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Sechster Abschnitt "Shakun'tala"


Shakun'tala

Die Truppen des Würgers zogen sich zurück, sie bibberten und schrien aus Angst, ließen ihre Waffen fallen und türmten, sobald sie sie sahen. Recht so! Die ehrlosen Männer und Frauen des Feindes verdienten nicht, sie anzusehen und gegen sie anzutreten. Sie waren mutlos und feige. Ihre glänzende Rüstung war aus Sonnengold und Mondsilber gefertigt, das sie blendete, sobald sie sie ansahen, weil sich das Licht der Sonne hundertfach darin spiegelte und sie selbst ohne Schwert eine Waffe hatte, gegen die sich niemand wehrte. Sie schritt voran, denn es eilte nicht. Ihre Widersacher waren keine Gegner mehr. Hinter ihr ihre treuen Freunde und Mitstreiter. Ghuna, die Weise, Tootze, der Kurze, und Wiga, der Stumme.

Ghuna war ihre Lehrmeisterin. Alles, was sie wusste, hatte sie von ihr gelernt. Sie war eine Raptora und trotz ihres Alters die schönste Frau der Welt. Tootze war ihr bester Freund, mit ihm war sie aufgewachsen, aber weil er ein kleinwüchsiger Hominid war, wurde er von den meisten nicht ernst genommen, bis sie seine Klinge spürten. Wiga war ihr Schild und Vertrauter. Als stummer Werwolf war er mürrisch und abweisend, aber wenn sie in Gefahr geriet, war er zur Stelle und beschützte sie. Sie waren ihre Treuen, niemand stand ihr so nah, wie dir drei. Sie blieb stehen, Ghuna, Tootze und Wiga reihten sich rechts und links neben ihr auf. Der Kampf war vorbei, die feindliche Armee geschlagen. Der Würger war besiegt und floh vor ihrer rechtschaffenen Macht. Sie wusste, dass er zurückkam, denn er kam immer zurück und versuchte, das Königreich zu erobern. Aber sie stellte sich ihm erneut entgegen, so wie heute, und würde siegreich sein. Gemeinsam stimmten sie und ihre Freunde - bis auf Wiga - in das jauchzende Siegesgeschrei ein, dass von ihren eigenen Truppen aufbrandete. „Lang lebe die Prinzessin! Lang lebe Shakún’tala! Lang lebe die Prinzessin! Lang lebe Shakún’tala!“ Die Schlacht war geschlagen, die Ehre gehörte ihr, so wie es sein sollte. Denn das Gute gewann immer und überall über das Böse.

Im Thronsaal ihres Onkels, dem König der drei Himmel und fünfzehn Erden, erwartete sie Jubel und ausgelassene Freude. Sie war der Mittelpunkt, alle schauten auf sie, alle verehrten sie, alle feierten sie. Je näher sie dem Thron kam, umso euphorischer wurde die Stimmung und Lautstärke. Alle waren hier, die sie liebte und von denen sie geliebt wurde. Vor den dreizehn Stufen der Ehre auf einem purpurroten Teppich knieten sie und ihre Gefährten, der Jubel ebbte nach und nach ab. Mit strahlenden Augen sah sie ihren Onkel an, der auf sie nieder blickte und breit lächelte. Die Königin, Shakún’talas Tante, und Herrin über den Smaragd-Lotus der Sternwarte, stand schräg hinter ihm und sah sie mütterlich-zufrieden und erleichtert an. Erst als die letzte Stimme im Saal verklang, sprach der König volltönend zu ihr und sagte:

 

„Vedammsch! Wo is‘ mein Ess’n?!“ Er warf ihr einen Becher an den Kopf. „Hast nich‘ gehört?! Essen! Dummes Balg. Her mit dir!“ Sie hielt sich die Stelle am Kopf, wo sie getroffen wurde, und wusste nicht, wie ihr geschah, als ihr Onkel sie über das Knie nahm und sie so kräftig versohlte, dass sie den Schmerz am Ende gar nicht mehr spürte. „Muss’ch den Eber wieder rauslassen? Scheißkind! Das hast jetz‘ davon“, spuckte er und schlug und schlug und schlug zu. Shakún’tala hatte gelernt, damit umzugehen. Trotzdem weinte und wimmerte sie. Zu schreien traute sie sich nicht, denn dann sperrte er sie in die Kammer ein, wo sie auf keinen Fall hinwollte. Ihr Onkel war kein böser Mann, das wusste sie. Er war ein Valkenbär. Zum Teil ein Valken, also ein Eber, zum Teil ein Bär. Ein Mischling. Deshalb war er verärgert, denn viele hänselten ihn. Vor allem wegen seines Aussehens. Er war zwar groß, aber dick. Er stank, weil er sich nicht im Schlamm suhlte, wie andere Valken. Das wollte er nicht. Er hasste es. Sein Gesicht war wie Matsch. Stirn, Augen und Ohren von einem Bären. Nase, Wangen und Maul von einem Eber. Das sah komisch aus und Shakún’tala verstand, warum ihn andere auslachten. Wenn er nicht böse war, lachte sie manchmal heimlich selbst über ihn, weil er ulkig aussah. Seine Kleidung war zerrissen, fleckig und geflickt, weil er alles Geld, das er hatte, für sie ausgab. Er musste das, weil er ihr einziger noch lebender Verwandter war. Jeden Tag beschimpfte er sie deswegen, weil er keine Kinder, wie sie mochte. Sie war so still, wie sie sein konnte, um ihn nicht zu stören. Sie wusste, dass er es wegen ihr schwer hatte, weshalb sie alles unternahm, um ihm nicht zur Last zu fallen. Nur manchmal wünschte sie sich eine Umarmung oder ein nettes Wort, bekam aber nichts davon. Trotzdem liebte sie ihren Onkel Dúni’ordch.

Nachdem er sich an ihr verausgabt hatte, schubste er sie grob von sich herunter und blaffte: „Für dich heut‘ nix!“ Heute kein Essen. Es gab schlimmeres, obwohl ihr schon Magen knurrte. Shakún’tala hielt den Kopf eingezogen, manchmal trat er nach den Prügeln nach ihr, wenn er betrunken war. „Wann lernst aufhör’n zu träumen?“, fragte er, stand von dem knarzenden Stuhl auf, dessen Holz sich unter seinem Gewicht mit den Jahren verbogen hatte, wobei Shakún’tala sich nicht daran erinnerte, dass er jemals anders ausgesehen hatte. Sie hob leicht den Kopf und sah eine Hufe und einen zu kurz gewachsenen Hinterfuß. Beide waren von Fell bedeckt, aber unterschiedlich dicht. Dúni’ordch humpelte weg, was dazu führte, dass er mit der Hufe klackte, während er mit dem Fuß schwer auf dem Boden auftrat. „Warum ich nich‘ wie du bin?“, fragte er jammernd. Er tat ihr leid. Sie hatte Glück gehabt, denn sie war eine Pardidenbärin, was schon toll war. Aber das Beste war, dass sie zum Teil von echten Menschen stammte, auch wenn ihr das niemand ansah. Sie war glücklich darüber, so geboren worden zu sein. Schnell wie eine Pardidin, stark wie eine Bärin, schlau wie eine Menschin. Trotzdem sah sie aus wie eine Pardidin, hatte aber braunes, dickes Bärenfell, das manchmal unangenehm juckte, sie aber ansonsten vor Kälte schützte. Das mochte ihr Onkel nicht. Er war neidisch, weil er nicht so war, wie sie. Sie versuchte, ihm jeden Tag das Gefühl zu geben, dass sie ihn liebte, doch er war nicht wie andere Mischlinge. Aber es konnten eben nicht alle Glück haben, das hatte ihre Mama, eine Pardidenmenschin, ihr beigebracht. Und Papa, der Onkel Dúni’ordchs Bruder und auch ein Valkenbär gewesen war, hatte ihr gesagt, dass sie auf ihn aufpassen musste, wenn niemand mehr da war, um sich um ihn zu kümmern. Shakún’tala hatte es ihm versprochen, und Versprechen musste jeder halten! Egal wie böse er wurde, denn es war nicht seine Schuld, dass er so war. Papa hatte ihr gesagt, dass sie sich nur noch gegenseitig hatten, wenn er und Mama nicht mehr da waren. Dann sind sie beide gestorben und zu Lux und Nox gegangen. Dort warteten sie jetzt, bis ihr Onkel und sie nachkamen. Alle Omas, Opas, Tanten, Onkel, Vettern und Cousinen waren schon bei ihnen. Warum Nox nur Onkel Dúni’ordch und sie nicht geholt hatte, wusste sie nicht. Langsam wurde es Zeit, fand sie.

Nachdem er ihr kleines Haus verlassen hatte, rappelte sich Shakún’tala schnell auf, schüttelte ihre Tränen weg und eilte ihm zur Tür hinterher. Wenn er aufs Klo musste, brauchte er Hilfe, sonst schrie er sie an.

 

Die durchschritt die Tür zu ihren Privaträumen. Sie hatte schon so oft das Land gerettet, dass ihr Onkel ihr einen ganzen Schlossflügel geschenkt hatte. Aber so ein Geschenk nahm sie nicht an. Eine Schlosswohnung für sich und ihre Gefährten war das Einzige, das sie gut fand. Obwohl sie Prinzessin und Teil der königlichen Familie war, hatte niemand, der nicht direkt mit dem König verwandt war, etwas zu sagen. Ihre Tante, Königin Irdena, hatte es sich dennoch nicht nehmen lassen, die Zimmer mit allem Pomp vollzustopfen, damit es ihnen an nichts fehlte. Das erste, was Tootze und Ghuna gemacht hatten: Sie haben alle Sachen, bis auf ein paar Möbel, rausgeschmissen. Wiga schmiss nichts fort, denn er brauchte keinen eigenen Raum und schlief in Shakún’talas Zimmer. Sie hatte sich das kleinste ausgesucht, das groß genug war, damit eine ganze Familie darin leben konnte. Daneben hatte jedes Zimmer einen ausladenden Balkon, von denen aus sie auf die Hauptstadt sahen. Shakún’tala hätte auch gerne alle Sachen aus dem Zimmer geschmissen, aber dann wäre ihre Tante verärgert gewesen. „Endlich zu Hause!“, sagte Tootze und verschwand sofort in seinem Zimmer. Ghuna streckte sich, ihre Knochen knackten. „Ja, es wurde Zeit, zurückzukommen“, sagte sie, ging aber nicht in ihr Zimmer, sondern setzte sich auf den in der Mitte stehenden Diwan, um dort ihr Pendel zu pendeln. „Hrm“, grummelte Wiga. Wenn er Geräusche machte, dann nur das. Aber sie wussten alle, dass er sie verstand, obwohl er manchmal frech war und tat, als wüsste er nicht, was sie besprachen. Shakún’tala schmunzelte, weil sie wegen der Art, wie er grummelte, wusste, was er zu sagen versuchte. „Ja, du hast dir dein Essen verdient“, sagte sie. „Mrh“, antwortete Wiga zufrieden. „Prinzessin, Ihr solltest ihn nicht zu sehr verwöhnen. Er wird noch dick!“, behauptete Ghuna und neckte Wiga, der sie anstarrte, worauf sie herzlich lachte. Er ließ sich jedes Mal von ihr an der Nase herumführen, wenn es ums Essen ging. Shakún’tala fiel in ihr Lachen ein und sagte: „Ja, du hast recht. Vielleicht sollte ich ihm nur ein Rippchen geben?“ Abrupt wandte er ihr den entsetzten Blick zu, fletschte die Zähne, was wie ein Grinsen aussah, und knurrte sie an. „Schon gut, schon gut!“, beschwichtige sie. „Du erhältst deine Belohnung. So wie immer.“ - „Irgendwann fällt er einen von euch nochmal an“, sagte Tootze, als er grinsend zu ihnen zurückkam. Er hatte seinen Saft geholt, den sie nach jedem Sieg über den Würger tranken. „Diesmal war es knapp“, sagte er, während er jedem ein kleines Gläschen gab. „Wärt Ihr nicht rechtzeitig gekommen, Prinzessin, wäre ich Gefangener des Erzfeindes. Dank Eurer Rüstung sind wir aber wohlauf.“ Shakún’tala schüttelte den Kopf. „Ohne Wiga, der das Metall schnell holte, und Ghuna, die mit ihren Fähigkeiten die Rüstung schnell formte, wären wir alle jetzt seine Gefangenen.“ Ghuna lächelte sie an und stand wieder auf. „Aber es war Eure Idee, Prinzessin.“ Tootze hob sein Glas mit Traubensaft. „Ein Hoch auf die Prinzessin und ihre Schläue!“, sagte er feierlich. Ghuna hob ihr Glas. „Ein Hoch auf Euch“, sagte sie zu ihr. Wiga trank sein einfach aus. Shakún’tala hob ihres und sagte: „Ein Hoch auf uns alle für den heutigen Sieg! Wir sind wahre Freunde und werden jede Schlacht gewinnen und jede Prüfung bestehen, wie immer.“ Sie tranken ihre Gläser leer. Der Saft schmeckte süß und leicht säuerlich. Er war lecker, verdarb nicht, und die Flasche, aus der Tootze ihnen einschenkte, war immer voll, weil sie verzaubert war. „Mrrrr“, machte Wiga neben ihr. Sie sah ihn an. Er wurde von dem Saft jedes Mal wirr, obwohl es wenig war. Er schwankte, stützte sich an ihr ab, sah sie mit seinen Augen schielend an, das eine war purpur, das andere silbergrau, und schüttelte den Kopf schnell wie ein Harlekin hin und her, sodass er sie anspuckte.

 

„Hörst nich‘ zu?! Musst festhalt’n!“, blökte Onkel Dúni’ordch. Shakún’tala hielt ihn fest, sonst wäre er um- und in den Klotopf reingefallen. Dann hätte er mehr gestunken. Durch seinen Körperbau hatte er Probleme, aufs Klo zu gehen. Weder groß noch klein konnte er alleine machen. Er brauchte jemanden, der ihn stützte. Das war manchmal ekelhaft, denn nicht immer schaffte ihr Onkel es, zu zielen. Dann machte er Shakún’tala versehentlich nass, so wie jetzt. Ihr grobes Leinengewand hatte dunkle Flecken dort, wo sein Wasser sie erwischt hatte. Aber das war ihre eigene Schuld gewesen, sie hatte nicht genug aufgepasst. „Blödes Kind“, fluchte Dúni’ordch leise. Hier draußen war es nicht schlau, wenn er zu laut schimpfte. Das hörten andere nicht so gerne. „Gehst jed’n Tag mit mir hier, trotzdem bist zu blöd, um dafür... - Halt fest!“ Sie musste ihn so halten, damit sein Lubbel über dem Topf hing. Erst dann durfte er. Aber wenn es gar nicht klappte, half sie mit der Hand. Das hasste ihr Onkel, aber es war der schnellste Weg. „Bin doch kein Kindficker“, murmelte er dann immer. Sie wusste nicht, was er damit meinte, darum achtete sie nicht darauf. Heute klappte es ohne ihre Hilfe, der Klotopf war voll und Onkel Dúni’ordch ging es sofort besser. „Mach weg“, befahl er ihr, zog sich die Hose hoch und schob sie weg. „Den Rest auch! Wenn träumst, kannst auch Pisse wegmach’n.“ Seine Wangen zuckten. „Tut mir leid, Onkel“, sagte sie ehrlich. „Halt die Klapp‘. Später kannst geh’n. Will dich heut‘ nich‘ seh’n. Vor Nacht kommst nich‘ zurück. Wehe, du hast dann nix.“ Sie sah ihn nicht glücklich in die Augen, weil sie stehlen sollte. Aber stehlen war schlecht! Nur wenn sie ganz, ganze wenig zu Essen hatten, durften sie das. Aber sie hatten etwas! Nicht viel, das stimmte ... Es schmeckte außerdem nicht, vor allem wenn es schon älter war. Doch es reichte, damit sie satt wurden. „Was?“, fragte Dúni’ordch grimmig. „Schiss inner Hose? Komm bloß nich‘ ohne was wieder hier.“ Er humpelte ins Haus zurück, knallte die Tür hinter sich zu und verschloss sie.

Jetzt kam Shakún’tala nicht mehr rein. Wenn sie gewollt hätte, wäre sie über das obere Fenster eingestiegen. Doch sie wollte gar nicht. Denn obwohl Onkel Dúni’ordch ein lieber Onkel war, war sie manchmal wütend darüber, weswegen ER böse auf sie war. Dabei hals sie ihm bei allem. Es war ihr recht, dass sie gleich weggehen durfte. Vorher machte sie das Klohäuschen sauber, nahm den alten Klotopf mit zu einer Stelle, an der Blumen und Gras wuchs, und schüttete das Lubbelwasser weg. Seit sie das machte, blühten die Pflanzen hier. In ihren Augen hatte Dúni’ordch die größte Gabe von allen bekommen, denn er machte Wasser und sein Essen zu Lebenssaft und -erde, auf der alles wuchs, was man anpflanzte. Sie hatte letztes Jahr ein paar Nüsse und Sonnenblumenkerne dort verteilt. Aus den Nüssen sind leider keine Bäume gewachsen. Aber die Sonnenblumen sind riesig geworden! Es waren nur sieben Stück, aber sie liebte sie. Shakún’tala sah öfter am Tag nach ihnen, weil sich ihre Köpfe immer nach der Sonne drehten, was sie erstaunte. Jetzt goss sie die Blumen wiedermal mit Onkel Dúni’ordchs Wasser. Bevor sie den Klotopf zurückstellte, befüllte sie ihn mit welchem aus dem Wasserloch in der Nähe und schüttete es im Häuschen aus, um damit alles sauber zu machen. Nachdem sie ihre Aufgabe erledigt hatte, schlendert sie zuerst ohne Ziel los. Dann überlegte sie, zu ihrem besten Freund Tootze zu gehen und ihm von dem aufregenden Traum erzählen, den sie gehabt hatte. Er war Shakún’talas Freund, weil er der Einzige war, der so alt war wie sie. Acht Sommer. Sie rannte aufgeregt los, spurtete um die Ecke ihres Hauses herum und dabei fast eine Gruppe Leute hinein, die sich meckernd beschwerten. Zwar wollte sie sich entschuldigen, aber bei diesen machte sie eine Ausnahme. Nicht alle nahmen ihre Entschuldigung an. Sie verlangten dann seltsame Sachen von ihr, wie zum Beispiel, dass sie sich ausziehen sollte. Die Gemeinen wurden manchmal sogar grob und taten ihr weh. Ihr Onkel sagte danach immer, dass ihr das recht geschah. Leute anrempeln ging gar nicht. Deshalb rannte sie diesmal weiter, so schnell, wie die schnellste Pardidin der ganzen Welt! Sie spürte die Luft durch ihr Fell wehen und liebte das Gefühl, von niemanden eingeholt oder gefangen zu werden. Die Schnellste, die aller Schnellste!

 

Durch die fallenden Kirschblütenblätter sah der Garten aus, als schneite es. Shakún’tala hechtete zwischen den Bäumen hindurch. Er gehörte ihrer Cousine, Königsprinzessin Iokasthe. Sie hatte ihn als kleines Kind angelegt und hegte ihn seitdem. Es war Nacht gewesen, als ein niederträchtiger Meuchler im Auftrag des Würgers in das Schloss eingedrungen war, um sie zur Strecke zu bringen. Wie es der Zufall vorherbestimmte, war Shakún’tala bei Iokasthe, die ihr Respekt und Vertrauen aussprach. „Sobald ich Königin bin, werde ich dich zu meiner höchsten Ritterin schlagen“, hatte sie gesagt. Shakún’tala war verlegen und unglaublich stolz darauf, wie viel ihre Cousine von ihr hielt. In dem Moment platzte das Ungeheuer herein und griff sie an. Iokasthe hatte Glück, denn Shakún’tala beschützte sie vor dem Wesen, das Gesicht und Körper unter hunderten schwarzen Tüchern versteckte und sie nur erahnte, was für eine Fratze darunter war. Es erwischte Iokasthe am Arm, als Shakún’tala zuschlug und tapfer gegen es kämpfte. Iokasthe unterstützte sie dann mit ihrer Lichtmagie, die nur Mitgliedern der königlichen Familie beigebracht wurde. Als das Ungeheuer nicht mehr gegen die beiden tapferen Prinzessinnen ankam, floh es, indem es aus dem großen Fenster in den Kirschbaumgarten sprang und davonjagte.

Dieses Mal war der Würger zu weit gegangen. Shakún’tala schwor sich, den Angriff nicht ungesühnt zu lassen. Sie verfolgte den Meuchler, der ihr voraus war und einen Wind heraufbeschworen hatte, der die Blütenblätter fallen ließ und sie verwirren sollte. Aber es nützte ihm nichts, sie hatte ihn trotzdem im Blick, denn er rannte geradeaus. Ha! Bald erreichte er die Schlucht der Weisen, die hinter dem Schloss war. Von dort entkam er nicht mehr und war gefangen. Sie rannte schneller und schneller und nochmal schneller. So schnell, wie sie nie gelaufen war in ihrem Leben! Hinter ihr hörte sie jemanden Flüstern, sie sah kurz zurück. Die vertraute Stimme gehörte Ghuna, die auf dem Balkon von Prinzessin Iokasthe in der Luft schwebend das Lied der Flinkheit sang und mit den wirbelnden Armen magische Zeichen der Rasanz in die Luft zeichnete. Beides zusammen richtete sich auf Shakún’tala, sodass sie zum schnellsten Lebewesen der Welt wurde. Laut hechelnd, knurrend und grollend sprang Wiga hinter ihr her, um sie im schlimmsten Fall zu verteidigen, im besten um ihr beizustehen, wenn sie das Scheusal stellte. Innerlich dankte sie ihrer Lehrmeisterin für ihre Hilfe. So konnte sie gar nicht mehr scheitern. Wiga und sie holten den Fliehenden ein, der langsamer wurde. Wiga sprang schnarrend in seinen Rücken hinein. Erst da stoppte es abrupt und versuchte panisch, ihn mit großen Pranken zu erwischen und herunterzureißen. Dabei brüllte es widerwärtig und sprudelte leuchtend grünen Sabber. Das beeindruckte Wiga überhaupt nicht, er biss sich fest und ließ nicht mehr los, bis Shakún’tala bei ihnen war und mit einem Aufschrei nach dem Kopf des Wesens schlug. In Gedanken beschwor sie die Steinschemen herauf, die ihre geballte Faust so hart machten, dass sie damit jeden Gegner niederschlug. Bewusstlos fiel das schwarzschattige Ungeheuer wie ein Fleischklops um. Was dann passierte, war merkwürdig und erschreckend. Wie ein aufgeblasener Ball, der Löcher hatte, entwich pfeifend alle Luft aus der Gestalt. Sie fiel in sich zusammen und hinterließ am Ende nichts weiter, als eine Pfütze stinkenden Schleims, der blubberte. Bei dem ekligen Geruch verzog Shakún’tala ihr Gesicht.

 

Tootze stank jeden Tag ein wenig mehr. Hominiden waren normalerweise sauber und ordentlich und hassten Dreck. Nur er nicht. Außerdem war er seit einer Weile ständig müde, weswegen er immer schlief, wenn sie ihn besuchte. Sie wusste aber, dass er trotzdem manchmal wach war, weil er grinste, oder seine Arme und Beine sich so komisch bewegten, dass sie kicherte. Außerdem hatte er einen dicken Bauch bekommen und pupste erstmal, nachdem sie ihn begrüßt hatte. Er redete nicht mehr gerne, so wie vor ein paar Wochen, sondern blieb mit geschlossenen Augen liegen und hörte nur zu. „Ist das nicht unbequem?“, fragte sie deswegen. „Und warum auf dem Müll? Warum nicht im Bett? Da ist es viel schöner. Oder hast du gar kein Bett? Ich habe auch keins. Früher hatte ich eins, als Mama und Papa noch nicht von Nox geholt wurden. Aber seitdem bin ich bei meinem Onkel. Dort schlafe ich auf einer Decke auf dem Boden. Das ist nicht schön, aber besser als dein Schlafplatz.“ Tootze sagte nichts. Manchmal glaubte Shakún’tala, dass er sie ärgerte. Doch davon ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen und sah sich seine Verletzungen an. Sie waren nicht verheilt. Sie lehnte sich vor, pustete jede einzelne an und murmelte dann die geheimnisvollen Worte, die ihre Mama ihr beigebracht hatte, damit alles heilte, was weh tat. Die waren streng geheim, niemand außer ihr durfte von ihnen wissen. Wichtig war es, vorher zu pusten, sonst passierte nichts. Seit sie Tootze vor zwei Wochen das erste Mal hier entdeckt hatte, versorgte sie seine Wunden. Es half nichts. Sie bluteten zwar nicht, heilten aber auch nicht, was sie seltsam fand. Bevor er sich hier zum Schlafen hingelegt hatte, war er oft herumgesprungen, meistens auf Bäume, manchmal auf große Steine und Felsen. Wenn er sich dann verletzt hatte, hatte das jedes Mal geholfen und es ging ihm sofort besser. Lag es daran, dass er jetzt Tag und Nacht hierblieb und nicht aufstand? Es ärgerte Shakún’tala, dass er nicht mehr mit ihr spielte und langweilig war. Egal wie oft sie versuchte, mit ihm etwas zu unternehmen, er weigerte sich und blieb liegen. Aber egal, sie musste ihm erzählen, was letzte Nacht passiert war. Vielleicht wachte er dann auf?

„Tootze, ich habe geträumt und erinnere mich daran! Unglaublich, oder?“, sagte sie, doch er reagierte nicht. Sie schnaufte. „Das war das erste Mal, dass ich mich an etwas aus der Nacht erinnere. Ich weiß nicht mehr alles, aber das ist nicht schlimm. Beim nächsten Traum merke ich mir mehr. Du weißt ja, dass ich zum Teil eine Menschin bin. Deshalb kann ich mich erinnern, denke ich. Ich habe ganz, ganz viel Glück gehabt.“ Anstatt endlich etwas zu sagen, pupste er schon wieder, was sich ekelhaft anhörte und widerlich stank. „Hör endlich auf damit, das ist nicht mehr lustig!“, beschwerte sie sich. „Ich will dir von meinem Traum erzählen, und du pupst! Wenn du nicht aufhörst, sage ich gar nichts.“ Darauf war Tootze still und machte keinen Mucks mehr. „Jetzt hörst du zu? So ist es recht“, nickte Shakún’tala zufrieden. „A-a-a-also“, hob sie an, „in dem Traum war ich eine Ameise. Aber nicht irgendeine Ameise, sondern eine, die ein Blatt getragen hat, auf dem die ganze Welt drauf war! Ich wanderte durch hohes Gras und an anderen Blättern vorbei, auf denen auch die Welt war. Aber sie waren verwelkt und lebten nicht mehr. Nur mein Blatt lebte noch. Dann bekam ich riesigen Hunger und musste mich entscheiden, ob ich das Blatt esse, um zu leben, oder nicht und sterbe, aber dafür die Welt rette. Natürlich habe ich die Welt gerettet. Denn das macht man so, wenn man groß und stark ist. Wenn ich groß und stark werde, will ich alle beschützen. Nicht nur im Traum. Dort bin ich gestorben und habe mich vorher mit dem Blatt zugedeckt, damit ich zur Erde wurde. Dadurch wurde ich zu jedem Baum und jeder Pflanze auf der Welt. Alle haben dann mit mir geredet, auch wenn ich nichts sagte, weil ich ja gestorben war, aber irgendwie doch noch lebte. Ach, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, was das war, aber es war schön von allen gemocht zu werden.“ Shakún’tala war aufgeregt, während sie erzählte und mit glänzenden Augen in den blauen Himmel sah.

 

Der Himmel war klar, während sie durch die Lüfte glitten. Nach dem Angriff auf ihre Cousine hatte Shakún’tala sofort die Greifen des Stolzes gerufen, indem sie in eine Pfeife blies, die nur sie hörten. Vier von ihnen waren gekommen, um Ghuna, Tootze, Wiga und sie selbst auf ihren Rücken zu tragen. Sofort begaben sie sich auf den Weg ins Nebelgebirge, zur Festung Rachsucht, die weit entfernt und versteckt lag. Sie wussten nicht, wo sie lag, doch sie waren entschlossen, sie zu finden und den Würger ein für alle Mal zu stellen. Denn wenn Unschuldige verletzt wurden, war es die Aufgabe von Helden, sie vor Gefahren zu bewahren und auszuziehen, um das Böse zu bekämpfen.

Sie flogen Tag und Nacht, dann nochmal Tag und Nacht. Als der dritte Tag anbrach, hatten sie die Festung trotzdem nicht gefunden. Die Greifen waren erschöpft, ihre Flügel wurden lahm und sie mussten pausieren. Das gefiel Shakún’tala zwar nicht, aber ihre Freunde hatten viel für sie getan und sie bis hierher gebracht. Den Rest des Weges schaffte sie mit ihren Recken ohne sie. An einem Felsüberhang landeten sie. Traurigerweise brach einer der vier - der, der Wiga getragen hatte - kraftlos zusammen und schlief für immer ein. Er wurde sofort zu Stein und seine Umrisse sind bis heute zu sehen. Die anderen drei trauerten, gaben aber nicht Shakún’tala die Schuld, denn sie wollten den Würger finden, weil er ihre Heimat vor langer Zeit zerstört hat. „Ich danke euch, meine Freunde“, sagte sie und senkte den Blick. „Wir werden sein Opfer in Ehren halten und zu Hause Lieder über ihn singen, wenn wir zurück sind. Aber ihr müsst zurückfliegen! Hier im Gebirge gibt es für euch nichts zu Essen, ihr werdet qualvoll hungern, wenn ihr bleibt, und wie euer Freund in ewigen Schlaf verfallen. Bitte, kehrt um, sobald ihr ausgeruht habt. Wir werden uns zurechtfinden.“ Die drei Greifen verbeugten sich ehrerbietig vor ihr. Ghuna legte ihre Hand auf Shakún’talas Schulter und schritt edel in ihrem Sternengewand an ihr vorbei, in dem der ganze Nachthimmel zu sehen war. Ihre Hand auf und ab schwingend sagte sie eine Zauberformel auf: „Winde der Dämmerung ich beschwöre euch, zeigt mir eure Gnade, eure Trümpfe, eure Eile, eure Liebe. Heilt, heilt, heilt.“ Silberfäden sprangen aus ihren Fingern hervor, wurden lang und verwirbelten in der Luft. Dann brauste ein kräftig aufkommender Wind sie von ihr fort und in weiten Kreisen um die drei Greifen herum, die erfrischt und überrascht ihr Flügel ausbreiteten, weil sie neue Kraft bekamen und mit lautem, stolzen Geschrei zum Himmel aufstiegen und davonflogen. Der Anblick, wie sie in der Ferne immer kleiner wurden und dann verschwanden, fand Shakún’tala herzerwärmend. „War das klug?“, fragte Tootze im Hintergrund. „Das war einer deiner mächtigeren Sprüche. Hast du genug Kraft für unseren Feind?“ Ghuna wandte sich nachsichtig lächelnd um und antwortete: „Es ist niemals unklug Freunden zu helfen.“ Wiga trat neben Shakún’tala, öffnete seine Kiefer leicht und versuchte, etwas zu sagen, doch sie hielt ihn davon mit einer Armbewegung ab. „Nicht, Wiga. Du darfst nicht sprechen, das weißt du doch“, sagte sie. „Wenn es wichtig ist, zeig es uns.“ Aber er zeigte ihnen nichts. Ghuna und Tootze sahen einander an. Letzterer zuckte ratlos mit den Schultern. „Nun, denn, meine Freunde! Lasst uns Festung Rachsucht suchen und uns dem Würger entgegenstellen“, sagte Shakún’tala voller Tatendrang und hievte ihre Vorräte. Für sie war das kein Gewicht, wohingegen Tootze Probleme hätte, während Ghuna ihre Magie nutzen und Wiga alles aufessen würde. Sie wandten sich den finsteren Bergen zu, die die kleine Gruppe wie ein Labyrinth in alle Richtungen einschloss, wie Häuserschluchten einer Stadt.

 

Weil Tootze sich trotz ihrer ganzen aufregenden Geschichte nicht bewegte und weiter frech pupste, ließ Shakún’tala ihn irgendwann alleine. Er war kein richtiger Freund mehr. Vielleicht sollte sie sich einen anderen suchen. Sie musste aufpassen, wohin sie ging. Es gab dunkle und gefährliche Orte, vor denen selbst Onkel Dúni’ordch Angst hatte, weil dort die gemeinsten Nachbarn wohnten. Dabei hatte er sonst nie Angst. Sobald nur wenige oder gar keine Leute auf einer Straße waren, rannte sie los! Obwohl Shakún’tala wusste, dass es gefährlich war, hierhin zu kommen, war es der schnellste Weg zum Markt. Außerdem machte es ihr Spaß die Bösen mit ihrer Schnelligkeit vorzuführen. Nur in eine der Straßen ging sie gar nicht mehr hin und versuchte nicht, schnell hindurchzulaufen. Dort war ein echter Valkenmann, der Leute einfing, die dann für immer weg waren. Ihre Cousine war auf ihn hereingefallen. Das ist lange her und war lange, bevor Nox alle aus ihrer Familie geholt hatte. Danach war ihre Tante traurig gewesen und nie wieder froh geworden. Shakún’tala hatte ihre Eltern irgendwann ohne Absicht belauscht. Sie hatten darüber gesprochen, dass ihre Tante zu dem Mann gegangen und nie mehr wiedergekommen war. Aber warum sollte jemand freiwillig zu ihm gehen? Das hatte für sie keinen Sinn gemacht. Jedenfalls blieb sie aus der Straße weg, weil er sie schonmal gesehen und dann so gruselig angeschaut hatte, dass sich ihr Fell aufstellte. Sie fand die Häuser, zwischen denen sie rannte und umherschlich als Berge, die Straße waren die Schluchten, die sie miteinander verbanden.

Auf dem Weg rief jemand ihren Namen. „Shakún’tala, Kleines!“, rief die Stimme laut hinter ihr. Mama und Papa hatten ihr beigebracht, besser nicht zurückzusehen, wenn sie schon vorbeigegangen war. Aber sie sah dennoch nach. Es war Ghuna! Sofort drehte sie sich um und lief fröhlich lachend zu ihr hin. Ghuna war ihre beste Freundin nach Tootze. Sie war älter als er oder Shakún’tala, und sogar älter als Onkel Dúni’ordch. Aber sie sah trotzdem so schön aus, weil sie eine echte Raptora war und sich viele Farben ins Gesicht malte, weswegen niemand ihr ansah, wie alt sie in Wahrheit war. Shakún’tala glaubte, dass sie mindestens sechzig Sommer alt war, weil Onkel Dúni’ordch dreißig war, und sie damit doppelt so viel erlebt hatte wie er! Sie umarmte sie stürmisch, lachte und rief: „Ghuna! Ghuna!“ Ghuna erwiderte die Umarmung, sie war so sanft wie ihre Mama früher. „Hallo, Kleines. Wir haben uns lange nicht gesehen“, sagte sie. Shakún’tala nickte und verzog das Gesicht. „Ja, stimmt! Du warst schon lange nicht mehr bei Onkel Dúni’ordch. Warum?“ Ghuna grinste sie mit ihren weißen, spitzen Raptorenzähnen an. „Weil dein Onkel kein Geld mehr hat, um mich dafür zu bezahlen, dass ich seinen Schwanz lutsche“, antwortete sie seltsam. Shakún’tala verstand nicht, warum ihr Onkel sich von Tante Ghuna des Ringelschwanz lutschen ließ. Aber sie wusste, dass er danach immer glücklich war und sie nicht mehr anschrie, oder prügelte, sondern nur grummelig blieb. Ghuna gackerte. „Ich liebe es, dass du keine Ahnung hast, wovon ich rede, Kleines“, meinte sie. „Ich komme euch sicher bald nochmal besuchen. Versprochen.“ Sie drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. „He, kommst du bald wieder her, Schrabbe, oder soll ich es mir selbst besorgen?“, rief jemand ungeduldig. Shakún’tala sah an Ghuna vorbei. In der Tür eines Hauses stand jemand, der wie ein Leonidenhyena aussah. Er war groß und machte ihr mit seinem grimmigen Gesicht Angst. Außerdem war er nackig, sein Lubbel zeigte nach oben. Als er sie entdeckte, versteckte sie sich hinter Ghuna. „Kommt das Gör auch mit? Ich zahle aber nur für dich!“, grollte er. „Nein, die kommt nicht mit. Geh wieder rein, du hässlicher Gnom, ich komme gleich. Dann probieren wir den Wirbelsturm aus. Heute kostenlos, weil du warten musst“, sagte sie, worauf er lachte und im Haus verschwand. Deswegen mochten alle Tante Ghuna, sie machte jeden glücklich. Egal wen. Irgendwann wollte das Shakún’tala auch alle glücklich machen und von ihnen geliebt werden. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Ghuna seufzte. „Tja, jetzt hast du mich um mein Klimper gebracht“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Aber nicht schlimm. Der Kerl ist einer meiner Lieblingsstecher. Einer von denen, die es mir noch besorgen können.“ - „Was besorgen?“, fragte Shakún’tala. „Das lernst, wenn du größer wirst. Aber jetzt muss ich dir etwas geben“, sagte sie und hielt ihr ein kleines Beutelchen hin, nach dem Shakún’tala sofort schnappte und es wegsteckte. „Sehr gut. So, wie ich es dir gezeigt habe“, lobte Ghuna. „Lass niemanden wissen, was du hast und dass du es hast, sonst werden viele Leute böse auf uns zwei.“ - „Ich weiß, es ist eine magische Bohne, die heilen kann“, sagte sie. Ghuna zerzauste das Fell auf ihrem Kopf. „Gut aufgepasst!“

 

„Du weißt, dass nur du die Worte kennen darfst“, flüsterte Ghuna ihr mit erhobenem Finger am Lagerfeuer zu. Der Sichelmond hing am Himmel und beleuchtete die Berge. Sie rasteten über der Nebelgrenze unter einem großen Felsvorhang, obwohl ihnen dadurch kalt war. Bis auf Wiga, dem war Kälte egal. Der Nebel in den Tälern wurde nachts giftig, weshalb sie dort nicht bleiben konnten. Ghuna hatte einen Kuppelzauber gesprochen, der die Wärme des Feuers in ihrer Nähe wie unter einer Glaskuppel hielt. „Du bist die einzige Kriegermagierin, niemand ist so wie du, Prinzessin. So muss es bleiben, denn die Macht, die du hast, ist zu groß.“ Shakún’tala nickte gelangweilt, worauf Ghuna ihr einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. „Wenn die falschen Leute sie lernen, oder der Würger, ist es aus mit uns!“, zischte sie, wurde aber wieder leise, als Wiga sich in Shakún’talas Rücken grummelnd bewegte, den Bauch in die Luft streckte und schnarchend weiterschlief. Jeden Abend war er bei ihr und berührte sie, selbst jetzt, mit einer Pfote. Er ließ sie niemals alleine. Das fand sie manchmal lästig, dafür schlief sie tief und war jeden morgen ausgeschlafen, weil sie wusste, dass er sie beschützte. „Wie oft willst du mir dieselbe Geschichte nochmal erzählen, alte Frau?“, fragte sie frech und lächelte. Das hörte Ghuna nicht gern und plusterte ihre Wangen wie ein Frosch auf. „Junge Dame, ich bin immer noch deine Zofe, vergiss das nicht! Du kannst vielleicht kämpfen und Magie wirken, aber du bist dumm und naiv. Wenn du nicht aufpasst, vernichtet du uns dadurch alle“, erklärte sie. „Ich weiß, ich weiß“, beruhigte sie ihre Lehrmeisterin. Tootze lag woanders in dicke Decken gepackt, weil er Feuer nicht mochte. Außerdem wachte er schnell auf, wenn sie während der Wache miteinander sprachen, und meckerte dann. „Dein Leichtsinn wird dich irgendwann einiges kosten, Prinzessin“, sagte Ghuna. Sie meinte es nicht so, das wusste Shakún’tala, aber Ghuna hielt ihr die Geschichte schon lange vor, sie konnte es langsam nicht mehr hören. Sie würde die Worte niemals irgendjemandem verraten. „Keine Sorge“, sagte sie. „Du hast sie mir beigebracht und ich kann sie nur einmal benutzen. Danach nie wieder. Es gibt nur einen Moment, in dem das geschehen kann. Dann, wenn wir dem Würger gegenüberstehen.“ Ghuna sah sie merkwürdig an, wie so oft, wenn sie ihr nicht glaubte. „Es gibt andere Momente und Dinge, die dich dazu bringen können, sie doch zu sagen, selbst wenn du es nicht willst“, sagte sie. „Wie dem auch sei. Du solltest schlafen, Prinzessin. Eine Heldin muss ausgeruht in den Kampf ziehen und -“

Sie wurde still und lauschte. Wigas Schnarchen erstarb und er rappelte sich schnell auf. Er knurrte. Auch Tootze sprang auf die Beine und zückte seine Küchenmesser. Der König hatte ihm viele andere, bessere Waffen geschenkt, aber er wollte nur mit ihnen schneiden und stechen, weil sie seine ersten waren, die ihm immer Glück gebracht hatten. Shakún’tala war die Letzte, die hörte, was die anderen hörten. Getrappel und Scharren. Sie hatten sie gefunden. Die Namenlosen, die niemand rief. Gesetzlose, die ohne König oder Anführer. Gesichtslose, weder Augen noch Mund. Ausgeburten aus dem giftigen Nebel und wahrgewordene Schrecken alter Kindergeschichten. Sie hatten sie umzingelt, aber das nützte ihnen nur wenig, denn Shakún’tala zog ihr Schwert blank, es strahlte hell wie die Sonne und zeigte die Ungeheuer. Sie waren nicht mehr als bleiche, dürre Schatten. „Zurück mit euch!“, donnerte Shakún’tala, hieb die Schwertspitze in die Luft und brachte alle Berge zum Erstrahlen. „Geht zurück in die Finsternis, Gewürm.“ Doch obwohl sie wegen des Lichts vor Schmerzen kreischten und schrien, blieben sie. Sie sahen sie nicht an, weil sie ihre Köpfe wegdrehten, kamen ihr näher und näher. „Du hast etwas“, sagten die dunklen Wesen. „Was hast du bei dir? Gib es uns!“, schrien sie.

 

Shakún’tala drückte ihr Gesicht in Ghunas Kleid, das nach Lavendel und Stachelbeere duftete und sie beruhigte. Sie hatten miteinander geredet, Ghuna war nett und brachte sie bis ans Ende der Straße. Dann kamen fünf Männer und Frauen, die ihnen den Weg versperrten. Zwei waren Hyena, ein Mann und Frau. Einer war ein Frokvalken, was völlig falsch war, weil er zu klein gewachsen und grüngrau war, aber trotzdem wie ein Valken aussah. Eine andere Frau war eine Hominidin, die Shakún’tala kannte, weil sie Tootzes Tante war. Und der Letzte war ein Alligaton, der größer als sie alle war. Vor dem hatte sie besonders Angst, weil sie nie einen gesehen hatte. Er war von oben bis unten mit dicken, bläulich schimmernden Schuppen bedeckt, hatte einen langen Schwanz wie ein Reptil, einen flachen Kopf mit kleinen Augen und ein riesiges Maul, mit dem er sie mit einem Happs verschlucken könnte. Nein, den mochte sie nicht, denn er lächelte zwar, sah Ghuna und sie aber dabei nicht lieb an. Dasselbe Gesicht hatte sie bei Onkel Dúni’ordch einmal gesehen. Er hatte sie angelächelt und dann geschlagen. Die Hominidin verschränkte die Arme und trat vor. „Sieh an, sieh an“, sagte sie und schnalzte. „Hab mir gleich gedacht, dass du es bist.“ - „Lêma. Was willst du von mir?“, fragte Ghuna und zitterte dabei, obwohl ihre Stimme überhaupt nicht zittrig war. Aber Shakún’tala spürte es. „Das, was du der Kleinen gegeben hast. Und als Entschädigung sie gleich mit dazu. Gibt ein paar Kerle, die auf hübsche Kinder wie sie stehen“, sagte die Hominidin, die beiden Hyena lachten gemein. „Sie hat nichts damit zu tun“, sagte Ghuna. Die Hominidin spuckte aus, ihr Gesicht wurde wie das von Onkel Dúni’ordch. „Ich scheiß auf dich! Glaubst du, ich kauf dir das ab? Sie ist doch für dich nur Mittel zum Zweck. Spiel mir hier also nichts vor, Oma.“ Ghuna drehte sich zu Shakún’tala um und kniete nieder. „Gib es mir zurück, schnell“, sagte sie. Sie fragte nicht, warum, sondern gab ihr den Beutel. Ghuna nahm ihn und schubste sie dann weg. „Los, geh jetzt“, sagte sie kalt. „Ah, ah!“, machte die Hominidin. „Niemand geht. Ich will die Bohnen und das Mädchen haben, kapiert?“ Ghuna drehte sich langsam um und spielte mit dem Beutelchen. Die Bohnen waren verboten, das wusste jeder, deswegen durfte niemand wissen, dass Ghuna sie hatte. „Entweder die Bohnen oder das Mädchen. Beides nicht“, sagte sie und schmiss den Beutel im weiten Bogen so weit weg, dass er über mehrere Häuser flog. „Verdammte Dreckshure!“, fluchte die Hominidenfrau.

 

Wiga griff die Schattenwesen an und besiegte zwei von ihnen. Tootze setzte seine Messer ein und zerschnitt einen weiteren. Ghuna hatte die Augen geschlossen und bereitete einen wirkmächtigen Zauber vor. Das wusste Shakún’tala deshalb, weil sich ihre Haare aufrichteten und zwickten. Ihre Lehrerin beschwor Blitz und Donner herauf, während Shakún’tala ihr gleißend helles Schwert schwang, um den größten Teil der Kreaturen in Schach zu halten. Lange hielten sie das nicht mehr durch, denn es waren zu viele von ihnen. Es war, wie Ghuna gesagt hatte. Jeder wollte die Worte wissen, die ihr als Rittermagierin größte Macht gaben. Die dunklen Wesen spürten das und würden sie solange verfolgen, bis sie sie hatten. Deshalb mussten sie die Ungeheuer verbannen, für immer und ewig. Sobald Ghuna ihre Magie aufgeladen hatte, war Shakún’tala an der Reihe. In der Zeit waren es Tootze und Wiga die die Ungeheuer aufhielten, die ihnen zu nahe kamen. „Ghuna! Langsam wird’s Zeit“, rief Tootze und schwang die Messer hin und her. „G-r-r-r-r-a-a-a-a-o-o-o-o-w!“, grollte Wiga, schnappte zwei Schatten und warf sie die Klippe runter. In dem Moment öffnete sie die Augen und sah in den Himmel, hob beide Arme und - Knall! Ein einziger Blitz! Heller als die Sonne am Tag. Alle Schattenwesen und anderen Ungeheuer verschwanden ohne Geschrei in einem kleinen Augenblick. Der Donner war so laut, dass Shakún’tala danach für eine Zeit lang nichts mehr hörte. Sie war kurz blind und bewegte sich nicht, weil Wiga, Tootze und sie selbst unter einem Schutzzauber standen, der nur solange wirkte, wie sie keinem Schritt machten. Hoffentlich hatten Wiga und Tootze das nicht vergessen. Als das Licht des Blitzes nachließ, sah sie sich um. Die Namenlosen waren alle weg, Tootze und Wiga wohlauf. Ghuna hatte es geschafft, obwohl sie jetzt völlig erschöpft war. „Ha! Egal, wie schön ich bin, ich werde trotzdem alt. Früher hat mir ein kleines Blitzchen nichts ausgemacht.“ Tootze rannte zu ihr und umarmte sie wild. „Kleines Blitzchen?“, lachte er. „Du bist eine Göttin, alte Frau!“ Sie kicherte leise und außer Atem. Bis sie das nächste Mal einen Spruch wirkte, würde es Tage dauern. Solange konnte sie ihnen nicht mehr helfen. „Danke, du hast uns das Leben gerettet“, sagte Shakún’tala, die neben ihr kniete, sie mit ihrer Bärenkraft aufhob und forttrug. „Sowas“, sagte Ghuna kopfschüttelnd. „Jetzt muss ich mich von meiner Schülerin schon tragen lassen. Wie peinlich für eine Meisterin der Farbenflamme.“ - „Ich mag deine Schülerin sein, aber du bist meine beste Freundin“, erwiderte Shakún’tala. „Freunde beschützen und helfen einander. Das hast du mir beigebracht. Aber du sagtest auch, dass sie niemals all ihre Kraft einsetzen dürfen.“ Ghuna lachte röchelnd und fragte: „Das war eine meiner ersten Lektionen, die ich dir und dem Nichtsnutz Tootze beibrachte. Ausgerechnet du erinnerst mich daran?“ Shakún’tala ging an Wiga vorbei, der sie anknurrte. „Was ist? Wir haben keine Zeit, Wiga. Wir bringen Ghuna in Sicherheit“, sagte sie. „Erst dann kann ich den Bann aussprechen.“ Er streckte den Arm aus und zeigte auf etwas, dass sie in der Dunkelheit kaum erkannte. Tootze stellte sich neben sie und sah auch hin. „Da kommen noch mehr“, sagte er. „Lasst uns schnell verschwinden“, meinte Shakún’tala und gab Ghuna an Wiga weiter. Sie war kraftlos eingeschlafen. Ihr Kopf -

 

- war kaum noch zu sehen. Der große Alligaton hatte sie schon bis zum Hals geschluckt. „Renn weg, Kleines! Schnell!“, schrie Ghuna und wehrte sich mit aller Kraft, ohne etwas auszurichten. Shakún’tala sprang rückwärts, als Tootzes Tante Lêma nach ihr griff. Ihre Augen waren klein und nicht gut. „Du bleibst hier, Mädchen“, sagte sie dunkel und versuchte, sie zu schnappen, aber Shakún’tala sprang nochmal weg und schaffte es sogar, dem Hyenamann zu entkommen. Aber sie wollte nicht wegrennen, solange Ghuna im Maul des Alligaton war. Das war schrecklich! „Ich - ich helfe dir Ghuna!“, rief sie und lief in ihre Richtung. „Verschwinde! Renn weg!“, schrie Ghuna. Der Alligaton schloss sein Maul, ihre Knochen knackten und sie schlief plötzlich. Wie konnte sie ausgerechnet jetzt schlafen, während sie aufgegessen wurde? Sie war fast bei ihr, hatte aber vergessen, dass der Frokvalken da war. Er sah zwar klein aus, war aber schnell und trat aber so fest wie Onkel Dúni’ordch in ihren Bauch. Sie schrie hell auf und kugelte sich zusammen. Warum machten sie das? Warum taten sie ihr weh? Sie hätte einen anderen Weg zum Markt gehen sollen! Sie war an allen Schuld!

Die Hominidin kam zu ihr, nahm sie an den Kopfhaaren und zog sie hoch. „Aua! Lass das!“, schrie Shakún’tala und trat so fest nach ihr, dass sie sie losließ und strauchelte. Doch sofort war die Hyena-frau da und schlug sie nieder. „Stopp!“, bellte Lêma, die Hyenafrau hörte auf. „Wenn du ihr Gesicht kaputtschlägst, ist sie weniger wert, dämliche Schlampe!“ Dann zu ihr: „Du bist Shakún’tala? Tootze hat von dir geredet. Er hat gesagt, du bist hübsch und würdest viel bringen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Tja, jetzt ist er verreckt. Wenigstens habe ich dann noch was von dir.“ Was erzählte sie für Lügen? „Das stimmt nicht! Ich besuche ihn jeden Tag! Er schläft nur!“, widersprach Shakún’tala aufgebracht. Die Hominidin wurde sofort ernst, ihre Augen groß. „Du besuchst ... ? Du gehst zu seiner Leiche?“ Shakún’tala wusste nicht, was das Wort bedeutete, sagte aber nochmal, damit Lêma es verstand: „Ich gehe fast jeden Tag zu ihm, ja!“ Tootzes Tante sah sie erschrocken an. Aber, warum? Ihre Augenbrauen zuckten komisch. „Bist du nicht die Tochter von Eb’nard und Rhuz’ná?“, fragte Lêma. Die Hyenafrau, die Shakún’tala festhielt, fragte: „Ey, was hat denn das mit uns -?“ - „Halt dein Maul. Halt einfach dein scheiß Maul! Klar, Schlampe?“, blaffte Tootzes Tante. „Sind deine Alten nicht auch verreckt?“, fragte sie dann sofort Shakún’tala. Sie wusste nicht, warum, aber es machte sie wütend, dass Lêma das fragte. Deshalb antwortete sie nicht und sagte gar nichts. „Hm“, machte Lêma. „Wer so viele Leute verloren hat ... Tja, das Leben ist scheiße. Zu dir ganz besonders. Es hat nicht nur Gutes, wenn man zum Teil ein Mensch ist, Mädchen. Die Seuche hat vor allem bei denen zugeschlagen.“ Sie sah zu dem Alligaton: „Hör endlich auf, auf der Nutte rumzukauen! Spuck sie aus, du brauchst Platz für die Kleine.“ Kaum gesagt, fiel Ghuna aus seinem Maul und blieb schlafend vor ihm liegen. Dabei war ihr Kopf seltsam nach hinten verdreht. „Ghuna!“, rief Shakún’tala. „Ghuna, geht es dir gut? Ghuna!“ Der Alligaton legte den Kopf schief und sah Tootzes Tante an. Die beiden Hyena lachten auf. „Nein, der geht’s bestimmt nicht gut“, feixte der Hyenamann. Zu ihm und dem Frokvalken sagte Lêma: „Ihr zwei sucht die Bohnen. Kommt bloß nicht ohne sie zurück, kapiert?“ Sie nickten und gingen weg. „Tja, und du ... “, meinte sie zu Shakún’tala. „Du bist zu flink und zu kräftig. Dich mitzunehmen wird nicht einfach. Deshalb nimmt er dich mit.“ Shakún’tala bekam Tränen in die Augen, als der Alligaton herkam, sie der gemeinen Hyenafrau abnahm, und dann sein Maul weit aufmachte, wie bei Ghuna eben. Sie schrie um Hilfe, schrie nach Ghuna, die nicht aufwachte, schrie nach Onkel Dúni’ordch, der zu weit weg war, nach Tootze, der schlief, ihren Eltern, die Nox mitgenommen hatte, und strampelte und wehrte sich. Das brachte nichts. Der Alligaton stopfte sie zwischen seine Kiefer. Weil sie Angst hatte, dass er die zerkaute, machte sie sich klein. Dann wurde es dunkel und schlimm, denn sie hatte größere Angst vor der Dunkelheit, als davor, aufgegessen zu werden.

 

Es war eine Falle. Die Namenlosen hatten Ghuna entführt und gegen eine Doppelgängerin ausgetauscht. Nachdem Wiga, Tootze und Shakún’tala vor den Ungeheuern geflohen waren und sich ein sicheres Versteck gesucht hatten, hatte die falsche Ghuna sie in einen Kokon aus Dunkelheit eingeschlossen und sie entführt. Ihre Lehrmeisterin hatte sie ständig gemahnt, wachsam zu sein, weil selbst bekannte Gesichter falsch sein konnten. Jetzt war sie gefangen. Was mit Wiga und Tootze passiert ist, wusste sie nicht, aber sie war sich sicher, dass es ihnen gut ging. Die Namenlosen taten nichts, wenn man nicht hatte, was sie wollten. Sie hatten Shakún’tala, was ihnen hoffentlich reichte. Sie hatte versucht, sich aus den Fängen des Doppelgängers zu befreien. Zuerst mit ihrem Schwert, das sie bei sich hatte. Aber der Namenlose hinderte sie daran, es zu ziehen. Dann wollte sie ihre leichte Rüstung zum Leuchten bringen. Doch so hätte sie ihm einen Teil der Kraft gegeben, die er zu stehlen beabsichtigte. Am Ende trat und schlug sie zu, was nichts brachte, außer, dass das Ungeheuer zurückschlug. Zusammengekauert wartete sie ab, wohin sie gebracht wurde. Vielleicht erreichte sie die Quelle der namenlosen Schrecken und konnte sie alle auf einmal verbannen. Nichts zu tun, hasste sie, seit sie ein Kind war. Dadurch kam sie sich nutzlos vor. Aber Helden waren nicht nutzlos! Sie durfte nicht nutzlos sein.

Sie dachte an eine Lektion von Ghuna. „Wenn es nichts mehr gibt, das du tun kannst, Prinzessin, dann kannst du immer noch eins tun“, hatte sie gesagt. „Abwarten und herausfinden, was geschieht.“ Shakún’tala hatte geglaubt, sie veralberte sie, und gefragt: „Und wenn ich dann von Nox geholt werde?“ Ghuna hatte gekichert, mit der Schulter gezuckt und geantwortet: „Dann ist es so. Wenn es nichts mehr gibt, damit du ihm entkommst, bringt es nichts, sich zu wehren. Außer, du gehst ihm entgegen. Aber das nur im schlimmsten Fall, Prinzessin. Denn normalerweise gibt es immer etwas, das man tun kann. Die Frage ist, ob es richtig ist, oder sich nicht eine nützliche Gelegenheit bietet.“ Das war ihr damals nicht sofort eingeleuchtet und sie hatte oft mit Ghuna darüber gesprochen. Einmal hatte ihre genervte Lehrerin ihr deswegen sogar mit einem Zauber die Stimme genommen und in einem Fläschen verkorkt, damit sie sie in Ruhe ließ. Damals war sie elf Sommer alt gewesen.

Shakún’tala dachte gerne an diese Zeit, während der namenlose Schatten sie zu ihrem nächsten Heldenschicksal trug. Es beruhigte sie, sie lachte sogar einmal und fürchtete sich nicht mehr. Sie musste nur an sich glauben, dann besiegte sie selbst die mächtigsten Gegner. Das hatte ihr ihre Mutter gesagt, bevor Nox sie mitgenommen hatte. Aber sie wusste, dass es zum Heldendasein gehörte, zu scheitern und sich zurückzuziehen. Sie fragte sich, ob sie nicht zu überstürzt ausgezogen waren. Da fiel ihr ein, dass sie einmal ein Spiel mit Tootze und anderen Freunden gespielt hatte, als sie zwölf war. Es ging darum, einen Drachen zu töten, und wie sie das anstellten. Während des Spiels mussten sie in Rollen schlüpfen, die völlig von dem unterschieden, was sie im echten Leben waren. Shakún’tala war keine große Kriegermagierin, sondern eine singende Bäuerin gewesen. Tootze war ein Schmied, was irgendwie gepasst hatte. Sogar Wiga hatte damals mitgespielt und sollte so tun, als sei er ein wildgewordener Hahn. Dann mussten sie sich vorstellen, wie sie den Drachen bekämpfen. Sie hatten immer wieder verloren. Oft, weil Shakún’tala auf den Drachen mit Topf und Pfanne losgegangen und die anderen ihr gefolgt waren. Sie hatten einen ganzen Sommer in dem Spiel damit verbracht, den blöden Drachen zu besiegen. Als er tot war, war er tot. Was Shakún’tala gelernt hatte, war, nicht überstürzen. Als Bäuerin hatte sie den Drachen in den Schlaf gesungen, dann hatte Tootze mit den anderen Ketten geschmiedet, um ihn gefangen zu nehmen. Wiga hat ihn dann totgepickt, ohne dass er etwas dagegen machen konnte, weil er ja gefangen war. So hatten sie es geschafft, mit einem verrückten Plan.

Einen Plan machen. Das hatte sie nicht gemacht, bevor sie ins Nebelgebirge gekommen waren. Ein Fehler. Jetzt nutzte sie die Gelegenheit, einen auszuhecken. Doch es war zu spät, denn in dem Moment öffnete sich der dunkle Käfig und spuckte sie aus.

 

Shakún’tala zitterte, sie öffnete nicht ihre Augen, weil sie Angst hatte, nochmal ins Maul des Alligaton zu sehen. Vielleicht bekam er dann wieder Hunger auf sie und schluckte sie beim nächsten Mal herunter. „Ey“, sagte jemand und stieß sie an. „Ey!“ Nein, sie wollte nicht, und versteckte ihren Kopf zwischen Armen und Beinen. „Steh auf, kleine Schlampe!“ Ein Tritt gegen ihren Rücken, sie schrie wimmernd auf. „Lass sie“, sagte jemand anderes. Shakún’tala schlug sofort die Augen auf und hob den Kopf. Dort war ja Wiga! Sie sprang auf, rannte auf allen vieren zu ihm und klammerte sich an sein Bein. Ihr Gesicht vergrub sie in seinem Fell. „Oha! Was ist denn das?“, fragte die gemeine Stimme von Tootzes Tante Lêma. Shakún’tala hatte sie deshalb nicht erkannt, weil sich alles anders angehört hatte, während sie in dem schrecklichen Alligaton gewesen war. „Beschütz mich“, winselte sie leise zu Wiga. „Beschütz mich. Sie tun mir weh! Bitte, bitte, bitte ... “ Niemand sagte etwas. Eine schwere Klaue legte sich auf ihren Kopf, was sie beruhigte. Sie sah zu Wiga hinauf, der sie merkwürdig ansah. Er lächelte, aber schlimmer als in ihrem schlimmsten Albtraum. War das überhaupt Wiga? Er sah nicht so treu und freundlich aus, aber - doch, er war es. Er musste es sein. Er war ihr Beschützer und deshalb würde sie ihn überall und immer erkennen. „Normalerweise schreien die wie ein Schwein, wenn wir sie verkaufen“, sagte Lêma. „Aber sie ist halt was besonderes. Deshalb ist sie auch viel mehr wert, als der ganze Schund an Kindern da draußen. Sie ist Pardidin, Bärin und sogar ein wenig Mensch, wenn es stimmt, was mein Neffe mir sagte.“ Wiga schwieg, so als ob er nicht Mal merkte, dass Lêma da war, sondern sah Shakún’tala ganz, ganz tief an. Er konnte ja nichts sagen, denn er war stumm. Schon immer. Warum hatte er eben überhaupt gesprochen? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie wusste, dass er sie verstand, wie viel Angst sie hatte, und dass sie wollte, dass Lêma, der Alligaton, die beiden Hyena und der Frokvalken weggehen sollten, damit sie keine Angst mehr haben musste! Sie ließ ihn los, als er hinkniete, und sie von den schlimmen Leuten wegdrehte und die Klauen auf seine Augen legte, um ihr zu zeigen, dass sie sie wieder zumachen sollte. Sie gehorchte, er war ihr Beschützer, dem sie ohne Wenn und Aber vertraute. Sie hörte nur, was passierte. „Na, bist du zufrieden?“, fragte Lêma. Dann gurgelte und platschte etwas. „Scheiße! Du Hurensohn!“, schrie sie wütend und aufgebracht. „Ich mache dich al-araghphfta---!“ Warum machte Lêma so komische Geräusche? Bekam sie keine Luft mehr? Dann sollte sie aufhören, solche Sachen zu sagen! Papa hatte sie oft gewarnt, das diese Wörter andere und einen selbst böse machten, wenn man nicht aufpasste. Lêma sagte nichts mehr, und nach einer Weile waren die anderen auch still geworden. Aber sie hielt sich trotzdem an das, was Wiga ihr aufgetragen hatte: Augen zu lassen, nicht umdrehen. Manchmal schafften es Geister, von einem Besitz zu ergreifen, wenn man zu neugierig war. Das wusste sie, deshalb machte sie nichts, was sie in Gefahr brachte.

Sie hörte, wie jemand mit schweren Schritten vor sie trat und sie wieder eine Klaue auf ihrem Kopf spürte. Erst dann traute sie sich, nachzusehen. Wiga kniete vor ihr und sah sie an. Sein Gesicht war mit roter Farbe beschmiert. Wo hatte er die plötzlich her? Er hatte versucht, sie abzuwischen, aber das hatte nicht geklappt, denn jetzt sah er aus wie ein Dreckspatz. Eins seiner Augen war purpurroten, das andere silbergrau. Wie Edelsteine. Sie vergaß für einen Moment, wo sie war und dass alle so gemein zu ihr waren, obwohl sie nichts ... getan ... hatte ... Shakún’tala schluchzte und weinte dann. Sie wollte das nicht und versuchte, es zurückzuhalten. Aber je mehr sie dagegen ankämpfte, desto mehr Tränen kamen. Sie war doch so tapfer, dachte sie! Warum weinte sie dann, wie - wie ein ... kleines Mädchen? Wiga nahm sie vorsichtig in die Arme und drückte sie an sich. Sie wurde laut, heulte, weinte und jammerte. Er hielt sie fest umschlungen. Sie hatte sich lange nicht mehr so gemocht gefühlt, und das war schlimm. Jetzt aber war sie froh, weil Wiga da war.

 

Der Namenlose hatte sie nicht ausgespuckt, weil er mit ihr am Ziel war, sondern weil er von Tootze und Wiga verfolgt und gestellt wurde. Tootze hatte ihn mit Wurfmessern erwischt, Wiga hatte ihn mit Bissen bekämpft und Shakún’tala in beide Arme genommen und mit den Klauen festgehalten, als sie aus ihm herausfiel. Sie war nicht mehr ganz bei sich, wegen der Wirkung, die der Schattenatem des Namenlosen gehabt hatte, spürte aber, wie er zitterte. Sie legte ihm die Tatze auf die Stirn und streichelte sie. „Ist ja gut“, sagte sie. „Schon gut.“ Wiga vergrub seine Schnauze bei ihr und rotzte sie voll. Er weinte. Hinter ihnen schrie der Namenlose aufgeregt und verärgert. „Wenn ihr mit Kuscheln fertig seid, helft ihr mir dann?“, rief Tootze. „Unser Freund hier ist sauer auf uns.“ Keine Sekunde später erwischte ihn ein Schattenarm und schleuderte ihn weg. „Lass los, Wiga“, sagte ich. Wiga hielt mich fest. „Lass los, wir müssen helfen!“ Er hielt mich fest, der Namenlose kreischte auf und kam schnell auf uns zu. „Wiga, lass mich gehen!“, schrie ich wütend, doch Wiga hielt mich sogar immer fester und sah mich an. Seine tränigen Augen waren purpur und silber geworden! Der Namenlose war bei ihnen und baute sich auf. Shakún’tala musste etwas tun! Weil sie keine andere Lösung wusste, sagte sie eins der Worte, die niemals aussprechen durfte. Niemals, niemals, niemals, weil sonst die Worte, die sie gegen den Würger einsetzen wollte, keine Wirkung mehr zeigten. Wer sie lernte, erfuhr von anderen, die eine schrecklichere Kraft besaßen. Danach waren sie gehüllt in reines Weiß und tiefes Schwarz. Die Kräfte von Gut und Böse zerrten an ihnen. Alle guten und alle bösen Seiten in Shakún’tala suchten einen Weg aus ihr raus. Jeder, der lebte, jedes Wesen besaß beide. Es kam vor allem darauf an, wer wie viele von ihnen hatte. Waren die ausgeglichen, war die Welt in Ordnung, obwohl Shakún’tala das seltsam fand, weil nur eine Welt ohne das Böse für sie sinnvoll erschien. Aber es war verwirrender, denn eine Welt ohne Böses oder böse Leute, war keine Welt mehr, weil dann alles - selbst die schlimmsten Verbrechen - im Namen des Guten geschahen. Deshalb brauchte jeder beide Seiten, um zu verstehen, was das eine und was das andere, oder richtig und falsch war.

Shakún’tala stand ihren zwei Seiten gegenüber, die strahlte wie Glanz und Glorie, die andere sah aus wie der Sternenhimmel. Sie war erschrocken darüber, dass nicht die gute Seite die Stärkere in ihr war. „Helden müssen zornig sein“, flüsterte die böse Seite. „Helden müssen tapfer sein“, wisperte die andere. „Helden müssen Grimm haben“, sagte die Böse. „Helden müssen gütig sein“, sagte die andere. „Helden müssen entschlossen sein“, sagte die Böse. „Helden müssen verletzlich sein“, sagte die Gute. „Helden müssen gerecht sein.“ - „Helden müssen ehrlich sein.“ - „Helden müssen ehrvoll sein.“ - „Helden müssen sanft sein.“ - „Helden müssen pflichtbewusst sein.“ Die gute Seite verstummte, nur die böse sprach weiter. „Helden müssen mutig sein. Helden müssen beliebt sein. Helden müssen mächtig sein. Helden müssen schlau sein. Helden müssen überragend sein. Helden müssen Vorbilder sein.“ Shakún’tala schüttelte verwirrt den Kopf. „Das sind doch gute Dinge! Warum zählst du sie auf?“, schrie sie ihrer bösen Seite entgegen, die einen kurzen Moment schwieg und dann unbeeindruckt weitermachte. „Helden müssen arrogant sein“, sagte sie. „Helden müssen erniedrigend sein. Helden müssen verachtend sein. Helden müssen neidvoll sein. Helden müssen rücksichtslos sein. Helden müssen eifersüchtig sein. Helden müssen paranoid sein. Helden müssen tödlich sein.“ Zu viel, zu viel, zu viel! Warum sagte ihre böse Seite mehr als die gute? Warum schweigt sie? Shakún’tala schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, was nichts brachte. Sie hörte ihre eigene Stimme trotzdem, wie sie Dinge aufzählte, wie Helden sein müssen. Wie sie der Überzeugung war, dass sie so zu sein haben.

 

Als sie die Augen wieder aufmachte, lag sie angekuschelt an Wigas Schulter. Er saß an einer Wand. Sie war eingeschlafen, nachdem sie so lange geweint hatte. Weinen war anstrengend, aber Mama hatte ihr erklärt, dass es oft in Ordnung war, weil man dadurch alles rausließ, was einen traurig machte. Jetzt war sie bei Wiga, der sie festhielt. Aber wo war er mit ihr hingegangen? Shakún’tala sah sich um. Sie war zu Hause. Nicht bei Onkel Dúni’ordch, sondern zu Hause, wo sie mit Mama und Papa gelebt hatte. Nachdem Nox sie geholt hatten, hatte ihr Onkel erklärt, dass niemand mehr in ihr Haus gehen durfte, weil dort jeder starb. Sterben war wie einschlafen, nur dass man nicht mehr aufwachte. „Schläft Tootze für immer?“, fragte sie, sah zu Wiga und fiepte. Seine Augen waren blau wie Meereswasser! Sie wusste gar nicht, dass er die Augenfarbe selbst wählen konnte, obwohl sie ihn schon lange kannte. Wie lange? Für immer, glaubte sie. Wigas rechtes Ohr zuckte und legte den Kopf leicht schief. Er nickte. „Achso“, sagte sie. „Dann ist er also auch gestorben und von Nox mitgenommen worden, so wie Mama und Papa.“ Er nickte nochmal und schwieg. Aber wie sollte er auch sprechen können? Er war immer stumm gewesen. „Danke, dass du mich gerettet hast. Du bist ein guter Freund“, murmelte sie. Er beugte sich vor und stupste sie an der Stirn, was kitzelte, weil seine Schnauze kalt war. Trotzdem fand sie es schön, weshalb sie kicherte und giggelte.

Shakún’talas Blick schweifte. Das Haus war groß und hatte sogar eine Treppe, auf der sie früher oft herumgehüpft war. Dabei hatte sie sich manchmal wehgetan, aber nie geweint. Hätte sie es, hätte Papa ihr verboten, nochmal auf der Treppe zu klettern. Sie windete sich aus Wigas Umarmung, der sie gehen ließ und im Auge behielt. Sie hüpfte zur Treppe und spielte darauf herum, wobei sie eine Menge Staub aufwirbelte. Doch schon nach ein paar Momenten hörte sie wieder auf. Etwas fehlte. Jemand fehlte. Mama und Papa fehlten. Waren sie nicht oben gewesen, als Onkel Dúni’ordch sie geholt und weggebracht hatte? Sie zuckte aufgeregt, Wiga sah sie merkwürdig ernst an, dann rief sie: „Mama, Papa, ich bin wieder da!“ Schnurstracks hechtete sie den kleinen Gang entlang und freute sich schon, die beiden wiederzusehen. Aber bevor sie es schaffte, das enge Zimmer zu betreten, hielt Wiga sie an Arm fest, der ihr hinterhergeeilt war. „Wiga, lass mich! Mama und Papa sind da drin. Ich weiß, dass sie für immer schlafen, aber ich kann sie doch trotzdem besuchen“, erklärte sie. Wiga blinzelte - und ließ sie gehen. Manchmal war er komisch, das musste Shakún’tala schon sagen. Sie rief nochmal nach ihren Eltern und platzte in deren Zimmer. Auf ihrem Bett war aber niemand, nur seltsame graugelbe Steine und Stöcke, die völlig durcheinander lagen. Zwei große am Kopfende hatten sogar Zähne! Seit wann hatten Steine Zähne? Sachen gab es! Shakún’tala drehte sich enttäuscht um und bemerkte, wie Wiga in der Tür stand und sie traurig ansah. Sie zuckte mit den Schultern. „So schlimm ist es nicht. Mama und Papa sind nicht da“, sagte sie, was Wiga trauriger machte. Aber, warum? Sie ging zu ihm, nahm seine Klaue und beruhigte ihn. „Keine Angst, ich finde sie wieder. Sie sind ja nicht für immer weg. Ich muss nur warten, bis Nox mich auch holt, dann komme ich zu ihnen.“ - „Hrm“, machte Wiga, der sich nicht aufmuntern ließ und traurig blieb. „Vielleicht gehen wir woanders hin?“, schlug sie vor. „Onkel Dúni’ordch will dich bestimmt gerne kennenlernen, wenn ich ihm sage, dass du mich gerettet hast. Komm mit!“ Sie ging voraus, Wiga zögerlich hinter ihr her. Sie war sich sicher, dass sich die beiden verstanden. Ganz sicher!

 

Shakún’tala kehrte ins Schloss ihres Onkels als gebrochene Heldin zurück. Ghuna war entführt worden und sie hatten sie nicht gefunden. Tootze war am Kopf getroffen worden und seitdem wirr. Er sprach keinen geraden Satz mehr und nicht mehr gehen. Wiga musste ihn den ganzen langen Weg zurücktragen. Fast drei Wochen, in denen er nicht heilte. Als Kriegermagierin beherrschte sie Heilzauber, aber keine starken. Die offenen Wunden und Brüche versorgte sie damit, aber sie konnte nichts gegen die Wirrnis machen, die ihren besten Freund befallen hatte. Wäre Ghuna da gewesen, hätte sie ihm geholfen. So war sie und jeder Heiler im Schloss machtlos. Sie sahen alle nur zu und hofften, dass er sich erholte. Shakún’tala fühlte sich mies deswegen. Das war genau das, wovor Ghuna sie gewarnt hatte. Übermut und Stolz und dass sie glaubte, unbesiegbar zu sein. Vielleicht war sie das, aber die anderen nicht. Auf sie hätte sie aufpassen müssen. Weil sie das nicht getan hatte, bezahlten sie den Preis.

Als sie noch im Gebirge gewesen waren, nachdem sie eines der verbotenen Worte gesprochen und ihren beiden Seiten von Gut und Böse begegnet war, war der Namenlose verschwunden. Shakún’tala wusste nicht, ob sie ihn verbannt hatte, glaubte aber nicht daran, sondern dass er geflohen war, nachdem er bekommen hatte, was er wollte. Eine weitere Schuld, die auf ihren Schultern lag. Durch ihre Schwäche hatte sie den Namenlosen eine Macht gegeben, die sie ihnen niemals hätte geben dürfen. Sie ahnte schlimmste Dinge für die Zukunft. Das Reich war durch ihre Schuld in größerer Gefahr als jemals zuvor. Warum hatte Wiga sie festgehalten? Weil er sich um sie gesorgt hatte? Sie mochte ihn gerne, aber dieses Mal hatte er alles falsch im falschen Moment gemacht. Sie hasste ihn nicht deswegen, denn es war nicht sein Fehler. Shakún’tala hatte bei ihm genauso versagt, wie bei Tootze und Ghuna, weil er nicht ohne sie sein konnte und Angst bekam, wenn sie weiter als ein paar Meter weit weg war.

Entsprechend hart war sie zu ihm, nachdem sie zurückgekehrt waren. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein, ohne ihn. Er jaulte vor der Tür und winselte und war traurig. Aber das war ihr egal, obwohl es ungerecht war. Denn Tootze war von dem Namenlosen geschlagen worden, bevor sie überhaupt daran gedacht hatte, das verbotene Wort auszusprechen. Es war egal, ob Wiga sie losgelassen hätte, Tootze wäre trotzdem wirr geworden. Sie war so zornig. Warum war sie es? Weil sie böse war. Ihre beiden Seiten von Gut und Böse hatten es ihr gezeigt, was wehgetan hatte. Sie war in ihrem Herzen schlecht, eine Heldin, ja, aber eine böse. Das war es, warum sie so wütend war. Nicht wegen Wiga. „...a-w-o-o-u-u-u-u...“, heulte er leise und kratzte an der Tür. Shakún’tala saß auf dem Bett. Er war ihr treuester Freund und jetzt behandelte sie ihn wegen ihrer Fehler ungerecht. Sie stand schwer auf und öffnete ihm die Tür. Er saß da wie das Elend selbst, seine Augen waren tränenreich, sein Gesicht vor Ärger und Zorn verzogen. Schräg hinter ihm stand ihr Onkel, König Dúni’ordch der Dritte, und betrachtete sie liebevoll und nachsichtig.

 

„Wer is‘ der Hundesohn?“, blaffte Onkel Dúni’ordch Shakún’tala an. Er schaute Wiga von oben bis unten an und war nicht froh darüber, ihn zu sehen. Wiga war ein paar Meter vor dem Haus stehengeblieben. „Wo warst hin? Solltest Essen mitbringen!“ - „Onkel Dúni’ordch! Wiga hat mich gerettet! Ich habe Ghuna getroffen und sollte ihre Zauberbohnen mit auf den Markt nehmen, wie immer. Aber dann kam Tootzes Tante Lêma mit sehr bösen Leuten. Einer war ein Alligaton und hat Ghuna versucht, aufzuessen. Lêma hat ihm das verboten, weshalb er sie wieder ausgespuckt hat. Ich glaube, Tante Ghuna schläft jetzt für immer, denn sie ist nicht mehr aufgewacht, nachdem der Alligaton sie im Maul hatte. Doch danach hat er mich in sein Maul gesteckt und mitgenommen. Als er mich ausgespuckt hat, war Wiga da, um mich zu retten! Ich musste meine Augen zu machen, dann hat er Lêma und ihre Gruppe und den Alligaton bestraft“, brabbelte sie auf einmal. „Und weißt du was? Wir waren zu Hause! Bei Mama und Papa! Aber sie waren nicht da. Ich habe auf der Treppe gespielt, wie früher, aber es war komisch und anders und deshalb habe ich aufgehört. Danach sind wir hierher gekommen.“ Onkel Dúni’ordchs Hände hatten das Holz der Tür fest gegriffen, er starrte sie an. Sein Gesicht war völlig anders als sonst. Er sah wütend aus, weshalb Shakún’tala Schläge erwartete und die Ohren anlegte. Andererseits fing er an zu weinen und sah traurig aus. „Was?“, fragte er und seine Stimme brach. „Ghuna? Mein Ghuna ... is‘ tot?“ Er schüttelte den Kopf. „Wo ist sie?“ Shakún’tala war verwirrt. War er jetzt wütend oder traurig oder etwas anderes? „Sie ist in der verbotenen Straße. Ich wollte zuerst nicht da durch, weil da so viele böse Männer sind, aber dann kam Ghuna -“ Er ließ sie nicht ausreden, stürmte humpelnd an ihr vorbei und war bald zwischen den Häusern verschwunden. Er hatte die Tür aufgelassen, was ungewöhnlich war, weil er die Tür niemals aufließ, wenn er wegging. Das machte Shakún’tala ein wenig nachdenklich. Sie sah Wiga an. „Was ist mit ihm?“, fragte sie unschuldig. Wiga hob ratlos die Klauen und schüttelte den Kopf. Stimmt. Warum sollte er wissen, weshalb Onkel Dúni’ordch aufgebracht war? Er kannte ihn ja erst seit eben. Sie dachte nicht weiter darüber nach und überlegte, wen sie als nächsten besuchten. Zwar hätte sie Wiga gerne ihr zu Hause gezeigt, aber sie wollte gar nicht mehr hineingehen. Tootze! Sie musste mit ihm zu Tootze. Vielleicht schaffte er es ja, ihn zu wecken.

Sie zog die Tür zu und hüpfte gut gelaunt zu Wiga und nahm ihn an der linken Klaue. Er legte den Kopf schief und sah sie fragend an. „Ich muss dir jemanden zeigen. Er ist mein Bester Freund, zusammen mit dir. Eigentlich kennst du ihn. Woanders. Aber hier kennt ihr euch noch nicht. Deshalb gehen wir zu ihm. Danach gehen wir zu Ghuna. Die kennst du auch schon, aber nicht hier. Ich habe nämlich Tagträume, weißt du? So, wie ein echter Mensch. In denen sind Tootze, Ghuna, du und ich unzertrennlich und Helden und wir retten die Welt!“, erzählte sie, während sie ihn hinter sich her zog. „Mmmrh“, machte er und folgte ihr. Na klar, wo sollte er sonst hin? Sie gehörten schon immer zusammen. „Keine Angst, du wirst ihn mögen. Er ist manchmal ein bisschen gemein und redet viel und schreit, wenn ihm etwas nicht gefällt. Aber eigentlich ist er der beste Freund, den man haben kann. Ich will keinen anderen.“ Zusammen spazierten sie durch die Straßen und zum ersten Mal seit langem fand Shakún’tala die Häuser, an denen sie vorbeigingen, schön und einzigartig, weil keins dem anderen ähnelte. Eins war aus grauem Stein, eins aus Backstein und das nächste aus Lehm. Mit runden und eckigen oder völlig schiefen Fenstern. Manche waren bunt bemalt, andere halb eingestürzt, weswegen niemand mehr darin wohnte. Wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie Glück, als Mischling auf die Welt gekommen zu sein. Dadurch sah sie die unterschiedlichsten und verrücktesten Sachen, die sie niemals nie gesehen hätte, wäre sie eine Reinrassige. Sie trafen ein paar Nachbarn, denen sie artig zuwinkte, weil Mama ihr gesagt hatte, dass gute Kinder immer artig waren. Aber keiner winkte zurück. Schlimmer, sie erschraken sich und gingen schnell in ihre Häuser. Wie unhöflich! Heute waren aber auch alle komisch. Sie ging mit Wiga hinter eins der verfallenen Häuser, wo Tootze auf dem Dreckhaufen lag. „Tootze, ich bin wieder da!“, rief sie, bevor sie bei ihm waren. „Ich habe Wiga mitgebracht, der mich vor deiner Tante Lêma beschützt hat.“

 

Sie standen an Tootzes Bett und sahen ihn an, jeder für sich und ohne Worte. Er sah besser aus, obwohl er immer noch nicht sprach oder aufrecht stand und lief. Aber Shakún’tala war überzeugt, dass er gesund wurde. Vor allem, nachdem ihr Onkel, der König, sie aufgemuntert hatte. „Kein Held ist ohne Fehler“, hatte er gesagt. „Wir verdanken dir und deinen Freunden ein sicheres Königreich. Wir werden euch nicht im Stich lassen, nur weil unsere größte Kriegerin eine Niederlage erlitten hat.“ Danach war er mit ihr und Wiga zu Tootze gegangen, der mit dem Gesicht nach oben halb zugedeckt dalag. Seine Augen waren zwar offen, aber sie sahen nichts. Denn zur Wirrnis kam Blindheit dazu, die nicht verschwand. Er war ein Häufchen Elend. Trotzdem war Shakún’tala stolz auf ihn, weil er es gewesen war, der sie beschützt hatte. „Was machen wir jetzt, mein König?“, fragte sie. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Ihr Onkel war etwas kleiner als sie und sah zu ihr hinauf. Das fand sie nicht in Ordnung, denn ein König sollte nicht nach oben sehen müssen. Deshalb kniete sie. „Ausruhen, das werdet ihr machen“, sagte er weise und bestimmend. „Du wirst wieder ausziehen, wenn es soweit ist. Ob mit oder ohne Tootze.“ Sie war nachdenklich. „Und was ist mit Ghuna?“ - „Es geht ihr gut, ich bin mir sicher. Wir werden sie wiedersehen, wo sie auch ist“, meinte er zuversichtlich. Shakún’tala machte sich trotzdem große Sorgen, weil sie ihre weise Lehrmeisterin zurückgelassen hatte. Denn wenn es eine wichtige, eine goldene Regel unter Helden gab, dann dass sie niemanden zurückließen.

Ihr Onkel verließ sie und ließ sie mit dem ruhenden Tootze und Wiga alleine. Da sprang Letzterer plötzlich auf, verzog die Schnauze komisch und sah Tootze angeekelt an. „Wiga, was ist mit dir?“, fragte sie. Er schnarrte und schüttelte den Kopf, den er wegdrehte und die Schnauze mit einer Klaue bedeckte, so als ob Tootze unerträglich stank. „Er ist unser Freund! Wie kannst du dich nur so verhalten?“, fragte Shakún’tala und war schockiert. Wiga machte sogar einen Schritt zurück, nahm sie am Arm und zog sie mit sich von Tootze fort. „Was soll das? Warum bist du in letzter Zeit so seltsam? Hat dich der Würger verflucht?“ Er hörte ihr überhaupt nicht zu, sondern hielt sie fest und zog sie hinter sich her, bis sie das Zimmer verlassen und im Wohnzimmer ihrer Schlosswohnung waren.

 

Wiga ließ sie nicht zurück. „Wiga!“, rief Shakún’tala beleidigt. „Hör auf damit! Ich will doch nur zu Tootze und ihm sagen, was passiert ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Mrao-wao-wao“, grollte er und stellte sich ihr in den Weg, weswegen sie nicht mehr vorbeikam. Warum durfte sie nicht zu ihm? „Du bist blöd! Wenn du nicht herkommen wolltest, warum hast du mir das nicht gezeigt?“, pflaumte sie ihn an und legte die Fäuste in die Hüften, so wie Mama, wenn Papa sie geärgert hatte und sie damit zeigte, dass sie nicht mochte, was er getan hatte. Zum Beispiel war er einmal völlig durcheinander nach Hause gekommen, hatte eine Flasche in der Hand gehabt und ständig daraus getrunken. Damals stank Papa ekelerregend. Mama war gar nicht begeistert gewesen, hatte ihn wieder rausgeschickt und gesagt, dass sie das nicht mehr wollte, ihn so zu sehen. Er hatte gesagt, dass er mit ihr ein zweites Kind machen will. Dann hatte Mama ihre Fäuste in die Hüften gelegt und den Kopf geschüttelt, dabei aber trotzdem gelächelt. Papa war manchmal frech zu ihr, aber sie war ihm deswegen nie wirklich böse gewesen. Normalerweise hätte er sich danach immer entschuldigt. Nur manchmal nicht, das war dann schlimm, weil Mama dann geweint hatte.

Seitdem machte Shakún’tala ihre Mama nach, wenn sie verärgert, aber nicht böse war. Sie schüttelte genauso ihren Kopf und sagte zu Wiga: „Na gut, dann besuchen wir ihn eben später. Dafür gehen wir aber jetzt zu Tante Ghuna!“ Wiga sah hinter sich zu Tootze, der immer noch schlief. Es war wärmer geworden, deshalb krabbelten viele Fliegen auf ihm herum, oder flogen über ihm durch die Luft und summten dabei laut. Dass ihn das nicht verrückt machte, beeindruckte Shakún’tala. Wiga verzog die Schnauze, sah sie wieder an und nickte zweimal. Er wartete nicht, nahm sie an der Hand und ging. „He! Warum denn so schnell?“, fragte sie. Sie hatte gehofft, dass er an ihr vorbeiging und sie den Moment nutzen konnte, um doch zu Tootze zu gelangen. Aber Wiga war schlauer als sie gewesen. Mist! Er brummte schweigsam und blieb nicht stehen, hob sie sogar hoch und setzte sie auf den Arm. Sie schrie kurz auf, als sie fast herunterfiel, hielt sich aber schnell an seinem Ohr und seinem Fell fest. Er blieb stehen und half ihr auf die Schulter, wo er sie, wie Shakún’talas Papa früher, durch die Straßen trug. Shakún’tala war begeistert, wie anders die Welt von weit oben aussah. Wiga war aber auch ein großer Werwolf. Viel größer als die meisten. Papa war groß gewesen und selbst Onkel Dúni’ordch war nicht klein, aber Wiga war mindestens einen Kopf größer. „Huorm!“, machte er laut. „Oh, tut mir leid!“, sagte sie. Sie hatte ihre Tatzen in seinem Fell vergraben und dabei zu fest gegriffen. Manchmal vergaß sie, dass sie zum Teil Werbärin war und zu viel Kraft hatte. Sie lockerte ihren Griff und Wiga entspannte sofort unter ihr. „Rrrmm?“, fragte er. „Wir müssen da lang“, sagte sie und zeigte nach rechts.

 

Wiga hatte recht damit, als er sie von Tootze wegzerrte. Es nützte niemandem, trübsinnig zu sein. Ihm nicht und schon gar nicht der verschollenen Ghuna. Dennoch gab sie sich zwei Tage Zeit zum Ausruhen, in denen sie gedanklich jeden Teil ihrer Ausbildung durchlief. Dabei verstand Shakún’tala, dass alle Helden am Ende mehr böse als gut waren, um sich mit Entschlossenheit dagegen zu stellen. Kein Held und keine Heldin lebte glücklich und zufrieden, sondern immer auf der Suche nach der nächsten Herausforderung, nach dem nächsten Feind oder der nächsten Ungerechtigkeit, die sie bekämpften. Kein Held und keine Heldin wurde alt, sondern starb eines ruhmreichen Todes.

Sie war schon mit fünf Sommern von den Priesterinnen der Mab auserwählt worden. Weil ihre Eltern tot, sie keine Familie hatte und - so traurig das zu erkennen war - es nicht schlimm gewesen wäre, wenn sie während der Ausbildung gestorben wäre. Damit sie nicht alleine war, haben die Priesterinnen Tootze ebenfalls erwählt. Zwei Jahre lernte sie lesen und schreiben und rechnen, was sie alles langweilig fand. Aber weil Tootze sehr gut darin war, aber sie die Beste sein wollte, hatte sie sich angestrengt, um ihn zu überbieten. In weiteren Stunden brachten die Priesterinnen ihnen Ausweichen und Kämpfen bei. Mit sieben hielt sie das erste Mal eine Waffe in der Hand. Ein kleines Messer. Sie war unzufrieden damit gewesen, weil sie sofort ein Schwert haben wollte. Sie bekam es und verlor ihren ersten Kampf gegen Tootze. Das war furchtbar, denn sie wurde danach für unwürdig erklärt, eine Heldin zu sein, und zurück zu ihrem Onkel geschickt. Damals hatte sie ihre erste Lektion gelernt, dass es nicht auf die Waffe ankam, sondern auf das Können desjenigen, der sie führte. Sie war danach nochmal zu den Priesterinnen gegangen, die sie aber zuerst nicht wieder in ihre Schule einließen. Fast zwei Vollmonde lang hatte sie vor dem Tempel gelebt und die Bewegungen eingeübt, die sie ihr beigebracht hatten. Nachdem sie nochmal gegen Tootze antrat und gewann, wurde sie wieder aufgenommen. Ab da stellte sie keine Entscheidung der Priesterinnen mehr infrage. Mit neun Sommern hatte sie während eines Übungskampfes versehentlich einen Wassergeist beschworen. Sie lernte Ghuna kennen, die eine Priestermutter war. Sie bildete Shakún’tala ab da zur Kriegermagierin aus und brachte ihr gleich nach dem Übungskampf mit einem Bannzauber bei, wie unehrenhaft es war, Magie gegen einen Gegner einzusetzen, der keine beherrschte. Fast zwei Sommer beließ Ghuna den Bann auf ihr, sodass sie die gerade entdeckte Kraft nicht nutzen konnte. „Brich den Bann, dann bringe ich dir bei, was du über Magie wissen musst“, hatte sie nach dem ersten Jahr gesagt. Wieder eine wichtige Lektion: Aus eigener Kraft Hürden überwinden. Sie schaffte es, ihn zu brechen, obwohl sie dabei einem Freund das Leben nahm und große Schuld auf sich geladen hatte. Zweifel und Schuld waren ihre dritte Lektion gewesen. Die vierte, den Mut und die Würde zu haben, den Eltern ihres Freundes zu sagen, dass sie diejenige war, die für seinen Tod verantwortlich war. Sie vergaben ihr, obwohl Shakún’tala nie verstanden hatte, warum. Bis heute, bis jetzt. Hass war ein Gefühl, das fraß und dunkel machte. Um den Würger zu bekämpfen, musste sie dem Hass nah sein, ohne selbst zu hassen, um den nötigen, gerechten Heldenzorn zu spüren, mit dem sie ihm entgegentrat. Nachdem sie Ghunas Bann gebrochen hatte, wurde nur sie allein in die Geheimnisse der allmagischen Kunst eingeweiht. Keine andere Schülerin und kein anderer Schüler der Priesterinnen sonst. Mit Ausnahme von Tootze, der seine Fähigkeiten im Messer- und Schwertkampf schärfte, hatte ihr das damals neidische Blicke eingebracht. Das war wieder eine Lektion gewesen. Wissen bedeutete Macht, nach der viele strebten oder sie verlangten und neidisch auf die wurden, die sie hatten. Es waren schreckliche Erinnerungen, als sechs andere Priesterschüler sie in den Katakomben unter dem Tempel einkerkerten, zwei Wochen jeden Tag prügelten und hungern ließen, um von ihr die verbotenen Worte zu lernen. Sie war vierzehn gewesen. Es war das zweite und letzte Mal, dass die Priesterinnen der Mab sie für unwürdig befanden und nach Hause schickten, nachdem sie eines der Worte gesprochen, sich selbst damit befreit und zwei der sechs Schüler von der Welt verbannt hatte, sodass sie bis in alle Ewigkeit in der Finsternis zwischen den Welten umherirrten. Aber weil sie schon zu viele Geheimnisse kannte, trat Ghuna aus der Schwesternschaft aus, kam an den Hof ihres Onkel und unterrichtete sie weiter. Neben ihr reisten von überall aus dem Reich die besten Kriegerinnen und Krieger, die berühmtesten Schwertmeisterinnen und -meister ins Schloss, um sie zu unterrichten. Nie mehr als ein paar Monate, weil sie nicht länger brauchte, um ihre Kampffähigkeiten zu lernen. Magier kamen keine, Ghuna blieb ihre einzige Lehrerin. Sie machte es ihr nicht leicht. Ihr Unterricht war schwerer als während der Zeit im Tempel. „Die Priesterinnen sind weise und vorsichtig. Manchmal zu vorsichtig. Und dabei überaus dumm. Dich ohne abgeschlossene Ausbildung gehen zu lassen, ist gefährlich für dich, doch noch viel gefährlicher für deine Umwelt“, hatte Ghuna erklärt, als Shakún’tala sie einmal gefragt hatte, warum sie ihr gefolgt war. Als sie sechzehn war, hatte Tootze die Priesterinnen als Meister des neunten Messers verlassen und war in die Welt hinausgegangen, um sich zu beweisen. Noch eine Lektion, die Shakún’tala in ihrem Leben oft gestellt wurde: Geduld haben. Sie wäre ihm gerne gefolgt, doch sie war nicht bereit. Erst drei Sommer später, mit neunzehn, beendete sie ihre Ausbildung bei Ghuna. Sie war keine Meisterin der hohen Magie geworden, konnte sie aber lenken, ohne jemandem zu schaden. Sie war eine Langschwertmeisterin und schmiedete sich ihre eigene Klinge im Fluss des Äthers, weshalb sie mit Magie durchdrungen war.

Shakún’tala seufzte auf. So viele Erinnerungen. So oft hatte Ghuna sie ermahnt, dass Helden nicht alles schafften und es immer Verluste gab. Sie war bereit, sie hinzunehmen. Am Morgen des dritten Tages weckte sie Wiga, bevor es hell wurde. „Steh auf, alter Freund. Wir gehen die Welt retten“, flüsterte sie und streichelte ihm über die Ohren. Er war sofort bereit, wie immer. Sie verabschiedeten sich von Tootze, der nicht mehr sprechen konnte, ihnen aber hinterher sah, und machten sich einmal mehr auf, um den Würger zur Strecke zu bringen.

 

Ghuna lag nicht mehr auf dem Weg, als Shakún’tala und Wiga in der Straße ankamen. „Vielleicht ist sie aufgewacht?“, sagte sie und sprang von ihm herunter. Er beugte sich vor, legte den Kopf schief und sah sie fragend an. „Dort hat sie gelegen“, sagte sie und zeigte auf die Stelle. „Ich weiß, das ist peinlich, aber kannst du ihre Fährte aufnehmen?“ Wiga verzog das Gesicht. Shakún’tala wusste, dass er es nicht mochte, als Spürnase gebraucht zu werden. „Tut mir leid ... “, presste sie hervor und sah nach unten. „Meine Schnauze ist einfach nicht so gut wie deine.“ Er schnaufte sie an, sie sah auf, er schüttelte den Kopf. Dann kniete er nieder und sog laut Luft ein. Er stand auf und sah zu einem schmutzigen Haus. „Dort?“, fragte Shakún’tala, Wiga nickte. Das gefiel ihr nicht. Ghuna war wieder in dem Haus mit dem gemeinen Leonidenhyena, der allen seinen Lubbel gezeigt hatte. Aber sie musste sie sehen und erzählen, was passiert war und dass es ihr gut ging und sie sich keine Sorgen machen musste. Sie schritt an Wiga vorbei, der sie sofort aufhielt. „Was ist?“, fragte Shakún’tala. Wenn er so war, war sie vorsichtig. Er war ihr Beschützer und hatte einen Sinn für Gefahr, selbst wenn sie zuerst nicht da war. „Mrrrrh“, machte er und ging voran. Shakún’tala war direkt hinter ihm, denn sie hatte Angst, hier von jemandem geklaut zu werden. Sie näherten sich dem Haus, in dem irgendjemand brüllte. Der Leonidenhyena? „Nein, Ghuna!“, rief Shakún’tala erschrocken aus, hechtete an Wiga vorbei und schnell durch die offene Tür hindurch. „H-A-O-R!“, bellte Wiga, schaffte es aber nicht, sie aufzuhalten.

Sie platzte hinein, als der fiese Leonidenhyena auf Ghuna lag und sie nicht aufstehen ließ, obwohl sie rüttelte und wegwollte, wobei ihr Kopf hin und her schwang, sich einmal sogar mit dem Gesicht auf den dreckigen Schlafteppich verdrehte. „Lass sie in Ruhe!“, rief Shakún’tala dem Widerling entgegen und trommelte auf ihm herum. Der war nicht froh darüber, packte sie und schleuderte sie fort. Sie prallte gegen eine kaputte Truhe und schürfte sich die Schulter auf, als sie dagegen knallte. „Ich hab‘ bezahlt!“, grollte er und stierte Shakún’tala an. „Mir egal, ob sie hinüber ist und wer mich noch abhält. Ich füll‘ sie auf!“ Dann machte er mehrere Bewegungen und schob ihre Beine auseinander, um Ghuna mit dem Körper zurück auf die Matte zu drängen. Er röhrte laut auf, wie ein großer Hund und fiel dann erschöpft zur Seite, wobei er seine Zunge komisch heraushängen ließ, als ob er Durst hatte. „O-h-h-h ... !“, machte er. „Geil ... Jetzt kannst du die Schlampe wieder haben und dich verpissen, Kleine. Und nimm den anderen auch noch mit. Der liegt da hinten“, sagte er und zeigte auf einen Kleiderberg, der in Wahrheit keiner war. Shakún’tala hatte nur nicht gemerkt, dass dort jemand lag. „Aua“, wimmerte sie leise und stand auf.

In dem Moment kam Wiga rein. „Scheiße, was soll das? Wollt ihr alle meinen Riemen in den Arsch geschoben haben? Verpiss dich, Wölfchen!“, sagte der Leonidenhyena, stand und schüttelte den Kopf. Wiga blieb unbeeindruckt, sah zu Shakún’tala und bemerkte ihre frischen Verletzungen. Seine Augen wurden purpur und silber, er fixierte den Kerl und fletschte grollend die Zähne. Mit gespreizten Hinterläufen bückte er sich, um loszustürmen. „Unterschätz mich bloß nicht, Köter!“, grummelte der Leonidenhyena. „Hab schonmal zwei deiner Leute umgebracht. Werde mit dir auch noch - argh!“ Wiga überfiel, würgte ihn am Hals und schleppte ihn in einen anderen Raum, aus dem Shakún’tala Schreie und Gebrüll hörte. Das war so laut, dass sie sich ihre Ohren zuhielt, bis es vorbei war. Erst dann traute sie sich, anzusehen, wer dort lag. Wiga kam zurück, sein Maul hatte wieder dunkelrote Farbe, die er schnell ableckte. Sie sahen einander an, dann sah Wiga zu dem liegenden Mann. „Mmmhr“, machte er langgezogen. Shakún’tala achtete aber nicht mehr auf ihn, stürzte zu Ghuna und schüttelte sie. „Ghuna, Ghuna!“, rief sie und versuchte, sie zu wecken. Sie drehte ihren Kopf wieder gerade, weil sie glaubte, dass das half. „Ghuna, wach auf!“

 

„Ghuna!“ Es nützte nichts, sie war verflucht worden. Erst wenn Shakún’tala den fand, der sie mit dem Fluch belegt hatte, rettete sie ihre Lehrmeisterin. Es war Glück gewesen, als Wiga und sie nach vier Wochen im Nebelgebirge eine verlassene Festung entdeckten. Es war nicht die Festung des Würgers, denn hier lebte seit langer Zeit niemand mehr. Dafür hatten die Namenlosen diesen verfluchten Ort zu ihrem Heim erwählt. Sie waren keinem von ihnen begegnet, aber Ghuna war hier, also waren sie in der Nähe, wenn sie sie nicht sogar heimlich beobachteten. Aber weil die sich dieses Mal nicht täuschen ließ, malte sie mit einem Stück Kohle mehrere Zeichen auf, mit denen Shakún’tala sofort bemerkt hätte, wenn wieder eine falsche Ghuna vor ihr läge. Aber es war die echte, ihre Lehrerin und treue Freundin. Sie hatte keine Hoffnung mehr gehabt, sie lebend wiederzufinden, doch hier war sie. Shakún’tala war selten so glücklich gewesen, wie in diesem Moment. Sie schob ihre Freude aber zur Seite, da sie in Gefahr schwebten. Denn seit sie die Festung betreten hatten, war Wiga aufgeregt, knurrte, sah sich gehetzt um, verschwand manchmal in dunklen Ecken und Gängen, und kam mit eingezogenem Schwanz zurück. Wer oder was immer die alte Burg behauste, es machte ihm angst.

Doch das war nicht so leicht. Neben dem Schlaffluch war Ghuna mit einem Zauber belegt. Hätten sie sie fortgetragen, wäre sie mit jedem Schritt schwerer geworden, sobald sie die Schwelle übertraten. Weil so ein Zauber aber nur in der Nähe des Verzauberten wirkte, versteckte sich der Zaubernde hier. „Wir sind bald zurück, ich verspreche es“, flüsterte sie Ghuna zu, stand auf und zog ihren Zweihänder. „Wiga, zu mir!“, rief sie, sodass er nicht mehr umherstreifte, sondern zu ihr zurückkam und sich schräg hinter sie stellte. Sie richtete die Schwertspitze zum Boden aus und sagte: „Bei dem Licht der Mutter Mab befehle ich dir, zeige dich, Abtrünniger!“ Dann stieß sie ihr schwer zu Boden und sobald die Spitze den Stein berührte, breitete sich eine schimmernde Lichtkugel um sie herum aus. Nur wahre Helden waren dieser Kraft fähig, das hatte ihr eine der Priesterinnen einmal gesagt. Die Abtrünnigen - Magier, die Flüche aussprachen - wurden sichtbar, sobald die Welle sie berührte. Sie weitete sich in dem großen Saal aus, in dem sie waren. Je größer sie wurde, desto blasser wurde sie und zerstob bald. Hier im Saal war er nicht. „Das wäre zu einfach gewesen“, sagte sie zu Wiga. „Mmmh“, machte er und nickte. „Gehen wir weiter. Wenn es sein muss, durchsuchen wir jeden Raum und jedes Zimmer.“ Darauf verzog Wiga das Gesicht, er mochte diesen Ort hier überhaupt nicht. Es war selten, dass er das offen zeigte, was hieß, dass er schnell wieder wegwollte. Sie suchten lange, das Gemäuer war größer, als sie dachten. Das waren alle Behausungen niederer Mächte, die nichts Gutes im Schilde führten. Labyrinthe, die dazu gebaut oder verändert wurden, um die gerechten Kämpfer zu verwirren. Dadurch passierte es, dass sie manchmal denselben Raum zweimal betraten und nach dem Abtrünnigen suchten.

Sie waren höchsten Zimmer des Bergfrieds angekommen, dem Schlafzimmer des Königs. Alle Möbel sahen verfallen oder verschimmelt aus, der Wind blies durch die Fenster. Wieder richtete Shakún’tala ihr Schwert mit der Spitze zu Boden und sagte laut: „Bei dem Licht der Mutter Mab befehle ich dir, zeige dich Abtrünniger!“ Die Welle sanften Lichts breitete sich aus, der Schleier fiel, sie hatten den Abtrünnigen gefunden. Er stand neben dem zerstörten Bett. Es war -

 

- Onkel Dúni’ordch. Shakún’tala bemerkte ihn erst, als sie von Ghuna abließ, die nicht aufwachte, so wie Tootze. Spielten sie beide dasselbe Spiel? Spielte ihr Onkel jetzt auch mit? Sie sah ihn sich genauer an. Er hatte die Augen offen und rote Farbe am Hals. Er bewegte sich nicht. „Onkel?“, fragte sie und krabbelte von der Schlafmatte mit Ghuna zum ihm hin. Dabei bemerkte sie ein paar Wunden und dass eins seiner Beine fehlte. Das musste wehgetan haben. Er lag auf der Seite. Die Kleidung war nicht mehr schön. Sie pustete auf seine Wunden und zum Schluss lange auf sein fehlendes Bein. Nichts brachte Heilung, er wachte nicht auf. Warum spielten alle dieses doofe Spiel mit ihr? Sie wollte das nicht mehr! „Wacht endlich auf!“, rief sie ihnen völlig genervt zu und sah Onkel Dúni’ordch und Ghuna abwechselnd an. „Jetzt, sofort! Ich mag das nicht mehr.“ Sie blieben liegen. „Mhmhmh“, grummelte Wiga, kam zu ihr und hob sie vorsichtig auf. „Warum wachen sie nicht auf, Wiga? Warum sind sie genauso blöd wie Tootze und schlafen nur noch?“, fragte sie ihn. Er blinzelte und antwortete nicht. Er wusste selbst nicht, warum sie Shakún’tala ärgerten. „Kannst du sie nicht aufwecken? Ich mag nicht alleine sein“, sagte sie traurig und ließ den Kopf hängen. Wiga streichelte sie sanft mit einer Klaue über die Stirn, die sie dann in sein Fell drückte. „Du wirst auch irgendwann gehen. Dann bin ich einsam“, murmelte sie. „Mrrrrh!“, machte Wiga, schüttelte den Kopf und drückte sie an sich. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte alleine sein. Als er sie nicht losließ, schlug sie mit ihren kleinen Pranken auf ihn ein und schrie sofort los. „Lass mich, lass mich, lass mich!“, kreischte sie und hoffte, dass jemand ihr Geschrei hörte, das Haus betrat und sie befreite. Aber es kam niemand. Sie wollte weg. Weg von Ghuna, weg von Onkel Dúni’ordch, weg von Tootze. Weg von Wiga. Alle ließen sie zurück, deshalb blieb sie lieber alleine. Als nichts mehr half, biss Shakún’tala zu und verbiss sich in Wigas rechtem Arm, knurrte, fauchte und zerrte. Wiga hielt sie tapfer fest, stöhnte grollend, während sie ihm wutentbrannt ein Stück Fleisch abbiss und mit ihren Krallen tiefe Wunden riss, die er zurückbehielt.

 

„Onkel?“, fragte Shakún’tala überrascht, als sie das Gesicht König Dúni’ordchs erkannte, der neben dem zerfallenen Himmelbett stand und sie beide ansah. Er sah anders aus, in dunkle Gewänder gekleidet, hatte er einen nachtblauen Mantel mit Kapuze an, der mit einer silbernen Sternenbrosche verschlossen war. Statt seiner Krone trug er ein Diadem. Er war ausgemergelt. „Meine liebe Nichte“, sagte er und lächelte sie nachsichtig an. „Was machst du hier?“, fragte sie. Wiga knurrte und grollte gefährlich hinter ihr. Normalerweise wäre er schon längst losgestürmt, aber er hatte große Angst, klemmte die Rute zwischen den Beinen ein und legte die Ohren an. Seine Augen waren purpur und silber geworden! „Ich?“, fragte ihr Onkel und zeigte auf sich selbst. „Ich bin hier, weil es meine Aufgabe ist.“ Shakún’tala schüttelte verwirrt den Kopf. „Deine Aufgabe?“ - „Meine kleine Prinzessin Shakún’tala“, sagte er und sah sie an, wie damals in ihrer Kindheit, nachdem ihre Eltern gestorben waren. „Das Königreich steht vor dem Untergang. Unser Volk fürchtet keine Gefahren mehr. Das ist schön, sorgt aber dafür, dass jeder nur noch für sich ist. Nur ein Feind, der es bedroht, kann es zusammenhalten. Und eine Heldin, du, die es mit ihrem Leben und ihrer Seele verteidigt. Eine Heldin, die sich selbst beschmutzt und das Blut anderer an ihrer Rüstung und ihrem Schwert kleben hat.“ Sie dachte kurz über seine Worte nach, als es ihr dämmerte und sich anfühlte, als hätte Tootze ihr in den Bauch geboxt. „Du bist der Würger?“, fragte sie ungläubig. Er nickte. Ihre Beine wurden weich und sie ließ ihr Schwert fallen. „Nein!“, brüllte er unerwartet, sodass Shakún’tala zusamnenzuckte. „Heb es auf! Sofort!“ Sein fürsorgliches Gesicht hatte sich in eine Fratze des Zorns verwandelt. „Warum du?“, fragte sie, weil alles, was sie über ihn wusste, durcheinandergebracht wurde. „Wer sonst, wenn nicht ich? Der schwächste König, der auf dem Thron saß, seit er erbaut wurde? Der Schwache und Naive, Weniggeachtete? Ich musste es sein. Ich bin der, der da ist, um dich unsterblich zu machen, und das Reich vor dem Verfall zu schützen durch das größte Opfer, dass ein König bringen kann. Indem er sich gegen es stellt, schwere Entscheidungen trifft, opfert, was er liebt. Ich bin der Böse und du wirst mich zur Strecke bringen!“ Er hob den Arm und ein Speer aus Eis entstand schwebend über ihm, den er jeden Augenblick auf sie schleuderte. „Heb es auf, ich befehle es dir!“, schrie er sie an. Wiga beugte sich nieder, grollte und sprang auf ihn zu. „Nein!“, rief Shakún’tala, doch es war zu spät. Er rannte Dúni’ordch um und biss ihm in den Hals. Der schrie würgend auf. Shakún’tala beschwörte die Psynergie herauf, eine schnell gebündelte Kraft, und stieß Wiga mit ihr fort, der jaulend in die andere Ecke des Raums geschleudert wurde. Sie eilte zu ihren Onkel, der blutüberströmt und mit zitternden Händen seine Wunde zuhielt. „Nein, nein, nein!“, sagte sie, legte die Hand auf und wollte ihn heilen. Doch er schlug ihre Arme weg. „Dein Schwert ... “, röchelte er. „D-dein Schwert ...“ Sie sah sich gehetzt um, stob zurück, fiel hin, rappelte sich auf und holte es. „Hier! Hier ist es!“, rief sie und rannte zu ihm, wünschte sich aber, es nicht getan zu haben. Denn seine Augen sagten das, was sein Mund nicht mehr zustande brachte. Es war ihr Schicksal, den Würger zu besiegen und als Heldin ins Reich zurückzukehren, seit sie fünf Jahre alt war. Vor zwanzig Sommern hatte Onkel Dúni’ordch beschlossen, zu dem zu werden, der vor ihr im Sterben lag. Vor zwanzig Sommern hatte er beschlossen, Ghuna einzuweihen. Und Tootze. Und sogar Wiga. Jeder von ihnen, das wurde ihr klar, wusste schon lange, wer der Würger war. Und um endlich, endlich die strahlende Gestalt ihres Volkes zu werden, musste sie zustechen. Es war alles geplant, bis zu diesem Augenblick, in dem sie ihre Erzfeinde vernichtete. Aber - sie konnte nicht.

 

Shakún’tala blieb in Wigas Arm verbissen, während er sie durch die Straßen trug. Sie war so wütend darüber, dass jeder sie alleine ließ und niemand mehr mit ihr spielte. Alle verließen sie. Selbst Onkel Dúni’ordch, den sie liebte, obwohl er sie gehauen hatte. Keiner kümmerte sich um sie. Das machte sie traurig, doch sie weinte nicht. Ghuna hatte ihr früher einmal erklärt, dass sich Trauer manchmal wie Leere anfühlte, wenn sie sehr schlimm wurde. Deshalb hatte sie so viele Männer und Frauen besucht. Genau so fühlte sich Shakún’tala im Moment. Sie war leer. Sie fragte sich, was passierte, wenn sie sich wehtat. Kam die Leere dann heraus, oder sah sie dann in sich hinein, weil da nichts mehr war? Egal. Das wollte sie eigentlich gar nicht wissen, denn es war ihr egal. Gerade war ihr gar nichts mehr wichtig.

Sie hatte keine Ahnung, wohin Wiga sie brachte, denn die Straßen hier kannte sie nicht. Sein Ziel war nicht das zu Hause von Onkel Dúni’ordch und auch nicht ihr altes zu Hause. Er brachte sie weg. Weit weg. Ihre Zähne waren in seinem Fleisch und wenn sie es schmeckte, spannte sie ihr Maul wieder an. Dagegen konnte sie gar nichts machen, es passierte von selbst. Wiga knurrte deswegen immer wieder, sah sie aber nicht böse an, was sie komisch fand. Sie wäre böse, wenn jemand in ihren Arm gebissen hätte. Die Straßen waren leer, jeder verschwand, sobald sie Wiga sahen. Shakún’tala hatte auch gar keine Lust, die Nachbarn zu grüßen, denn die meisten kannte sie nicht, während sie die anderen nie gemocht hatte, weil sie immer nach ihr getreten hatten.

Sie waren viele Stunden unterwegs. Als Shakún’tala bemerkte, wie sich die Straßen, mit den vielen, nicht zusammenpassenden Häusern veränderte und überall Pflanzen und Blumen in allen Farben zu sehen waren, ließ sie von Wigas Arm ab, um sich umzusehen. Sie machte große Augen und sah sich rundherum um. So schön! Mama und Papa hatten sie früher öfter zu einer kleinen Wiese mit ein paar Blumen mitgenommen, aber so viele waren dort nie gewesen! Neben der Wiese und den Blumen waren hier aber andere Pflanzen. Größer, mit einem dicken braunen Stiel, der in eine Menge weiterer brauner Stiele verzweigte. Jeder davon hatte grüne Blätter! Sie staunte! Was waren das für große Pflanzen? Sie waren groß wie Häuser und so viele, dass es dunkel wurde. Sowas hatte sie vorher nie gesehen. Waren die schon immer da gewesen? Sie hörte ein Zwitschern, dann noch eins und noch eins, und sah sofort in die Richtung. Drei kleine Vögel mit blauen und gelben Federn sangen um die Wette. Sie kannte Raben und Krähen und Tauben, aber solche nicht. Woher kamen sie plötzlich? Oder waren sie schon immer da gewesen? Sie hüpften auf den großen Pflanzen herum. Shakún’tala zuckte, als einer weg- und an ihr knapp vorbeiflog. Manchmal, ganz selten, hatte sie Lust darauf, Tieren oder anderen Sachen, die sich schnell bewegten, hinterherzujagen, weil sie es lustig fand, wie sie vor ihr wegrannten. Dann bekam sie aber oft Hunger und stellte sich vor, wie es war, die Tiere zu essen. Sie hatte das einmal mit einer Maus bei Onkel Dúni’ordch zu Hause gemacht, was aber nicht so lecker war. Dennoch fauchte sie dem Vögelchen hinterher. Wäre sie hinterhergerannt, hätte Wiga sie nicht aufhalten können, denn er hielt sie nur lose fest.

Er trug sie weiter und weiter und weiter von zu Hause weg. Aber das war in Ordnung für sie. Sie wollte nicht mehr zurück und war zufrieden damit, dass Wiga sie mitnahm. Weil Shakún’tala sich schuldig fühlte, dass sie ihn verletzt hatte, leckte sie seine Wunden sanft sauber und schnurrte. Wiga brummte dabei, um ihr zu zeigen, wie er das mochte. „Tut mir leid“, sagte sie kleinlaut. „Ich war böse.“ Wiga schüttelte mit dem Kopf. „Hrurm“, machte er und gab ihr Köpfchen. „Weinst du?“, fragte Shakún’tala, als sie Tränen in seien Augenwinkeln bemerkte. Er zuckte zurück, schüttelte mit dem Kopf und sah weg. Sie sagte nichts, weil Wiga anders war als andere. Er mochte es nicht, wenn man über Gefühle sprach, weshalb sie ihn in Ruhe ließ. Trotzdem war sie verwundert, dass er weinte. Er hatte noch nie geweint. So wütend sie heute gewesen war, so ruhig war sie jetzt. Das schaffte nur Wiga.

Sie kamen zu einer riesigen Wiese, die von den Riesenpflanzen umzingelt war und auf der ganz, ganz viele Blumen wuchsen. Sie hielt erstaunt die Luft an. So wundervoll! Sonnenblumen! Sie konnte sie gar nicht zählen! Aufgeregt sprang sie von Wiga herunter und stob in die Wiese hinein. Er ließ sie gehen und schlenderte langsam hinter ihr her. „Hrhrhr“, lachte er. Tausend Düfte überschwemmten Shakún’tala, sie liebte sie alle. Aber keiner war besser als der der Sonnenblumen. Sie blieb vor einer stehen, die ihren Kopf nach unten neigte, als sie sich ihr näherte. Das hatte keine ihrer Blumen zu Hause je gemacht. Sie blieb abrupt vor ihr stehen und sah sie mit großen Augen an. Sie duftete nicht nach einer Sonnenblume, sondern anders. Vetraut. Aber Shakún’tala wusste nicht mehr, woher sie den Geruch kannte. Die Blume folgte mit ihrem Kopf, wenn sie sich bewegte. Dann bemerkte sie, wie eine andere ihren Kopf herab neigte und sie auch ansah. Sie duftete auch anders, als eine richtige Sonnenblume. Aber Shakún’tala erinnerte sich nicht, woher sie den Geruch kannte. Zum verrückt werden! „Wer seid ihr?“, fragte sie die beiden Blumen, die den Kopf neigten, bis sie fast ihr Gesicht berührten, und ihre Stielblätter ausbreiteten. „Soll ich euch umarmen?“, fragte sie und die Blume nickte. Sie umarmte sie und es fühlte sich warm an, als die Sonnenblume die Umarmung erwiderte. Dann umarmte sie die Zweite. Und nach der zweiten neigte eine dritte ihren Kopf, die sie ebenso umarmte. Alle hatten eigenartige Düfte. Nach der dritten, wollten viele andere umarmt werden. Jede nahm sie in den Arm und nach jeder fühlte sie sich besser und geliebter. Bei der letzten aber wusste sie sofort, nach wem sie duftete. „Onkel Dúni’ordch?“, fragte sie vorsichtig. Die Blume sah sie augenlos an und nickte leicht. Shakún’tala staunte! Nachdem sie herfand, dass ihr Onkel als Blume vor ihr stand, erinnerte sie sich, woher sie alle anderen Düfte kannte. „Wiga!“, rief sie aufgeregt und sah sich um. „Wiga!“ Er kam von rechts, blieb bei ihr stehen und sah sie von oben herab an, seine Augen waren blau. „Die Sonnenblumen! Das ist meine Familie! Mama, Papa und Onkel Dúni’ordch! Bestimmt sind Tootze und Ghuna auch hier“, erklärte sie schnell. Sie rannte ein paar Meter weiter und fand Ghuna. Ihr gegenüber stand Tootze. „Sie sind alle hier!“, rief sie fröhlich. „Alle sind da!“ Sie freute sich und lachte so laut, wie das letzte Mal, als sie mit Mama und Papa gespielt hatte. Sie ging nochmal zu jeder Sonnenblume und umarmte sie wieder, diesmal länger, und wusste danach, wer sie war. Mama und Papa drückte sie an sich und ließ sie gar nicht mehr los. „Ich bin nicht mehr alleine“, sagte sie zu Wiga, der sich in der Nähe hingehockt hatte und sie beobachtete. „Ich gehe nie wieder weg. Hier bleibe ich“, entschied sie und drehte sich zu Wiga um. „Aber so wie ich jetzt bin, geht das nicht.“ Wigas rechtes Ohr zuckte, er legte den Kopf leicht schief. „Ich muss eine Sonnenblume werden. Dann kann ich für immer bleiben“, sagte sie. „Hrrmrr?“, machte er. Sie nickte. „Ich weiß, das ist viel, was ich will. Aber du bist der Einzige, der mir helfen kann Wiga.“ Er neigte den Kopf langsam, seine Augen wurden purpur und silber, was Shakún’tala gruselig fand, weil er dadurch furchterregender aussah, als er war. Sie ging auf ihn zu und legte ihre Pfote auf sein Knie. „Du bist danach alleine, ich weiß das. Aber bitte, bitte, bitte, hilf mir, bei ihnen zu bleiben“, flehte sie ihn an. Es war ungerecht, aber sie wollte so unbedingt hierbleiben. Nur, als Mischling war das unmöglich.

Wiga sah sie traurig an, grabbelte nach ihr und drückte sie fest an sich. Er zitterte. „Wenn du mir hilfst, bin ich immer hier“, sagte sie, um ihn zu überzeugen. „Dann kannst du - !“

!!!

Komisch. Shakún’tala konnte nicht mehr sprechen. Sie wurde herumgewirbelt, bis sie auf dem Boden aufkam. Aber es tat nicht weh. Sie sah Wiga. Und sie sah sich selbst. Sie blinzelte. Aber was sie sah, stimmte nicht. Sie stand vor Wiga, der seltsam grinste, und hatte keinen Kopf mehr. Sie fiel um und rote Farbe kam aus ihrem Hals ohne Kopf, so als hätte jemand einen Eimer mit Wasser umgestoßen. Dann wurde ihr warm und alles so hell, dass sie nichts mehr sah. Wiga war ein echter Freund.