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Fünfter Abschnitt "Kalanthe III"


Kalanthe III

Das Feuer war kleiner geworden, das Holz teilweise in sich zusammengefallen. Es knackte und prasselte aber trotzdem hörbar vor sich hin. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war Agelulf nähergerückt, um meine Nähe zu suchen. Ibor war längst zurück und lag etwas abseits auf dem Boden. Er hatte sich reingeschlichen und nichts gesagt, um seinen Bruder nicht zu unterbrechen. Obwohl vor allem ihn die Geschichte interessieren sollte, wirkte er abwesend. „Okka war der Erste. Nach ihm suchte ich die anderen“, sagte Agelulf. „Der Erste? Und was ist mit Drimba?“, fragte ich skeptisch. Er schüttelte kaum merklich den Kopf und bedeckte meine Hand mit der linken Klaue. „Sie traf ich später. Okka war der Erste.“ - „Und dann Drimba?“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Nein, sie war die Vierte, vorher traf ich zwei andere“, erklärte er. Bisher war ich der Annahme erlegen, dass er von den Begegnungen in der Reihenfolge erzählte, wie er sie getroffen hatte. Es musste einen Grund haben, warum er dabei anders vorging. „Wer waren die beiden?“, fragte ich. Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst, und zog seine Klaue zurück. „Über sie kann ich noch nicht sprechen. Das wird zu kompliziert.“ Ich fand es so schon schwer zu verstehen, weil das bedeutete, dass ich aufmerksamer zuhören musste, um nicht durcheinanderzugeraten. Aber es war seine Lebensgeschichte, für die ich ihn nicht unter Druck setzte. „Was geschah mit Okka?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte. „Dasselbe, wie mit Drimba“, antwortete er. „Hm“, machte ich. „War er verrückt?“ Ibor im Hintergrund lachte auf, verstummte aber sofort wieder. „Er war ein Fernschweifdrache, der den Anfang und das Ende von allem erlebt hat, wenn man seinen Behauptungen Glauben schenkt. Ein wenig bizarr ist da wohl jeder“, antwortete er. Ich konnte mir nicht helfen. So sehr ich mich mit Drimba identifiziert hatte, so neutral fühlte ich bei Okka. Ich gähnte herzhaft und hielt mir die Hand den Mund. „Du solltest schlafen. Es ist zwar noch nicht lange dunkel, aber die letzten Tage waren hart für dich gewesen“, schlug er vor. Zu Ibor: „Ist alles vorbereitet?“ Der lag auf dem Rücken, die Klauen hinter dem Kopf verschränkt, und würdigte ihn nur mit einem Seitenblick. „Es ist immer vorbereitet, Bruderherz.“ Sie meinten die Schlafhöhle. „Wenn es in Ordnung ist, schlafe ich hier“, sagte ich. „Bist du sicher? Die Felle sind warm und angenehm“, meinte Ibor. Ich schüttelte den Kopf. „Ich mag den Schein den Feuers. Außerdem habe ich ein paar Sachen dabei, um auch hier gut zu schlafen.“ - „Nein“, widersprach Agelulf. „Ich hole dir ein paar Felle, das ist besser.“ Ibor setzte sich auf. „Und wo werden wir beide dann schlafen?“, fragte er. „Stell dich nicht an“, entgegnete Agelulf sofort. „Als ob wir die brauchen.“ Ibor legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich daran gewöhnt, seit ich hier lebe“, meinte er. „Aber ein paar Nächte werde ich so auskommen.“ Das war mir unangenehm. Ich wollte niemandem seine Schlafstatt wegnehmen und schlug vor, nur ein Fell unter mir auszulegen und die Felldecke wegzulassen. „Ach, was“, winkte Ibor sofort ab. „Ich übertreibe nur. So weich bin ich nicht. Normalerweise schlafen Werwölfe draußen auf der kalten Erde zu jeder Jahreszeit.“ Agelulf sah ihn kritisch an. „Das sagt der, der sich, als wir klein waren, im Winter auf mir breit gemacht, wenn ihm die Schnauze zu kalt war?“ Ibor starrte, sprang auf und zeigte auf sich selbst. „Siehst du das hier?“ Er fuhr über sein Nacken- und Schulterfell. „Und das hier? Oder das? Es ist dicker als früher. Dichter als deins. Ich war als Junges ein Jaulewolf, aber das ist lange her.“ Agelulf wehrte ab. „Umso besser, dann werde ich euch heute Nacht alleine lassen.“ Mein Bauch zog sich zusammen. „Warum das denn?“, fragte Ibor, sah mich, dann wieder seinen Bruder an. „Nur wegen ihr und mir musst du nicht gleich verschwinden.“ Mir wurde warm. Jetzt, wo ich wusste, dass er es wirklich wollte, fragte ich mich, ob ich es noch herbeisehnte. „Nein, es ist etwas anderes“, erwiderte Agelulf. „Etwas persönliches.“ Ibor lachte dreckig. „Willst du die alte Bande aufsuchen und ihnen die Schnauzen neu ausrichten? Spar dir das. Bis auf zwei von denen sind alle tot. Einen habe ich abgemurkst und dann sein Herz gefressen.“ Sein Herz? Wulfiga hatte Vloorieans, Drimbas und Okkas Herz verspeist. Was hatte es damit auf sich, dass Werwölfe Herzen verzehrten? Ich hütete mich davor, die Frage zu stellen. Der Augenblick war der falsche. Innerlich brannte sie mir auf der Seele. Statt zu antworten, warf er Ibor ein Knautschgesicht zu. „Schon gut. Entschuldige“, sagte der sofort. „Geht mich nix an, schon klar. Bin ja nur dein Bruder und das einzige Rudelmitglied neben dir.“ - „Du vergisst Kalanthe“, warf Agelulf ein. „Ach, halt deine Fresse!“, brauste Ibor auf. „Geh, wenn du musst, und hör auf zu nerven.“ Agelulf grollte, seine Lefzen zuckten. Doch er erhob sich und verschwand wortlos. Mir war unwohl. Ohne ihn fühlte ich mich schutzlos vor Ibor, der laut grummelnd seufzte und vermied, mich anzusehen. Was immer ihn aufbrachte, es hatte indirekt mit mir zu tun.

Etwas später, nachdem Ibor schweigend mehrere Felle geholt und sie in der Nähe der Feuerstelle ausgebreitet hatte, entschuldigte er sich für seinen Ausbruch. „Er hat mich immer ausgeschlossen. Von allem“, erklärte er. „Er macht das nicht mit Absicht, aber es kränkt mich. Und dass er dich einfach ins Rudel aufgenommen hat, während er mich zuletzt vor fast fünfzehn Jahren gesehen hat ... Na ja, ist eine Werwolfsache.“ Ich schüttelte verständnisvoll mit dem Kopf. „Nein, nein, ich weiß, was du meinst. An deiner Stelle wäre ich auch böse“, sagte. Seine Augen glänzten. „Böse? Ich bin ihm nicht böse. Er hatte keine Wahl. Nie. Aber ... Ach, egal. Geheule von gestern. Er ist wieder da, er hat dich mitgebracht.“ Er legte das letzte Fell aus und bot mir den Platz darauf an. Zuvor entkleidete ich mich, bis auf meine Unterwäsche. Er war taktvoll und drehte sich in der Zeit weg, in der ich Letztere wechselte. Dann krabbelte ich auf das weiche Fell, das überhaupt nicht kratzte. „Was ist das?“, fragte ich versehentlich laut und griff mit beiden Händen hinein. „Das ist - äh - Wolfsfell“, antwortete Ibor. Ich warf ihm verstörte Blicke zu. „Keine Werwölfe! Normale Schneewölfe aus dem Wald“, erklärte er schnell. Ich hütete mich davor, zu sagen, dass das für mich gefühlt keinen Unterschied machte. „Warum sind sie so weich? Agelulfs Fell ist eher rau“, sagte ich. „Agelulf war lange im Süden, wo es im Winter nicht kalt wird. Deshalb ist sein Fell kümmerlich. Einen harten Winter hier in Muralge würde er ohne Behausung nicht mehr überstehen“, erklärte er. „Ist deins auch so?“ Er grinste verwegen, trat näher und kniete vor mir. „Nur zu, greif hinein.“ Ich hatte Respekt und zögerte. Direkt vor ihm kam ich mir vor wie eine unbedeutende Zwergin. Während die Höhle für mich hoch war und jedes Geräusch schallte, hatte sie für Ibor die perfekte Größe. Aufrecht hätte er nur den Arm nach oben strecken müssen, um die Decke zu berühren. „He! Bist du schüchtern?“, fragte er ohne Vorwurf in der Stimme. „So hatte ich dich nicht eingeschätzt. Ich habe nicht vor, dich gleich jetzt zu überfallen.“ Ja, auch deswegen traute ich mich nicht, ihn zu berühren. Aber da er es ausgesprochen hatte, ging ich in die Offensive. „Darüber sollten wir nochmal sprechen“, meinte ich und fürchtete, ihn zu verärgern. Aber nichts in der Art passierte. „Willst du doch nicht mehr?“, fragte er. Seine Augen strahlten Offenheit aus. Da wurde mir klar, dass Ibor ein Lebemann oder -wolf war, der jeden Tag für sich nahm und in vollen Zügen genoss. Weder sah er zurück, noch sorgte er sich um die Zukunft. In dieser Hinsicht waren Agelulf und er wie Tag und Nacht. Hätte ich geantwortet, dass ich nicht mehr wollte, er hätte es mir nicht übel genommen. „Doch, schon“, antwortete ich und zierte mich. Ich war mit Hemmungen erzogen worden. Alles, was Sexualität betraf, war in meiner Familie mit Scham und Unwohlsein behaftet. Man sprach nicht darüber. Dementsprechend unvorbereitet war ich in der Hochzeitsnacht gewesen, als von meinem Mann und mir erwartet wurde, unter den Augen zweier Zeugen, die unsere Familien gewählt hatten, miteinander zu nächtigen. Er hatte sich damals betrunken, um die lechzenden Blicke zu ertragen. Ich wiederum war verkrampft, was ihm egal war, er hatte dennoch zugestochen. Es war keine angenehme erste Erfahrung, sondern peinlichstes Grauen gewesen. In so eine Situation wollte ich kein zweites Mal geraten. Zum Glück machte Ibor es mir leicht, als er sagte: „Was immer du wissen willst, ich antworte auf alles.“ Das löste den Knoten, nicht meine Nervosität. „Ähm, ich will es. Aber nicht sofort. Ich -“, stotterte ich daher und kam mir vor wie ein unerfahrenes Mädchen. Ibor wartete geduldig, nahm - während ich haspelte - meine Hände und führte sie an seine Taille. Sofort vergrub ich die Finger darin. Sein Fell war weniger weich, als die Wolffelle, auf denen wir saßen, aber die Körperwärme machte es deutlich angenehmer im Griff als diese. Ich entspannte und stellte die unangebrachteste Frage, die mir einfiel: „Hattest du schon viele Frauen?“ Das hatte selbst Ibor scheinbar nicht erwartet und lachte mit weit geöffnetem Maul laut feixend zur Decke hinauf. All die Zähne ... Agelulfs Maul war groß, aber bei seinem Bruder war die Natur großzügiger gewesen. Hätte er mich verschlingen wollen, ich war mir sicher, ich passte von Kopf bis zum Bauchnabel, oder weiter, zwischen seine Kiefer. Nachdem er sich beruhigt hatte, betrachtete er mich amüsiert. „Ich habe mit mehreren Frauen geschlafen. Mit Männern auch.“ - „Wie fanden sie es? Die Frauen, meine ich.“ Grinsend taxierte er mich schief. „Du stellst komische Fragen. Die Frauen haben mich danach verachtet, oder verehrt. Die einen, weil ich ruppig war, die anderen - weil ich ruppig war. Bei dir werde ich vorsichtig sein, du bist kleiner und zierlicher.“ – „Nein, bloß nicht!“, erwiderte ich sofort, worauf er wunderlich die Stirn in Falten legte. Ich räusperte mich. „Agelulf war zwar ... fordernd, als ich mit ihm - na, jedenfalls glaube ich, dass er sich trotzdem zurückgehalten hat. Ich will das nicht. Behandle mich nicht wie zerbrechliches Glas, sondern wie eine Werwölfin.“ Ich glaube, ich hatte ihn beeindruckt, denn für ein paar Momente schwieg er, bis er eine leichte, gespielte Verbeugung andeutete und sagte: „Wie du wünschst, Rudelfrau Kalanthe.“ Er leckte sich lasziv über seine Zähne. „Aber, nicht jetzt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht jetzt. Das wäre zu gewollt.“ Er kicherte dunkel. „Ich finde es lustig und anregend, ich warte gerne. Am Ende kommen wir ohnehin zusammen.“

 

Obwohl ich mich Schlafen legte, blieb ich über eine Stunde wach, während meine Gedanken weite Kreise zogen. Ich drehte und wälzte mich und seufzte genervt. Ich hielt die Ruhe davon ab, mich zu ergreifen und ins Traumland zu überführen. Nervös überlegte ich, ob und wie ich es schaffte, zu einer Träumerin zu werden. So, wie der Junge, von dem Agelulf das Traumtagebuch hatte. Wenn ich mich an meine Träume erinnerte und sie ihm mitteilte, half ich ihm bei seiner Suche. Ich schlug die Augen auf. Das Feuer bestand nur aus glühenden Kohlen, die den Raum spärlich erleuchteten. „Du kannst ihm nicht helfen“, sagte Ibors raue Stimme. Ich drehte mich liegend in Richtung der Schlafhöhle und sah nur unförmige Umrisse. „Egal, was du gerade ausheckst, lass es. Er war schon früher ein Einzelgänger, dem niemand helfen konnte, weil er es nicht zuließ.“ Das wusste ich. Die Zeit, die Vlooriean und er in meinem Heim verbracht hatten, hatte uns nah zueinandergebracht. „Was weißt du über ihn?“, fragte ich. „Dass er mein Bruder ist. Obwohl ich mir dessen manchmal nicht mehr sicher bin. Ansonsten kaum etwas. Wir haben uns zu lange nicht gesehen.“ - „Trotzdem rätst du mir, ihm nicht zu helfen? Denkst du nicht, dass er sich verändert hat?“ Ibor grummelte nachdenklich in der Dunkelheit der Höhle. „Nein, hat er nicht. Das war mir klar, gleich nach unserem Wiedersehen. Werwölfe verändern sich kaum während ihres Erwachsenenlebens. Menschen zwar oft auch nicht, aber bei uns ist das wie eine feste Regel. Wer sich zu stark verändert, gilt als schwach vor anderen unserer Art. Deshalb ist uns Beständigkeit wichtig.“ Beständigkeit? „Dann bist du ein untypischer Vertreter deiner Spezies“, merkte ich an. Er schnaufte. „Ja, stimmt. Ich habe mich oft verändert. Um als Rudelmitglied ohne Rudel zu überleben, war das nötig. Ich bin unter meinen Leuten ein Riese, aber trotzdem ein einsamer Wolf. Und es gibt nichts tödlicheres für uns, als allein zu sein.“ - „Trotzdem bist du hier“, sagte ich, da ich den Unterschied nicht Verstand. „Weil ich mich veränderte, wenn es nötig war, um anpassungsfähiger zu werden. Trotzdem ist es besser, beständig zu sein.“ Nein, das leuchtete mir nicht ein. Beständigkeit war wichtig, aber ohne Veränderung, oder besser Herausforderung, kam nichts zustande. Nach den vielen Jahren sogenannter beständiger Ehe, in denen kaum etwas geschah, ich nichts mehr lernte, war mir Veränderung ein höheres Gut als tonlose Gleichförmigkeit. Aber ich war ein Mensch, weshalb ich niemals nachvollzog, wie Ibor oder Agelulf sich in dieser Hinsicht fühlten. Ibor atmete laut ein und aus. „Mir ist langweilig. Willst du etwas spielen?“, fragte er, was mich überraschte. „Spielen?“, wiederholte ich ungläubig. „Du kannst sowieso nicht schlafen, ich rieche und höre es. Es wäre das erste Mal seit langem, dass ich jemanden dafür habe.“ Nun, wo er recht hatte ... „Kein Versteckspiel“, sagte ich, worauf er prustete. „Nein, nein. Ich würde dich finden, bevor du dich versteckt hast. Das wäre zu einfach.“ Ich schürzte die Lippen und setzte mich auf. „Als Kind haben mich meine Freunde nie gefunden!“, entgegnete ich. Ibor lachte leise. „Das ist auch nicht der Grund, weshalb ich es nicht spielen will“, gestand ich. „Ich habe Angst allein im Dunkeln.“ Jetzt verschluckte er sich fast, räusperte und sagte: „Du bist eine Frau voller Widersprüche, Kalanthe. Mutig bandelst du mit zwei verschlingenden, rünstigen Biestern an, aber vor etwas naturgegebenem, das dir nichts anhaben kann, fürchtest du dich.“ Ich rang um Worte. „Ich weiß es auch nicht. Ich habe die Dunkelheit nie gemocht. Wenn ich nicht alleine bin, ist es nicht schlimm, aber ansonsten ... Ich bin ein Kind des Lichts, denke ich.“ - „Nicht nur du, alle Menschen sind das. Das ist eure größte Schwäche und Stärke zugleich.“ Ich blickte fragend in seine Richtung. „Vergiss es, ist nicht wichtig. Wollen wir jetzt spielen, oder nicht?“ Ich hob ratlos die Arme. „Gern. Aber wir haben kaum noch Licht.“ - „Brauchen wir nicht. Es reicht, wenn du nicht taub bist“, sagte er. „Melodien raten?“, fragte ich ins Blaue und lag richtig. „Ja!“, rief er begeistert. „Kennst du das?“ Jeder kannte das in meiner Heimat. Kinder, Erwachsene, Alte. Wir vertrieben uns damit oft die Zeit und lernten dadurch alte, überlieferte Lieder in- und auswendig. Aber als Wolf ohne Rudel, der niemanden hatte, war es für Ibor wahnsinnig spannend, bekannte und unbekannte Lieder zu erraten. Das war traurig, ich bemitleidete ihn. Alles, was ich für selbstverständlich hielt, hatte er nie gehabt. Wie hatte er es geschafft, trotzdem einen fröhlichen Charakter zu entwickeln? „Ja, ich kenne es. Jedoch weiß ich nicht viele Melodien. Das wird ein kurzes Spiel“, meinte ich. Auf allen vieren kam er aus der Schlafhöhle und setzte sich vor mich hin, wie ein echter Wolf auf Hinterteil und Läufe, was natürlicher aussah, als ich beschreiben kann. Seine Augen ruhten auf mir. „Macht nichts. Ich kenne noch weniger, bis ich ein Lied errate, dauert es lange.“ - „Ich kann dir vorher welche beibringen“, schlug ich vor. Er schüttelte zweimal den Kopf. „Nein, es ist spaßiger zu erraten, was ich nicht kenne. Dadurch lerne ich neue Sachen besser und schneller.“ - „Hast du Muralge nie verlassen, um andernorts Lieder zu lernen?“ Die Logik hinter meiner Frage war dünn bis dämlich, was er sofort ansprach. „Wieso sollte ich den Wald für ein paar Lieder verlassen?“, fragte er skeptisch. Ich kratzte mich an der Wange. „Also, ja - nein. Hm. Was ich eigentlich fragen will, ist, ob du daran gedacht hast fortzugehen? Bevor ich deinen Bruder kennenlernte, war ich auch nur an einem Ort. Jetzt will ich die Welt kennenlernen.“ Er blinzelte. „Deine Sichtweise ist überheblich, du gehst von dir und anderen Menschen aus. Denkst du, ich war mein Leben lang in der Umgebung und habe mich nie weiter als ein paar Kilometer von zu Hause gewagt? Ich bin ein Sohn von Muralge, du kannst meine Lebensweise nicht mit deiner vergleichen. Zwar war ich nie außerhalb, aber der Wald ist groß. Ich habe ihn bereist, war lange unterwegs. Ja, alleine. Doch ich habe Freunde und bin nicht einsam und bedauernswert. Merk dir das, wenn du anderen von uns begegnest, denn wir sind stolz.“ Upps. Da hatte ich einen wunden Punkt erwischt. Selbst wenn er mir sagte, dass er nicht einsam war, glaubte ich ihm nicht. Sonst hätte er nicht so reagiert. „Es tut mir leid, das war unsensibel“, sagte ich reumütig. „Lass es. Ich bin nicht dort, wo ich heute bin, wenn ich sensibel wäre. Ihr Menschen seid ich-bezogen. Das habe ich auf meinen Reisen gelernt.“ Das überraschte mich. „Menschen im Wald?“ - „Ja. Leider. Muralge gehört meinem Volk, seit es uns gibt, aber deine Leute dringen immer tiefer in ihn ein, auf der Suche nach Schätzen, nach Metallen, oder um die Altehrwürdigen zu fällen und mitzunehmen. Wenn ich die Macht hätte, würde ich jeden von euch vertreiben.“ Die Altehrwürdigen. Meine Großmutter hatte mir von ihnen erzählt, als ich ein Kind war. Groß wie Schlösser und Burgen, selten wie Diamanten. Tief versteckt in den größten Wäldern der Welt. Mir war nicht klar, dass sie bedroht wurden. Die Stimmung zwischen uns war am Boden. Ich fühlte mich mitschuldig, denn er hatte recht. Wir Menschen waren für viele andere Völker und die Natur um uns herum zur Plage geworden. Der einzige Grund, warum wir sie nicht zerstört hatten, war, weil wir zu wenige waren, und nach der Seuche noch weniger geworden sind. Ich wagte kaum, einen Ton zu machen, als ich kleinlaut sagte: „Ich verstehe deinen Hass. Morgen, wenn die Sonne aufgeht, gehe ich besser.“ Ibor riss die Augen auf, als ihm klar wurde, was er gesagt hatte. Er schlug sich die Klaue vor den Kopf und grummelte: „Nein, so habe ich das nicht gemeint.“ Ich verzog missmutig das Gesicht. „Und wie du das hast!“, widersprach ich energisch. „Du hast jedes Recht dazu. Ich wäre wütend, wenn jemand meine Heimat zerstört. Ich bin eine Menschenfrau und gehöre zu denen, die das machen. Ich bin nicht besser als andere, ich habe seit meiner Kindheit gelebt, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wo das Holz oder andere Materialien für unsere Werkzeuge oder die Wände unserer Häuser herkommen. Das war immphff -!“ Er hielt mir den Mund zu, beugte sich zu mir und fixierte mich. Ibors Augen - sie waren opalrot geworden und leuchteten. Von dem Türkis war nichts mehr zu finden. Die Iris seines linken Auges hatte mehrere runde Sprenkeln, die heller waren, fast rosa. Daneben bemerkte ich einen Streifen in ihr, der weder rot, noch schwarz, noch dunkelbraun oder irgendwas war. Sein rechtes Auge hingegen war perfekt, die Iris symmetrisch, keine Farbunterbrechungen. „Deine Worte ehren dich und zeigen mir, dass du deinen Verstand einsetzt. Ich habe nur deshalb abfällig von den Menschen gesprochen, weil ich dich nicht zu ihnen zähle. Das liegt an deinem Geruch. Der ist kaum noch menschlich, wenn auch nicht wölfisch. Ich will nicht, dass du gehst. Als dein Rudelbruder verbiete ich es dir. Du gehörst zu uns. Zu gehen ist nicht erlaubt. Verstanden?“ Er ließ von mir ab und mich wieder atmen. Streng sah ich zu ihm empor. Eben selbstbewusst, merkte er, dass er zu weit gegangen. „Als deine Rudelschwester rate ich dir, das nicht nochmal zu machen. Der Mund wurde mir oft im Leben verboten, das lasse ich nicht mehr zu.“ Er legte die Ohren an und sah unangenehm berührt zu Boden. „Tschuldigung“, presste er hervor. Ich war nicht halb so verärgert, wie er dachte, wollte das Thema aber für die Zukunft geklärt wissen. Bei solchen Sachen war Agelulf von Anfang an feinfühliger und hatte sich bisher keine Fehltritte erlaubt. „Schon gut“, wiegelte ich ab. „Nur, mach das nie wieder.“ Er nickte schweigend. „Ich will mehr von dir erfahren“, sagte ich. „Von deinem Bruder weiß ich fast nichts. Er redet nicht viel. Aber du - wenn du magst.“ Ibor überlegte kurz. „Wegen mir, gern“, stimmt er zu. „Aber nicht jetzt, wir haben etwas vor.“ Ich lachte auf. „Ach? Deine Laune ist nicht verdorben?“ - „Wieso sollte sie? Wegen eben? Das war doch nichts. Ist schon begraben.“ Also spielten wir.

Ibors Stimme war betörend. Wenn der Wald eine Entscheidung darüber treffen müsste, durch wen er sprach, hätte er ihn gewählt, um ihn zu verteidigen, für ihn zu sprechen und zu singen. Alle Lieder und Melodien, die er sang, erkannte ich nach dem ersten Ton, nannte die Antwort aber nicht, weil ich ihm gerne zuhörte. Ich lernte, dass Werwölfe zwei Paare Stimmbänder hatten. Also insgesamt vier. Das eine Paar war zum Sprechen, Knurren, Grollen und Grummeln, das zweite, wenn sie sangen, oder heulten. Oder beides gleichzeitig. Denn so, wie Ibor seine Stimme einsetzte, hörte ich keinen Unterschied heraus. Er sang mir ein Lied vor, hätte aber genausogut im Mondschein in die Nacht heulen können. Er war ein begnadeter Werwolf. Ich weiß nicht, ob es an der Art lag, wie er die Melodien darbot, ob an seiner werwölfischen Stimmlage oder etwas anderem, doch allem, was er wiedergab, wohnte eine gewisse Traurigkeit inne, ohne dabei trübsinnig zu sein. Ich fühlte mich umarmt davon. Nach jedem Lied tropften Tränen meine Wangen hinunter, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich fühlte mich danach nicht wehmütig, sondern befreit von der Last innerer Traurigkeit, so als ob er sie aus mir herausgelockt hätte. Warum hatte Agelulf bisher nicht so gesungen? Er musste eine ähnliche Stimme haben, wie sein Bruder, selbst wenn er ungeübt war. Meine Lieder waren im Gegensatz dazu das schrecklich anzuhörende Gekrächze eines Raben. Ich war nicht die schlechteste Sängerin. Zu Hause war ich eine der besten darin gewesen. Doch egal, wie ich mich bemühte, nachdem ich Ibors Gesang gehört hatte, wirkte meine störend, als ob sie nichts mehr in der Welt verloren hatte. In der Mitte des Spiels lachte Ibor mich aus, als ich mich kindisch weigerte, nur zu reden. Sobald er wieder ein Lied anstimmte, schloss ich die Augen. Aber ... beim letzten Mal sah ich ihn offen an und beobachtete, wie er sich dabei gab. Wenn er die Stimme erhob und laut wurde, wuchs er, streckte die Brust vor und tönte aus dem ganzen Körper. Wenn er eine leise Passage sang, sank er in sich zusammen, duckte, legte die Ohren an, und aus dem ganzen war dann ein halber Werwolf geworden. Meine Hände wurden zittrig, mir blieb keine Wahl. Ich streckte die Arme nach ihm aus und versuchte - versuchte - Ibor schnappte knurrend nach mir und erwischte meine Hand. Ich erschrak und schrie auf, zuckte zurück und verletzte mich. Nicht dadurch, dass er zubiss, er ließ sofort wieder von mir ab. Aber nicht schnell genug, ich stürzte rückwärts, wodurch seine Zähne mehrere Wunden in meine Hand rissen. Schwer und dumpf landete ich auf dem Boden und schürfte mir den Ellenbogen des anderen Arms auf, weil ich aus Reflex nach der verletzten Hand griff, während ich fiel. Ich stöhnte schmerzvoll auf und presste die Augenlider zu, weil ich erwartete, von ihm zerrissen zu werden. Ich hatte die Situation falsch eingeschätzt, hatte Ibor falsch eingeschätzt. Er war ein Werwolf, der nicht wie ein Mensch reagierte. Das war ein Fehler, der mir Leib und Leben kostete. Nichts geschah. Für eine Minute hielt ich die pochende Hand und spürte jeden Puls meines Herzens durch den Körper schlagen. Sanft berührte etwas meinen Kopf, sodass ich wagte, die Augen zu öffnen und aufzuschauen. Er hatte sich niedergekniet und seine Klaue auf meinem Kopf abgelegt. Sein Maul war leicht mit Blut verschmiert, das er mit der Zunge säuberte. Er sagte nichts, griff mit der anderen Klaue den Arm meiner verletzten Hand und betrachtete sie eingehend, bevor er sie ableckte. Zuerst zuckte brennender und stechender Schmerz durch den Arm und ich wollte sie ihm wegziehen. Er ließ es nicht zu. Meine Kraft war nichts gegen seine. Wie ein Baum, der eine Blume niederdrückte.

Pah! In dem Moment, in dem er aufsah, ohrfeigte ich ihn mit der freien Hand. Er war schneller als ich und hätte es verhindern können. Stattdessen ohrfeigte ich ihn nochmal, und nochmal. Ich war kein armes Blümchen, das betüddelt werden musste! „Lass mich los!“, zischte ich bösartig. Er schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. Das war alles. Nein. Keine Erklärung, warum. Meine Hand war sauber. Einfach, nein. Er ließ mich nicht. Wie ein Fisch an der Angel. Oder eher wie ein Wurm an der Angelschnur? Ich zappelte wie blöde. „Hör auf, du tust mir weh!“, schrie ich, dabei tat ich mir selbst weh. „Ihr seid doch alle gleich! Wenn ihr jemanden unterdrücken könnt, haltet ihr euch nicht zurück!“ Jetzt ließ er mich los, zumindest dem Schein nach. Denn sofort stülpte er sich über mich, ohne mich erneut zu ergreifen. Ich hätte unter ihm hervorkrabbeln und fliehen können. Ich lag auf der Seite, vor mir sein Arm, daran die Klaue, mit der er sich vom Boden abstützte. Mein Blick glitt hinab und ich entdeckte sein Bein. Muskulös. Ich wandte leicht den Kopf. Ich hatte erwähnt, dass Ibor Gewicht auf den Rippen hatte. Anders als sein Bruder, dessen Bauch straff war, war seiner leicht gewölbt und hing herab. Sein Fell hatte ihn kaschiert. Dahinter, oder eher weiter unten, wuchs etwas und zeigte zum Schluss auf mich, ohne dass ich direkt gemeint war. Ich schluckte und drehte mich auf den Rücken. Ibors Augen. Opalrot und unnahbar nach Nähe lechzend. Er hechelte und blies seinen Atem in mein Gesicht, der süßlich roch. „Stolz wie eine von uns“, rumorte er. Meine Wangen wurden heiß und schmolzen gefühlt wie Schnee in der Sonne. Es war anders, als bei Agelulf. Besser! Mehr Gefühl, mehr Prickeln! Ich wusste nicht, was passierte, obwohl ich wusste, was unausweichlich war. Er lehnte sich hinab, schnupperte geräuschvoll an mir und wie von selbst überdehnte mein Genick, sodass ich Hals und Nacken offenbarte. Er war ein Prädator, ich - in gewisser Weise - seine Beute. Es wäre falsch, zu behaupten, dass ich damit Unterwürfigkeit zeigte. Ich spielte mit der Gefahr, mit dem Biest in ihm, das ich reizte. Ich wusste nichts über Werwölfe oder gewöhnliche Wölfe. Aber von Hunden wusste ich, dass sie sich nicht gegenseitig in ihre Nacken bissen, wenn sie einander bestiegen. Ich ging davon aus, dass es bei Ibor so war und lag richtig. „Sei vorsichtig, sonst reiße ich dich“, grummelte er zufrieden, rieb die kalte Schnauze an mir und fuhr mit der leicht herausgestreckten Zunge über meine Haut. Vor allem dort, wo die Halsschlagader saß, hielt er sich lange auf. Fließendes Blut war verführerisch für jeden von ihnen. Das hatte ich schon bei Agelulf gelernt. Er zog die Gliedmaßen zusammen, spätestens jetzt war ich gefangen. Seine linke Klaue schob sich unter mein Schlafkleid und bedeckte meine Brüste, die er nicht massierte, nur berührte, was eine Explosion aus Verlangen und Lust verursachte. Seine Rechte wanderte hinab, zog erst eins meiner Beine, dann das andere auseinander. Er streichelte dessen Innenschenkel und langsam, nur zentimeterweise, schob er sie dazwischen und bedeckte mich dort. Ohne etwas zu tun, ohne sie zu bewegen. Er brachte mich dazu - ich konnte nicht anders - es war – !. Aufstöhnend vergaß ich jeden Schmerz, bedeckte mit der rechten Hand seine Klaue auf meiner Brust, die ich rieb und bewegte, damit er mich dort endlich massierte. Mit der Linken griff ich die andere Klaue, grabbelte nach zwei Krallen und - ... schob sie hinein. Im selben Moment stülpte er das leicht geöffnete Maul über meinen Mund und suchte den Weg zwischen den Lippen hindurch. Dann bewegte er die beiden Krallen und knetete meine Brüste. In dem Moment verstand ich, was Agelulf gemeint hatte, als er mir Wochen zuvor erklärte, er bestehe aus Liebe. Ibor bestand aus ihr. Der echten, ungefilterten Art der Liebe. Und ich genauso. Wir zogen einander an. So, wie es sein musste. Selbst wenn der Ort ein anderer oder die Situation verschieden gewesen wäre, wäre das hier passiert. Unausweichlich. Ob Ibor und ich eine Konvergenz bildeten, so wie Okka sie bei Agelulf gesehen hatte? Die Nacht wurde laut, schmerzvoll und voll von Begehren sowie leidenschaftlicher Ergänzung unserer Körper.

 

Ich war übersät mit blauen Flecken, Kratzern und leicht blutenden Bissen. Ibor hatte nicht gelogen, er hatte mich behandelt wie eine Werwölfin. Obwohl - nein, sogar rabiater. Eine Partnerin seiner Spezies hätte niemals mit sich machen lassen, was er an mir ausgelebt hatte. Er hatte es selbst gesagt, seine Leute waren stolz. Nicht immer spielte Lust eine Rolle, manchmal hatte er Frust abgelassen und mich bellend in einer Sprache beleidigt, die ich nicht verstand. Einmal glaubte ich, das Wort ‚Ura‘ gehört zu haben, was ein Begriff für Mutter, Schwester, Frau und Bauch bedeutete. Da ich früher manches Mal mit Werwölfen zu tun hatte, wusste ich die ein oder andere Übersetzung.

Wir waren erschöpft. Ich lag auf ihm und dachte darüber nach, dass ich zum Schluss auch auf Agelulf gelegen hatte. Genau wie er liebte es Ibor, zum Ende hin beherrscht zu werden. Oder es war eine Angewohnheit ihrer Art, dass Männer balzten, aber Frauen körperlich die Führung übernahmen. Ich hatte Durst und wäre gerne aufgestanden, was aber nicht möglich war. Ibor war in mir. Ihn herausziehen, war wegen des Umfangs des geschwollenen Knotens nicht möglich. Was das betraf, waren Werwölfe ihren tierischen Verwandten ähnlich. Ich war gefangen, auf ihm, um ihn, mit ihm. Und während der einen Stunde nach dem Höhepunkt erlebte er drei weitere. Das war neu für mich. Bei Agelulf hatte ich zwar die höchste Lust erreicht, er aber scheinbar nicht, wie ich jetzt erkannte. Nur, warum nicht? Ich war neidisch auf ihn und Ibor. Warum erlebten Menschen nicht mehrmals das, was er erlebte?

Für eine Frau war es ein langer Weg bis zum körperlichen Gipfel, auf dem alles bedeutungslos wurde. Dafür war es dann so, als ob ich losgelöst war und in mir selbst schwebte. Eine alte Ordensschwester des Mur in meinem Dorf hatte es mir einmal erklärt. In ihren jungen Jahren war sie ein Mädchen für alle Männer gewesen, bevor sie der Körperlichkeit entsagte. Sie sagte, dass Männer zwar schneller können, aber ihr Empfinden an Grenzen stieß, die sie nicht zu überwinden in der Lage waren. „Aber wir“, hatte sie mit erhobenem Finger inbrünstig gesagt, „wir kennen solche Grenzen nicht. Wenn ein Mann uns aufrichtig begehrt und unseren Körper kennenlernt, hilft er uns, Stufen zu erklimmen, die weit jenseits jeder Vorstellung sind.“ Sie hatte das die Verzückung genannt, die gleichzusetzen war mit Mur, den sie verehrte. Deshalb war es bei den Jüngern und Jungfern des Gottes nur Frauen möglich, höhere Ämter einzunehmen. „Aber lass dich nicht täuschen“, hatte sie verschmitzt gesagt. „Wir brauchen die Männer nicht unbedingt, um verzückt zu werden. Mit ihnen ist es nur leichter.“ Ich war achtzehn gewesen und erst dabei, erste Erfahrungen zu sammeln. Ibor hatte mich zur Verzückung und damit zu Mur geführt. Wenn es stimmte, was sie mir beigebracht hatte, war kein einziges seiner Erlebnisse so intensiv wie das, das er mir geschenkt hat. Ich kämpfte mich aus meinem leichten Schlaf wieder hervor, zog die Arme an und stützte mich auf dessen Brust ab, um ihn anzusehen. Er betrachtete mich, seine Augen leuchteten nicht mehr. Sie hatten ihre normale Farbe wieder angenommen. „Was ist?“, fragte er, seine Lefzen waren mit ein bisschen Blut benetzt. „Steh nicht auf. Er ist noch zu -“ - „Ich weiß“, unterbrach ich ihn harsch. „Sei ruhig.“ Zuerst dezent und langsam, dann deutlich und rhythmisch bewegte ich den Unterleib, verankerte meine Finger so fest in seinem Bauchfell, dass es ihm unangenehm sein musste, spreizte die Beine weiter, als sie schon waren. „Ich werde dich zur Verzückung führen“, entschied ich.

 

Ein Hauch weckte mich, ich wollte weiterschlafen, murmelte unverständlich und drehte mich weg. Der Hauch blieb und blies unangenehm in meinen Nacken, sodass ich letztlich verschlafen die Augen öffnete und mich umsah. Ibor war fort. Die Stelle neben mir verwaist, er hatte mich mit Fellen zugedeckt, die von mir heruntergerutscht waren, als ich mich im Schlaf bewegt hatte. Deshalb und wegen der kalten Morgenluft, die durch das Deckenloch und den Höhleneingang eindrang, frierte mich. Ich war alleine. Ich war lange alleine und einsam gewesen, die Gesellschaft mit Agelulf und jetzt mit Ibor war die dringende Heilung, die meine Seele brauchte. Ich zitterte, ein kleiner, flüsternder Teil in mir fürchtete, verlassen worden zu sein. Das war unsinnig, ich wusste das, aber es war so. Ohne jemand anderen fühlte sich die Behausung leer und abweisend an. Selbst das hell strahlende Licht, das von draußen einfiel, schaffte nicht, mich zu trösten. Ich setzte mich auf und streckte mich, ein paar Knochen knackten. Dann sah ich an mir herab und war verwundert. Es waren mehr Verletzungen, als ich gedacht hatte. Vor allem an Schenkeln und der Brust, dort fand ich die meisten Abdrücke von Ibors Gebiss und blaue Flecken. Mein Rücken schmerzte nicht nur wegen meiner Knochen, sondern weil er völlig zerkratzt war. Das sah ich zwar nicht, doch sobald ich mit einer Hand darüber strich, spürte ich den Schorf und meine Haut brannte sofort. Als wäre das nicht genug, hatte ich Unterleibsschmerzen. Ich verdrehte die Augen über mich selbst, weil ich unvernünftig gewesen war und Ibor sofort in mich hatte eindringen lassen. Er war für einen Werwolf nicht überaus gut bestückt, hatte aber wegen der Größe ihrer Spezies für eine Frau wie mich einen langen Schlagstock. Ich untersuchte mich unten herum. Gereizt und rot. Sobald ich mich dort berührte, strafte mich mein Körper und zuckte zusammen. „Du siehst schlimm aus“, sagte jemand. Abrupt hob ich den Kopf, es war Agelulf. Er war durch den Eingang eingetreten, leise und geräuschlos wie eine Katze. Reflexartig nahm ich ein Fell und bedeckte mich. Gleichzeitig war ich erleichtert, ihn zu sehen. „Was nützt das? Ich habe dich bereits nackt gesehen“, sagte er und machte mich darauf aufmerksam, wie unnötig mein Verhalten war. Dennoch hielt ich das Fell an mich gedrückt. „Wo ist Ibor?“, fragte ich zögerlich. Warum war ich unsicher? Wo war die selbstbewusste Kalanthe von letzter Nacht? Agelulf wies mit einem Kopfnicken zum Höhleneingang. „Draußen. Er jagt. Nicht, um uns etwas zu Essen zu holen. Was du auch gemacht hast, du hast ihm eine Menge Kraft gegeben“, antwortete er, überlegte kurz und sagte: „Danke dafür. Es geht ihm gut. So fühlte er sich lange nicht.“ Dann taxierte er mich. „Aber du siehst nicht gut aus. Ich hatte dich gewarnt“, warf er mir vor. Ich räusperte mich. „Letzte Nacht war ... fordernd gewesen“, gab ich zu. „Es war jeden Schmerz wert.“ Er nickte. „Ich weiß. Du brauchtest das. Und er brauchte dich. Das ist mir klar geworden, nachdem ich euch alleine gelassen habe.“ Ich sah ihn fragend an. „Ach, ja?“ - „Ihr seid eins geworden, habt einander ergänzt und seid jetzt mehr, als vorher. Mehr, als allein. Mein Bruder verehrt dich dafür, dass du ihm geholfen hast, mehr er zu werden.“ Ich dachte ein paar Moment über seine Worte nach. „Du meinst, dass du nicht der einzige bist, der sich auf dieselbe Art weiterentwickelt, wie du?“ Er sah mich lange an, schritt herüber und kniete sich neben mich. Dann umfasste er rigoros meinen Hals und drückte mir leicht die Luft ab. Anstatt um mein Leben zu kämpfen, nach ihm zu treten und zu schlagen, hielt ich weiter das Fell an mich gedrückt und erwiderte seinen Blick standhaft. Er lächelte seicht, ich glaubte, einen gewissen Stolz in seinen Augen zu erkennen. „Damit will ich sagen, dass sich jeder entwickelt. Unterschiedlich, niemals gleich oder auf dieselbe Weise zweimal. Ich bin ein Mörder, Leichenzerfetzer, Herzenfresser und gerade dabei, dich zu erwürgen.“ Sein Griff wurde fester und fester, bis ich allein von der Luft in meinen Lungen zehrte. „Aber du tust nichts. Du vertraust darauf, dass ich dich leben lasse, weil du weißt, dass du ein Teil von mir bist. Und wenn nicht, heißt du den Tod willkommen, weil du das Leben in den letzten Stunden mit Urrdat gefeiert hast.“ Er erlaubte, mir wieder zu atmen, ließ aber nicht los. „Urrdat?“, fragte ich. „Wer -?“ Moment! Gestern war Ibor aufgeregt darüber gewesen, das Agelulf zu Varwúlfur geworden war. „Ibor“, antwortete er. „Er ist jetzt Urrdat Úlvetand. Er ist immer noch Ibor, so wie ich trotz allem für dich Wulfiga bin. Aber wir haben uns weiterbewegt und sind jetzt mehr. Jeder auf seine Weise. Das ist bei allen Werwölfen so, die nicht vergessen haben, woher wir kommen und wer wir sind.“ Ich schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. „Aber, wie?“, fragte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ... „Die Verzückung?!“, rief ich aus. Agelulf legte den Kopf schief. „So hat Urrdat es auch genannt. Ich weiß nicht, was er meinte, es nicht Teil meiner Entwicklungserfahrung, deshalb werde ich ihn nie verstehen, was das angeht. Aber es gehört zu seinen Stufen, um der zu werden, der er sein soll, muss und wird.“ Ich war überwältigt. Ich hatte es geschafft, einen kräftigen Werwolf wie Ibor - oder Urrdat? - auf eine höhere Stufe zu heben? Agelulf beugte sich vor, nahm meinen Arm und säuberte in der nächsten Stunde meine Wunden.

Frisch gereinigt wusch ich mich gleich nochmal mit Wasser. Zwar stank sein Speichel nicht und meine Verletzungen waren sauber, dennoch fühlte ich mich nicht wohl. Dazu führte er mich an ein nahe gelegenes Bächlein. Das Wasser war eisig, aber belebend. Ich zitterte hinterher und genoss jede Sekunde, als nach und nach Wärme jeden Teil meines Körpers überschwemmte. Während ich mich danach mit einem groben Tuch abtrocknete, lauschte ich nach den Geräuschen des Waldes. Aber abgesehen vom Plätschern des Wassers war es still. Kaum ein Zwitschern von Vögeln. Dafür nahm ich ein panisches pfeifendes Aufschreien wahr. Ein Tier, das verendete? Gleich darauf wildes, bellendes Knurren und Grollen, das näher war. Ich sah mich um und versuchte, die Richtung auszumachen. „Urrdat?“, fragte ich Agelulf, der ein paar Meter entfernt entspannt in der Hocke saß, die Augen geschlossen hatte und aussah, als meditiere er. Er nickte wortlos. Wie er wohl jetzt war? Hatte er sich verändert, so wie Wulfiga, als er zu Agelulf wurde? Hatte Agelulf sich denn verändert, oder bildete ich mir das nur ein? Doch, hatte er. Vorher war er unsicherer und unberechenbarer gewesen. Das war er immer noch, aber auf beherrschte Art, in gelenkten Bahnen. Es fiel mir schwer, mich damit auseinanderzusetzen. Für die beiden war es normal, sich charakterlich auf Hauruck zu verändern. Bei uns Menschen bedeutete eine solche Verhaltensänderung nichts Gutes. Ich hoffte, dass Ibor - ... Urrdat nicht wegen mir seine Leichtigkeit verloren hatte, und fragte mich, ob das für ihn der erste Schritt gewesen ist, oder ob er schon mehrere hinter sich hatte. Agelulf fragte ich nicht, da es nicht seine Sache war, mir das zu offenbaren. Dafür eine andere. „Wie bewegst du dich weiter?“, fragte ich in die nur durch Jagdgeräusche durchbrochene Stille hinein. Jetzt öffnete er doch die Augen, sah mich an und fixierte mich. „Wenn du das bisher nicht herausgefunden hast, hast du dir das Recht nicht verdient, es von mir zu erfahren“, antwortete er und wies mich ungehobelt ab. Ich schürzte die Lippen, um zu einer patzigen Erwiderung anzusetzen, überlegte es mir und sagte stattdessen: „Du gehst den Weg der Geister.“ Ein Augenaufschlag. „Das ist richtig. Aber das ist noch nicht alles.“ Ich war ungeduldig, es zu erfahren, doch mir war klar, dass ich es nicht verstand, selbst wenn er es mir erklärte. Zu Beginn unserer Reise hatte er mir gesagt, er müsse mir erst von ihnen, den Geistern, erzählen, damit ich ihn und die Folgen seiner Handlungen verstehe. „Wer war der dritte Geist?“, fragte ich und setzte dort an. Er zeigte mir die Zähne, ohne zu lächeln oder zu grinsen. Seine Miene war nicht bedrohlich, er nicht verärgert, aber gruselig fand ich ihn in dem Moment dennoch. „Du hast dich auch weiterbewegt, Kalanthe“, sagte er. „Wie wir. Du denkst wie eine von uns.“ Er stand auf und blieb dabei gebeugt. Warum stellte er sich nicht in voller Größe auf? Etwa, um mir das Gefühl von Sicherheit und geringer Gefahr zu geben? Wenn es so war, sollte er es besser wissen. Zu oft hatte er schon die Bestie freigelassen, als dass ich mich von seiner lieblich gezeigten Seite beeinflussen ließ. Andererseits zeigte es Wirkung. Das war mir peinlich vor mir selbst, da es ein Instinkt war, der mir ein Gefühl von Unbedarftheit gab. Dass ich mich von meinem Körper dadurch manipulieren ließ, gefiel mir nicht. War das der Fehler, den wir Menschen blauäugig immer wieder begingen, indem wir verkrampft versuchten, unsere Natur zu kontrollieren, anstatt ihr zu folgen? Als Mensch war ich schwach, als Frau leider schwächer. Im Dunkeln sehen wie Agelulf und Urrdat konnte ich nicht, meine Ohren waren zu mickrig, um weit entfernte Geräusche zu hören, die Nase nicht zu gebrauchen, schnell rennen nicht möglich, und ich hatte keine Krallen und Klauen, um mich zu wehren oder anzugreifen, wenn ich mich verteidigte. Trotzdem gab es etwas, was anders war. Das hatte Okka zu Agelulf gesagt. Er hatte zwar von unserer Fähigkeit zu träumen gesprochen, doch ich fragte mich, ob es nicht weit mehr Begabungen gab, in denen wir anderen voraus, und die tief in jedem Menschen begraben waren? Versuchten wir deshalb so verzweifelt, uns auf der Welt zu zeigen und zu herrschen, weil wir die vergessenen Fertigkeiten suchten, die uns die Natur gegeben, wir aber selbstherrlich von uns gestoßen und dann verloren hatten? „Was ist?“, fragte Agelulf und sah mich schief an. Es passierte in letzter Zeit öfter, dass ich ihn gedankenverloren betrachtete, was er nicht zu leiden schien und mich ansprach. Machte ich ihn nervös? Ich erhob mich und kleidete mich in meine mitgebrachten Gewänder ein. Mir war immer noch kalt, aber es wurde wärmer, sobald ich in einen dicken Wollpullover und ein Kleid mit drei Unterkleidern angezogen war. Dann sah ich ihn an. „Willst du nicht antworten?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Nicht hier, das ist der falsche Ort. Ich führe dich woanders hin“, antwortete er und verließ mit mir das kleine Idyll.

Während wir durch den Wald schritten, ich hastig, Agelulf gemütlich langsam, fiel mir der Weg unter uns auf. Er war mir Laub und Blättern bedeckt, sodass man ihn nicht direkt sah. Alt und ausgetreten. Nicht so, wie ein gewöhnlicher Pfad, auf dem nichts mehr wuchs und die blanke Erde ihre Haut zeigte. Es war ein Weg der Werwölfe, den vorher vermutlich kein Mensch je gegangen war. Über den Gedanken atmete ich schnappend ein, sah auf und in Agelulfs Rücken, als mir klar wurde, wie viele Geheimnisse er und sein Bruder mit mir teilten, ohne dass ich sie bemerkt hatte. Ich blieb stehen und sah mich aufmerksam um. Sie waren überall. Was ich für gewöhnlichen Waldboden gehalten hatte, als wir das Bächlein aufgesucht hatten, war in Wahrheit ein dichtes Netz aus alten und neuen Wegen, Pfaden, Straßen, Ver- und Abzweigungen. Sie stampften nicht blind und ohne Sinn durch ihren Wald, sondern achteten darauf, die Pflanzen ihrer Heimat nicht unnötig zu zerstören. Wie viele Generationen von Werwölfen sie schon genutzt hatten? Agelulf war nicht stehen geblieben, obwohl er gemerkt haben musste, dass ich nicht mehr hinter ihm war. Durch seine großen, gleichmäßigen Schritte war er schon einige Meter voraus und verschwand bald zwischen den Gebüschen und Bäumen. Ich eilte hinter ihm her, achtete nicht auf den Untergrund, blieb mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und fiel geräuschvoll fluchend zu Boden. Dabei schlug ich unglücklich mit dem Knie auf. Zwar schrie ich nicht, aber leise war ich eben auch nicht. Dadurch kam ich mir wie ein Störenfried vor. Das gab nicht nur einen blauen Fleck, im schlimmsten Fall hatte ich mir mein Bein verstaucht. „Verdammt ... Warum ich ...?“, jammerte ich in mich hinein, atmete ein und aus, schob den Rock zurück und sah mir die Stelle an, die anschwoll. In meinen Augenwinkeln nahm ich von einer Bewegung Notiz und richtete den Blick danach aus. Da stand - Urrdat? Ich erkannte ihn nicht sofort, weil er über und über mit Blut beschmiert war. Erst seine türkisfarbenen Augen verschafften Gewissheit. „Schmerzt es sehr?“, fragte er. Er stand etwa ein Dutzend Meter entfernt neben einer Fichte, in die er die Krallen seiner Klaue hineinbohrte. Die nach Außen hin gezeigte Ruhe war aufgesetzt. Für dieses Mal hörte ich auf meine schreienden Instinkte, antwortete nicht und erstarrte. Obwohl er wie Ibor aussah und mich mit denselben Augen betrachtete, war er nicht er selbst. Damit meine ich nicht, dass er zu Urrdat geworden war. In seinen Augen glänzte Wahnsinn, ausgelöst durch die Blutlust, die ihn in eine tranceartige Ekstase gestoßen hatte. Eine falsche oder zu schnelle Bewegung und ich war seine nächste Beute. „Ich kann dir helfen, dass es aufhört“, sagte er. Dabei tropften Speichelfäden vermischt mit Tierblut auf den Boden. Mein Herz übersprang einen Schlag, die Iris seiner Augen verengte, Lefzen zuckten zur monströsen Fratze. Er stob auf mich zu, sein Maul weit geöffnet, die Zunge wie eine schlaffe, nasse Fahne heraushängend. Grollend, knurrend. Ein Herzschlag und er war bei mir. Dann kam Agelulf.

 

Ich bin mir nicht sicher, ob Urrdat mir etwas angetan hätte. Alles sprach dafür, aber in dem einen kleinen Augenblick, bevor Agelulf ihn bellend angriff, um mich zu retten, hatte er innegehalten und mich nicht überrannt. Eine Sekunde später war er aber wieder blutrünstig. Wäre Agelulf nicht zurückgekommen, würde Urrdat jetzt in meinen Eingeweiden wühlen und auf Knochen kauen. Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher. Jetzt lag er da. Nein, er war nicht tot. Bewusstlos, nicht tot. Agelulf hatte ihm eine Narbe an der Schläfe verpasst, so fest war sein Schlag gewesen. Der Boden bebte, als ob man einen Baum fällte, als Urrdat umfiel. Fast auf mich drauf, ich hatte mich gerade noch gerettet. Anschließend hatte Agelulf nicht gezögert, mich sofort aufgehoben und war mit mir im Arm davongelaufen. Das fand ich merkwürdig. Die Gefahr war vorbei, warum wegrennen?

„Er hätte es wieder versucht“, erklärte er mir außer Atem in dem Unterschlupf, zu dem er mich brachte. Eine alte, baufällige Hütte, deren Dach vor Jahren eingestürzt war. „Er ist noch nicht soweit. Er steckt in der Wilden Hatz. Wenn sie vorbei ist, darfst du wieder zu ihm. Vorher nicht.“ Vorsichtig legte er mich ab. „Du hast großes Glück gehabt. Seine Vernunft hat dich einen Moment lang beschützt, den es brauchte, damit ich dich da raushole.“ - „Du - hast es bemerkt?!“, rief ich aus, machte eine unbedachte Bewegung und sog zischend die Luft ein. Mein Knie pochte furchtbar, es war kaum auszuhalten. Die Blessuren der letzten Nacht waren nichts dagegen. Agelulf achtete nicht darauf, nickte und sagte: „Wir sind keine Wilden, Kalanthe. Selbst wenn er sich nicht unter Kontrolle hatte, hat ein Teil von ihm den Rest für eine Weile gehindert, dir etwas anzutun. Ich glaube sogar, Urrdat - der vernünftige Urrdat - wusste das. Hätte ich länger gebraucht, hätte er wahrscheinlich alles daran gesetzt, sich selbst von einer törichten Tat abzuhalten.“ Ich sah ihn kritisch an. „Aber du weißt es nicht mit Sicherheit, oder?“, fragte ich skeptisch. „Nein. Weil es Sicherheit nicht gibt. Du bist hier, du lebst und bist nicht Teil von Urrdat geworden, sondern immer noch Teil von mir. Alles andere ist unwichtig.“ Er sah sich langsam in dem Raum um, in den er mich gebracht hatte. Ich saß auf einem morschen Tisch, dessen Beine gebrochen und die Tischplatte auf der einen Seite schief auf dem Boden auflag. Sie war mit Moos bewachsen, der leicht feucht war. „Wo sind wir?“, fragte ich. Agelulf streckte die Schnauze in die Luft. „Willkommen in meinem zu Hause“, sagte er. „Hier lebte ich, bevor ich adoptiert wurde.“ Wie sehr ich mir auch vorstellte, dass er hier gelebt hatte, es gelang mir nicht. Selbst wenn das Haus nicht baufällig gewesen war, war es kein angenehmer Ort, um aufzuwachsen. Ohne dass ich fragte, reichte mein Blick aus und Agelulf sagte: „Über diese Zeit werde ich nicht sprechen. Sie verdient, vergessen zu werden, denn es waren verschwendete Jahre, ohne Sinn in denen wir nur überlebten.“ Schade, aber ich konnte es nachvollziehen. Mich plagten genauso Erinnerungen, nach denen er bisher nicht fragte, und ich sie nicht mit ihm zu teilen plane. Manchmal war es besser, gewisse Kapitel für immer verschwinden zu lassen, sonst beherrschten sie einen irgendwann. „Was ist die Wilde Hatz?“, fragte ich. „Sch!“, machte er, damit ich still war. Was war los? Ich lauschte aufmerksam, hörte aber nichts ... Oder, doch? Da war ein Wimmern? Weit weg, in der Ferne. Von wo es stammte, konnte ich nicht ausmachen. Aber das war nicht der Grund, weshalb ich still sein sollte. „Du bist verletzt, gerade dem Tod entgangen und hast eine andere Frage gestellt, die du durch eine neue ersetzt. Entscheide dich, was am wichtigsten ist, damit fangen wir an.“ Ich war wie vor den Kopf gestoßen, denn er hatte recht. Es war merkwürdig, weil ich vollkommen anders reagierte, als jemand in so einer Situation reagieren sollte. Ich hätte Angst haben, sogar in Panik ausbrechen sollen. Furcht empfand ich, aber nur kurz, in dem Moment, in den Urrdat auf mich zugestürmt war. Danach waren meine Gefühle wie betäubt gewesen. Ich hatte es früher oft erlebt, dass Leute, die nur knapp mit dem Leben davongekommen waren - bei einem Unfall, Überfall oder etwas anderem - später weinend zusammenbrachen, als sie den Moment auf sich hatten wirken lassen. Aber bei mir, nichts. Mir wurde klar, dass ich bei allem, was passierte und passieren würde, eine Billigung oder ein inneres Einverständnis erreicht hatte, anzunehmen, was mich erwartete. Mit dem Gedanken im Kopf sah ich Agelulf erneut an. War er irritiert darüber, wie ich mich gab? Dass ich überhaupt keine Reaktion zeigte? Er sah mich an, wie oft, wenn er schwieg, aber mittlerweile war ich in der Lage, seine Blicke zu unterscheiden. Dieser hier war wunderlich und interessiert, dabei zugleich misstrauisch, wie der einer Katze, die nicht entschieden hatte, was sie von dem hielt, was sie beobachtete. „Es geht mir gut“, sagte ich. „Nein, tut es nicht. Aber du bist wacker. Das imponiert mir.“ Es imponierte ihm? War es angebracht, mir in meiner Lage so etwas zu sagen? Eher nicht. „Wie hast du dich entschieden?“, fragte er. „Mein Bein, es schmerzt“, sagte ich. Das alleine reichte und er verschwand durch den Türsturz, dem die Tür fehlte.

Wenig später versorgte er mich mit Muralge-Wurz. Im Rest der Welt kannte man es als Alraune. Eine echte Alleskönnerin unter den Heilpflanzen. Die Anwendung war simpel. Kleindrücken oder -hacken und die Paste mit einem Verband auf der Wunde anbringen. Agelulf kaute den Wurz und legte den Brei auf mein Knie auf, dann Blätter darauf, nahm den Saum meines Kleides und riss ein Stück davon ab, das er dann um mein Bein wickelte und festzurrte. Das war es schon. Dachte ich. „Du hast so viele kleine Wunden von letzter Nacht, dass es besser ist, wenn du sie isst“, meinte Agelulf. „Eine Entzündung bedeutet hier im Wald schnell den Tod.“ Das gefiel mir überhaupt nicht, denn der Wurz war bitter und sauer zugleich. Die meisten erbrachen, wenn sie ihn zu sich nahmen. „Er ist zu hart zu schlucken“, entgegnete ich, um von der Idee abzuraten. Das war nicht gelogen, manche bissen sich dabei die Zähne aus. Agelulf blinzelte mich an, wie eine Mutter ihr Kind. Er nahm einen, entfernte in einem kleinen mit Wasser gefüllten Bottich die störende Erde und sagte dabei: „Dann kaue ich ihn dir vor.“ Vorkauen? Und dann ...? Er nahm die Pflanze ins Maul, kaute und kaute geräuschvoll und lehnte sich zu mir vor. Bevor ich mich wehrte oder zurückzuckte, drückte er seine Schnauze auf meinen Mund und hielt mit einer Klaue meinen Kopf fest, damit ich nicht auswich. Mit den Krallen der anderen drückte er auf mein Kiefergelenk, sodass ich den Mund aufmachten musste. Ich hob meine Arme, ohne zu wissen, wohin mit ihnen, ballte die Hände zu Fäusten und zitterte. Mit seiner Zunge portionierte Agelulf den Brei, führte ihn mir zu und - in meinen Mund hinein. Er fütterte mich. Ich - ich weiß nicht, wie das beschreiben soll. Ich schmeckte die Alraune nicht, nur Agelulf. Stück für Stück leise schmatzend aß ich den Wurzbrei und wünschte mir, dass er niemals aufhörte, mich zu versorgen. Danach war ich wie betäubt. „Machen das auch Wölfinnen mit ihren Jungen?“, fragte ich halb benommen. Er schüttelte den Kopf. „Wolfjunge brauchen keine Hilfe beim Kauen, sobald ihre Zähne stark genug sind.“ - „Ich kam mir vor wie ein Küken“, sagte ich unbedacht, worauf er schnaufte. „Du vergleichst mich mit einer Vogelmutter, die ihre Beute auswürgt, um ihren Nachwuchs zu füttern? Hat es dir nicht gefallen?“ Ich sah ihn schief an. „Wieso sollte mir das gefallen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte den Eindruck.“ - „Ja, hat es“, gab ich zu. „Womit haderst du dann?“, fragte er. War er zum Gedankenleser geworden? „Dein Bruder und du. Wegen euch verstehe ich nicht mehr, was in mir vorgeht. Ich zeige Seiten, die ich vorher nicht hatte.“ - „Das stimmt nicht“, entgegnete er sofort. „Das sind Facetten deines Selbst, die schon immer da waren und im Dunkeln lagen. Jetzt fällt Licht auf sie und sie glänzen.“ Mit seiner Metapher machte er es sich bequem. „Zudem darfst du nicht denken, dass Urrdat und ich nicht genauso Züge an uns entdecken, denen wir uns vorher nicht bewusst waren.“ - „Nein?“, wunderte ich mich. Das überraschte mich, da beide auf mich wie wissende, alte Seelen wirkten, obwohl sie jünger waren als ich. Er lächelte schief und zeigte dabei zwei, drei blitzende Zähne. „Du bringst uns beide dazu, an Grenzen zu gehen und sie zu überschreiten, wie umgekehrt wir dich dazu bringen, dasselbe zu tun. Vor allem ich lerne von dir mehr über mich selbst“, erklärte er. „Und was Urrdat angeht, wird er dich nicht mehr in Ruhe lassen, sobald er wieder bei Verstand ist.“ Das erinnerte mich an die Frage, die ich eben schon stellte: „Was ist die Wilde Hatz?“ Seine Miene veränderte sich, wurde ernst und er sah durch mich hindurch. „Etwas, nach dem du nie wieder fragen darfst.“ Keine Antwort. Es war das erste Mal, dass er mit deutlicher Endgültigkeit eine verweigerte. Es bedeutete, dass ich nicht versuchen brauchte, ihn dazu zu löchern, weil er mir niemals eine Erklärung gab. Ich fühlte mich deswegen von etwas ausgeschlossen. „Nimm es mir nicht böse. Es gibt Dinge, die wir Werwölfe anderen lieber nicht teilen. Wolfsräude gehört dazu, aber eben auch die Wilde Hatz.“ Das mochte so sein, doch ich ließ nicht locker. „Wenn ich ein Teil von dir bin, bin ich ohne Wahl gebunden. Dann habe ich das Recht, es zu erfahren. Das ist das Mindeste, was du mir für meine erlangte und wieder gestohlene Freiheit geben kannst.“ Agelulf Augenbrauen wanderten aufeinander zu, seine Lefzen zuckten gefährlich verärgert. „Als Teil bist du kein Ganzes. Du hast weder Rechte noch Freiheiten. Alles, was du bisher mit mir oder mit Urrdat erlebt hast, habe ich erlaubt“, grollte er unterschwellig. Das war absurd! „Solange ich einen eigenen Geist habe, bin ich niemandem -!“ Er machte einen Satz nach vorn, überfiel und presste mich auf den Tisch, eine Klaue um meinen Hals gelegt, die andere gespitzt auf die Brust gerichtet, um sie zu durchstechen. „Fordere mich nicht heraus, Welpe!“, knurrte er und starrte mich nieder. Doch der bedrohliche Moment war schon vorbei, sobald ihm das letzte Wort rausgerutscht war. Über sich selbst irritiert, ließ er von mir ab und setzte sich vor mich hin wie zuvor. Ich rieb mir den Hals, mein Knie pochte, ich taxierte ihn eindringlich. „Ich bin nicht dein Welpe“, zischte ich. „Wenn, dann bist du meiner.“ Er sah weg, es war ihm unangenehm und peinlich. „Seit du bei mir bist, bringst du mich in Rage“, sagte er. „Dabei erinnerst du mich an ihn.“ Wen? Vlooriean? Der war aufmüpfiger gewesen. Ich überging das, es nützte nichts, wenn ich mich aufregte und ihn zu Weißglut brachte. Ich wäre manchmal gerne genauso durchsetzungsfähig wie er. Ich seufzte genervt. „Ob ich ein Teil von dir bin, ist egal. Du wirst nicht mit mir umspringen, als gehöre ich zu deinem Schwanzansatz“, sagte ich warnend, worauf ich doch wieder seinen Blick einfing und mit ihm ein kurzes nonverbales Gefecht austrug, das keiner gewann. Ich musste nicht knurren und grollen, um meiner Meinung Nachdruck zu verleihen. „Ich werde dich eines Tages fressen“, erwiderte er so ernst, dass es gespielt war. Ich verzog die Miene. „Lass uns das auf einen anderen Tag verschieben, sonst kommst du wirklich in Versuchung“, meinte ich. „Jeden Tag“, kommentierte er. „Der nächste Geist. Wer war er?“, fragte ich und lenkte das Gespräch auf das Hauptthema. „War es das? Keine unnötigen Fragen zu anderen Dingen?“ Agelulfs Sarkasmus war direkt und lästig. Ich wedelte mit der Hand, damit er endlich erzählte und ich die wiedergekehrten Schmerzen vergaß.

„Der nächste Geist war ein Mädchen. Shakún’tala. Ich habe kein einziges Wort an sie gerichtet, weil sie es mir verboten hatte. Wenn sie etwas bestimmte, hatte die Welt um sie herum zu gehorchen.“