ächzte auf. Seine Wirbelsäule war nicht mehr die beste. „Bist du müde?“, fragte Wulfiga. „Nein, du?“, erwiderte er. „Ein bisschen. Aber die Nacht ist schön, deshalb will ich nicht schlafen.“ Er sah auf. „Wenn ich in den Himmel schaue und den Mond ansehe, wird mir schwer ums Herz. Jede Faser meines Körpers zieht mich zu ihm hin, das ist meine Natur.“ - „Ich kenne die Geschichte. Jedem deiner Leute geht es so. Ich nenne das nicht Natur, sondern ein Fluch. Das, wonach ihr euch am meisten sehnt, ist für immer außerhalb eurer Reichweite.“ Okka hustete, als er sich im Liegen an seiner Spucke verschluckte, und fuhr dann fort: „Eine Schande, dass es euch erst heute gibt. Früher sind sie dorthin geflogen. Dann weit über den Mond hinaus“, sagte er leicht röchelnd und handelte sich skeptische Blicke ein. „Wer? Die Menschen?“, fragte Wulfiga schief grinsend. Okka wog den Kopf hin und her. „Jein. Damals waren sie keine Menschen, aber nicht mehr weit davon entfernt.“ - „Das war kein Witz? Sie sind zum Mond gereist?“, fragte er verblüfft. „Du hast mir in der Schänke nicht zugehört. Es gab dutzende Hochkulturen vor heute. Eine davon, die letzte vor euch, hat es weit gebracht. Der Mond war für sie nur der Anfang. Ein Sprungbrett. Sie sind zu den Sternen geflogen und nie zurückgekommen.“ Hoppla! Hatte er ihn etwa aus der Fassung gebracht? Als Okka seinen Blick suchte, sah Wulfiga betreten und schockiert aus. Dann stellte er eine Frage, die erneut unterstrich, wie anders er war. „Waren sie unsere - ich meine - haben sie uns ...?“ Er beendete den Satz nicht, weil die Wahrheit, die hinter der Antwort lag, über seinem Verstand lag. Okka hätte nie erwartet, dass ein Individuum dieses Realitätkontextes abstrakt genug nachdachte, um zu einem Schluss wie seinem zu gelangen. Ohne jedwede Kenntnis der Details. „Du fragst, ob sie Werwölfe erschaffen haben? Nein, nicht direkt. Es ist kompliziert, das zu erklären, deshalb die Kurzfassung: Bevor sie zu den Sternen aufbrachen, haben sie die Welt zerstört. Um ihre Schuld wiedergutzumachen, hinterließen den Keim neuen Lebens. Aus dem ist alles hervorgegangen, was heute auf zwei oder mehr Beinen geht.“ Wulfiga sah wieder hinauf zum Firmament. „Das ist ungerecht“, sagte er und wirkte dabei kindlich und niedergeschmettert. Okka zuckte mit den Schultern. „Nichts ist gerecht, niemand ist zufrieden mit dem, was er hat. Die, die damals lebten, sehnten sich nach Verbundenheit, Stärke, Wildheit, Ursprünglichkeit. Sie hätten dich beneidet und verehrt für das, was du bist. Sie hatten die Lebenssaat mit dem Ziel zurückgelassen, dass Wesen wie du dabei entstehen. Eine der schlimmsten Eigenschaften aller vermeintlich intelligenteren Lebewesen ist, dass sie nie zufrieden mit sich sind. Das gilt für dich, das gilt für deinen ratternden Freund da hinten, für mich und für den Dynyol-Jungen.“ Er verdrehte die Augen, weil Wulfiga nichts mehr sagte, und in unbehagliches Schweigen verfallen war. Langsam war ihm das Thema nervig. „Hör auf, dich auf Dinge zu konzentrieren, die vergangen sind, und von denen du ohne mich nie erfahren hättest. Du bist ein Werwolf, du sehnst dich nach dem Mondlicht, du hast eine Verbindung, die keiner nachvollziehen kann. Sogar ich nicht. Du hast eine Person gefunden, für die du leidest. Das ist mehr, als die Damaligen in der Lage waren zu erreichen. Sie hatten ihre Techniken und Errungenschaften, sonst nichts. Sie waren erbärmlich. So, wie die Menschen es heute sind.“ Endlich! Eine Reaktion. Wulfigas Alternativen wurden wieder synchron mit ihm, er sah Okka an, seine Augen pures, leuchtendes Magenta. Ob sie aus sich heraus leuchteten, oder durch den Mondschein, war nicht auszumachen. „Ist das der Grund, warum er so ist? Weil er niemals zufrieden mit sich sein kann?“, fragte er. Oje. Okka nahm alles zurück. So anders Wulfiga war, er war langsam im Denken. Die scharfsinnige Frage scheinbar ein Zufallstreffer. Okka stützte sich auf die Ellenbogen und hielt Wulfigas Blick stand. „Er ist ein Mensch. Sie sind den Damaligen am nächsten verwandt. Klein, schwächlich, Komplexe bis zum Abwinken. Dass er tief verletzt ist, liegt in jedem Fall an seinen Erfahrungen und der Erziehung. Aber eine Unzufriedenheit hätte er selbst dann sein Leben lang, wenn er die glücklichste Person des gesamten Menschengeschlechts wäre. Um deine Frage zu beantworten: Ja, er ist deswegen so. Er wird immer so sein. Außer du hilfst ihm auf die Weise, wie du es vorhast.“ - „Dieser Weg ist getränkt mit Blut“, meinte Wulfiga. „Wen interessiert das?“, rief Okka aus. Einen Moment erstarb das Schnarchen hinter ihnen, Vlooriean bewegte sich leise murrend und murmelnd, schlief aber sofort weiter und veranstaltete ein Konzert für Schwerhörige. „Du bist wichtig, dein Liebchen ist wichtig! Alle anderen zählen nicht.“ – „Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte er. Okka lachte in sich hinein. „Du bist friedfertiger, als dir gut tut, mein Bester. Lass es mich klar und deutlich machen. Es ist der einzige Weg, den du gehen kannst.“ Wulfiga packte zu, umschlang Okkas Hals und drückte ihm die Luft ab. „Sagst du das, weil du es lustig findest, mich zu manipulieren, oder weil es in seinem Buch steht?“, grollte er verärgert. „Wann zeigst du mir dein wahres Gesicht, Drache?“ Okka gab nichts darauf. Jetzt hatte er ihn. „Dann, wenn du mir deins zuerst zeigst, Wolf“, röchelte er. „Du sprichst von Manipulation? Ich bin alt genug, um zu erkennen, wenn jemand spielt. Du bist verlogener, als du es dir selbst eingestehst. Ihr wusstet von Anfang an, wer ich bin und dass ihr mich hier findet. Hast du wirklich gehofft, es gibt eine andere Möglichkeit? Eine Alternative zum Ablauf der Dinge, die geschehen? Du wusstest im Vorfeld, dass es nicht so ist, und hast dir trotzdem falsche Hoffnungen gemacht. Denkst du, ich weiß nicht, wer du bist? Du bist ein Schlächter! Einer, der aus Spaß mordet, wenn er die Kontrolle verliert. Das ist dein Weg. Finde dich damit ab. Dein Freundchen hat es akzeptiert. Wann fängst du an?“ Er ließ ihn los, zitterte und vergrub das Gesicht in seinen großen Händen. „Hör schon auf damit, dein Schauspiel hat nie funktioniert. Andere kriegst du damit, mich aber nicht. Du bist machtversessen bis in die letzte Vene. Das einzig ehrliche an dir ist dein Hang zum Dynyol-Jungen. Alles andere, bis auf deine Dummheit, nehme ich dir nicht ab.“

Wulfiga legte den Kopf in den Nacken und brüllte laut lachend in den Himmel. Vlooriean schrak auf wie aus einem Albtraum, war zuerst desorientiert, bis er zu ihnen herüber starrte, ohne sich zu bewegen. Abrupt änderte sich Wulfigas Stimmlage. Das irre Gelächter sank um mehrere Oktaven, bis es erstarb und angestrengtem Stöhnen wich. Knochen knackten und erweiterten sich. Wulfigas Miene zuckte unkontrolliert, er fiel auf den Rücken, kauerte vor Schmerzen. Aus seinem Mund wuchs die Zunge wie eine Schlange hervor und verunstaltete mit der zu groß gewordenen Nase und der wulstigen Stirn sein Gesicht in eine Fratze. Erst ein paar Sekunden danach folgten Ober- und Unterkiefer und fingen das zuckende Mundwerkzeug wieder ein. Die Augen waren unnatürlich nach oben verdreht. Er fletschte mit den Zähnen. Zuerst schwollen seine Hände und Füße unablässig zu absurder Größe an. Dann vergrößerte der Torso, wodurch er wie die Karikatur eines Kobolds aussah. Arme und Beine folgten. Seine Krallen wuchsen zu gefährlichen Waffen heran. Die Füße änderten ihre Form zu Hinterläufen. Überall traten zuckend Muskeln unter der Haut hervor, die komplett bedeckt wurde von seinem schwarz-grauen Fell.

Wulfiga verdrehte sich in Pein und jaulte mehrmals abgehackt auf. Okka war einer Verwandlung lange nicht mehr beigewohnt. Die meisten Werwölfe mieden sie, wenn sie eine Weile in menschlicher Form gelebt haben. Warum, sah er an den Alternativen, die Wulfiga umflimmerten. In der ersten blieb er ein verkrüppeltes Monstrum zwischen Mensch und Werwolf, ohne die Transformation abzuschließen. In der zweiten erlitt er multiple Schlaganfälle und einen Herzinfarkt. Die Dritte zeigte ihn, wie er spastisch wurde und seine Muskeln verhärteten, ohne wieder zu entspannen - auch sein Herz. In der vierten wuchsen seine Knochen nicht schnell genug mit dem Rest der Physis mit, wodurch sein Schädel aufplatzte, weil die Gehirnmasse nicht mehr genug Platz hatte. In diesen Alternativen starb er. Es gab freilich einige andere, in denen, wie jetzt, nichts geschah, und sich ohne Probleme wandelte. Aber bei jeder Verwandlung von menschliche in wölfische Form und umgekehrt war das Risiko vorhanden, sie nicht zu überleben. Deshalb der Schmerz, der auf natürliche Weise dafür sorgte, dass Werwölfe sich nicht zu oft an ihren eigenen Körpern vergingen. Okka fand es berauschend, ihn zu betrachten. Seine Verwandlungen waren nichts dagegen, weil sie in dieser Art nicht existierten. Fernschweifdrachen lebten in einem Körper einer Spezies ihrer Wahl, durchlebten damit einen Lebenszyklus, starben, und suchten sich dann den nächsten aus. Unspektakulär. Wulfigas Metamorphose war eine Sensation für ihn. Was Okka dabei ins Auge sprang, war, wie eine der Alternativen Vlooriean anfiel und ihn auseinandernahm, im wörtlichen Sinne. Arme, Beine, Kopf und Torso lagen danach mehrere Meter voneinander verstreut. Langsam fragte er sich, wie groß Wulfigas Ablehnung gegenüber seines Lebensgefährten war. Sie waren zwei Seiten, die zusammengehörten und einander achteten und hassten.

Wulfiga wälzte sich auf dem Boden umher, sodass Okka aufstand und zur Seite trat. Dunkel und grollend atmete er ein und aus, das Wolfsgesicht zu Boden gerichtet, schlug die Augen auf und sprang auf. In Habachtstellung sah er sich gehetzt um und suchte nach Okkas Blick. In dem Moment, in dem er ihn fand, waren seine Augen wieder Magentarot und ein verrücktes Grinsen mit schief geneigtem Kopf ließ ihn wie einen Dämon aussehen. Vlooriean japste erschrocken auf. Speichelfäden suchten sich ihren Weg von Wulfigas Unterkiefer zum Boden herab, der sich abwandte und unter schnarrendem Gegacker im Feld verschwand, wobei Okka und Vlooriean ihn wegen seiner Größe lange in der Ferne sahen. Als sie alleine waren und Stille zwischen ihnen einkehrte, sagte Vlooriean: „Er kommt wieder.“ Okka schnaufte verächtlich und sah zu ihm hinüber. „Ich weiß, er muss.“ - „Hat er es dir gesagt?“ Okka legte die Augenbrauen schief. „Bitte“, sagte er überheblich. „Ich wusste es von Anfang an. Ich habe nur nicht erwartet, dass er so lange den mit sich hadernden Wolf spielt.“ Vlooriean wirkte unangenehm berührt. Wäre es Tag, sähe man ihm die Röte im Gesicht an. „Ich war von Anfang an dagegen. Er ließ sich nicht abbringen.“ Okka winkte ab. „Nimm es mir nicht übel, aber du bist ein kleines Zahnrädchen. Zwar nicht unwichtig, aber nicht mehr weit von der Bedeutungslosigkeit entfernt“, sagte er. „Was du willst, oder von seinen Vorhaben hältst, ist irrelevant.“ Vloorieans Augen funkelten gehässig, er sagte nichts, was Okka begrüßte. „Leg dich wieder schlafen“, riet er ihm und machte die ersten Schritte in das Weizenfeld hinein. „Bei Sonnenaufgang ist er wieder bei dir.“ - „Und du?“, fragte Vlooriean. Okka grinste frech. „Keine Sorge, unsere Wege trennen sich hier. Ich werde dich nicht mehr fertigmachen. Leb wohl.“ Er wartete keine Erwiderung ab und ging.

Der Weizen war hoch gewachsen und saftig, aber nicht erntereif. Das Jahr war gut, es hatte viel geregnet und kaum Trockenperioden gegeben. Anders als im letzten Winter, nachdem die Seuche das Land überzogen und niemand die Ernte freiwillig eingefahren hatte, würde der nächste ein Fest aus Speisen werden. Okka folgte der Spur, die Wulfiga hinterlassen hatte. Wenn ein fast vier Meter großer Wolfhüne durch das Feld hechtete, hinterließ der etwas. Fast zwei Stunden war er unterwegs und passierte dabei einige Grenzwege zwischen weiteren Feldern anderer Bauern. Die Richtung war deutlich und wenig verwunderlich. Er hatte sich dem nächstgelegenen Wald zugewandt. Neben ihrer gottgleichen Verehrung des Mondes war die Hingezogenheit zu Wäldern ein weiterer Instinkt, obgleich sie sie oft nicht betraten oder weit hineinwagten. Es gab Werwölfe, die in den Tiefen großer Wälder lebten, keine Sprache beherrschten und ein instinktgetriebenes Leben führten. Aber das waren wenige. Die meisten anderen Werwölfe, die nicht in Städten lebten, ließen sich an der Peripherie der Waldgrenze nieder. Dort hielt Okka nach ihm Ausschau, als er das Geäst erreichte. Er suchte nicht lange, ein massiger, gebeugter Körper verließ die Deckung des finsteren Gebüschs und schlenderte gediegen auf ihn zu. Er blieb etwa ein dutzend Meter vor ihm stehen und fixierte ihn wie das Raubtier, das er war. Interessant. Obwohl alle Alternativen genau gleich vor ihm standen, waren sie weder synchron, noch bildeten sie eine erneute Konvergenz. Okka hatte Schwierigkeiten, daraus Schlüsse zu ziehen. Die eine Möglichkeit war, dass da draußen weitere Variationen der Zeitenrealität waren. Die andere, dass ... Du liebe Güte! Dass er erst jetzt auf diesen Gedanken stieß! Er zitterte allein bei der Vorstellung, dass es so sein könnte. Nicht aus Angst. Aus Begeisterung. „Du wirst Vlooriean aufklären müssen. Er weiß fast nichts. Es wird schwer für ihn, das zu akzeptieren, wenn er nicht versteht, warum“, sagte er. Wulfiga nickte. Okka breitete die Arme aus. „Also?“ Wulfigas rechtes Ohr zuckte und er legte den Kopf schief. „Also?“, wiederholte er papageienhaft. Okka nickte ihm zu. „Sag es, werter Schauspieler.“ Es war unnötig, da sie beide wussten, welche Worte fielen, aber unumgänglich. „Deine derzeitige Existenz langweilt dich“, stellte Wulfiga fest. „Es wird Zeit für eine neue.“ Okka lächelte triumphierend, schwang die Arme in die Luft und rief: „Ja! Ja, das wird es! Eine neue Existenz! Sei mein neuer Körper!“ Er lachte erwartungsfroh und drehte sich um sich selbst. Es war albern, doch so aufgeregt war er seit seiner Jugend nicht mehr gewesen. Währenddessen überwand Wulfiga die letzten Meter, bis er bei ihm stand und eine Weile zusah. Okka drehte und drehte sich ausgelassen. Während der letzten Drehung sah er auf den dunkeln Schatten, hinter dem der Mond leuchtete und dessen Silhouette scharf zeichnete. Zwei leuchtende, magentafarbene Augen observierten ihn. Aha. Sie leuchteten doch von selbst.