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Siebter Abschnitt "Kalanthe IV"


Kalanthe IV

Ich war wie vor den Kopf gestoßen, nach dem, wie er mit der Geschichte abschloss. Zuerst wusste ich nichts zu sagen, weil mich ein Gefühl nach dem anderen überrumpelte. Wut, Zorn, Trauer, Unverständnis, und eine ganze Menge mehr. „Warum?“, war das Einzige, das ich rausbrachte, ihn ansah und überrascht bemerkte, wie er zitterte. „Ich habe sie auseinandergenommen“, gestand er. „Schlimmer als Vlooriean. Ich habe ihr den Kopf abgeschlagen und Dinge mit ihrem Körper gemacht ... Ich konnte nicht anders. Sie war zu mächtig.“ Ich war verwundert darüber, als er den Kopf zwischen seinen Klauen einklemmte und zu Boden starrte. Das passte nicht zu Agelulf, aber er schien sich zu fürchten. Nicht vor etwas, das getan hatte und ihn verfolgte, eher, als ob es in Zukunft passierte. Mich hingegen beschäftigte etwas anderes. „Was ist mit der anderen passiert? Der Heldin?“, fragte ich, um mich selbst davon abzuhalten, daran zu denken, was er dem Mädchen angetan hatte. Er sah auf. „Sie hat ihren Onkel nicht getötet, sondern gerettet, ist mit ihm zurück ins Königreich und hat ihm vergeben.“ Ich schüttelte irritiert den Kopf. „Das war es? Mehr nicht? Ein gutes Ende für alle? Hältst du mich für eine Närrin?“, rief ich laut aus. Er hörte auf zu zittern und nahm seine Klauen herab. „Ich verstehe, warum du mir böse bist. Aber bevor du mich verurteilst, solltest du wissen, dass beide Shakún’talas, das Kind und die Heldin, existieren.“ - „Wie soll das gehen? Die Geschichte mit der anderen Shakún’tala war doch nur erfunden“, wandte ich ein. „Zuerst, ja“, antwortete er. „Später nicht mehr. Shakún’tala war zum Teil ein Mensch.“ Ich schüttelte abwehrend mit dem Kopf. „Was erklärt das schon?“ Agelulf knurrte warnend. „Unterbrich mich nicht ständig. Ich will es dir erklären“, grollte er und war wieder der Werwolf, den scheinbar nichts berührte. Ich nickte schweigend und zeigte ihm an, fortzufahren. „Denk an das, was Okka mir gesagt hat. Menschen erschaffen mit jedem Traum ein Universum. Wenn sie oft genug denselben Traum träumen, egal ob im Schlaf oder als Tagtraum, bleibt es bestehen.“ Ja, das machte Sinn, wenn man glaubte, was der verrückte Okka ihm aufgebunden hatte. Ich bezweifelte es, wollte aber keine unnötige Diskussion deswegen riskieren. Für Agelulf war es die Wahrheit und Realität, nur das zählte. „Eine Alternative?“, fragte ich, er schüttelte leicht den Kopf. „Nein, eher eine Ausweichrealität. Weil die Welt um sie herum unbarmherzig war, hat sie sich eine eigene geschaffen, in der sie stark und mächtig ist. Als ich ihr -“, er schluckte. „Als ich sie zurichtete, ist ihr Bewusstsein übergewechselt und wurde endgültig zur Heldin, die ihren Onkel nicht tötete, sondern rettete und zurück in ihr Reich brachte, wo alle glücklich sind und niemand mehr leiden musste.“ Das war ein schrecklicher, obwohl tröstlicher Gedanke. „Und deine Rolle? Wie kamst du in ihre erträumte Welt?“ Agelulf sah mich nachdenklich an. „Weil ich von Anfang an in ihrer Traumwelt war, aber ihr noch nicht in unserer begegnet bin?“ Ich nickte langsam. Er seufzte grollend und antwortete: „Ich weiß es nicht. Das ist mir ein Rätsel, das mich beschäftigt, und mir Angst macht, weil ich es nicht lösen kann. Nicht ohne Hilfe.“ Mir kamen ein paar Tränen, die ich schnell wegwusch. Shakún’tala war ein unschuldiges Mädchen mit einem harten Schicksal gewesen. Ich fragte mich, ob Agelulf Gnade damit gezeigt hatte, sie so zu behandeln. Andererseits hatte er ein Ziel, das für mich undurchsichtig war, und das er verfolgte. Er ließ sich nicht davon abbringen, egal was ihm in den Weg gestellt wurde - selbst wenn es nur ein kleines, unschuldiges Mädchen war, das verzweifelt nach Aufmerksamkeit und Liebe suchte. Wie wichtig war ihm die Aufgabe, die er erfüllte, wenn er sogar vor dem Leben eines Kindes keine Achtung mehr hatte? „Warum konntest du nicht sprechen?“, fragte ich, um voranzukommen und nicht in Gedanken zu verhaften. „Warum konnte Wulfiga nicht sprechen?“, wiederholte er die Frage. Jetzt sprach er in der dritten Person von sich selbst? Es fiel mir immer noch schwer, ihn nicht mehr als Wulfiga zu betrachten. „Sie war mächtig. Sie hatte nicht nur die Gabe, eine zweite Realität zu erschaffen. Sie war in der Lage, jeden zu beeinflussen, ohne dass ihr das bewusst war. Weil ich in ihrer Vorstellung stumm war, schwieg ich. Es kamen keine Worte aus mir heraus.“ Ich sah auf meine Hände, die rau waren und unweiblich aussahen von der jahrelangen Feldarbeit. „Ich habe noch so viele Fragen“, sagte ich. Er erhob sich abrupt, kam zu mir und hob mich auf. „Später. Es tut weh, an Shakún’tala zu denken. Urrdat wartet auf uns.“

 

Er wartete vor ihrer Behausung. In dem Moment begriff ich erst, wie tief verwurzelt die Hierarchie in ihnen war. Urrdat wagte offenbar nicht, ihr Heim zu betreten. Als er uns zwischen den Bäumen entdeckte und langsam herankommen sah, wanderten seine Ohren Zentimeter um Zentimeter herab, er klemmte die Rute zwischen den Beinen ein und mied jeden Blickkontakt mit uns. Agelulf setzte mich neben dem Eingang ab. „Warte kurz“, sagte er und ließ mich an Ort und Stelle zurück. Er wandte sich zu Urrdat um, der sich beschämt abgewandt hatte, fletschte knurrend die Zähne und näherte sich ihm langsam. Er führte die Schnauze nah an dessen Gesicht heran. Seine Zungenspitze zeigte mehrmals hervor, wodurch er schnarrte, dann wieder grollte und die Kiefer leicht öffnete, während er Urrdat fixierte, mit dem Kopf vorzuckte und andeutungsweise seinen Hals angriff. Ihrer beider Fell sträubte sich. Bei Urrdat aus Respekt, bei Agelulf aus Dominanz. Während Urrdat versuchte, durch kleine Schritte rückwärts auszuweichen, setzte Agelulf nach, bis er am Ende zubiss und ihn an der Kehle hatte. Urrdat erstarrte. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte sich Angstschweiß auf seiner Stirn gebildet. Er wimmerte leise wie ein treudoofer Hund. Agelulf ließ von ihm ab und starrte ihn nieder. „Du bist unter mir, Urrdat Úlvetand. Sie ist mein! Benutze sie, wie du willst. Aber wenn du sie verletzt, werde ich der erste Rudelführer ohne Rudel sein“, sagte er mit einer unnatürlichen tiefen Stimme, von der ich überzeugt war, dass nicht mal Werwölfe so sprachen. Als hätte ich einen falschen Gedanken gehabt, sahen sie mich beide gleichzeitig an. Ihre Augenfarbe ... schon wieder. Opalrot bei Urrdat, sandgelb bei Agelulf. Die Farbe hatte sich erst verändert, als sie mich betrachteten. Es war wie bei den Geistern, die Wulfiga begegnet sind. Was immer das auslöste, es hatte mit mir zu tun. Da ich ihr Gestarre nicht ertrug, raffte ich mich schwer auf und humpelte eilig in die Höhle. Kaum war ich durch den engen Eingang durch, fasste mich jemand von hinten. „Lass mich gehen, Agelulf. Ich muss mich ausruhen“, sagte ich. Ich hatte ihn an seinem Geruch erkannt. Seit wann wusste ich, wie er roch? Und wie hätte ich den von Urrdats Geruch unterscheiden können? „Das wirst du“, sagte er und führte mich an der Hand zu meinem Schlafplatz. „Sprich vorher ihm. Er hat Fragen.“ Ich setzte mich vorsichtig hin und sah ihn schief. „Er hat Fragen an mich?“, wunderte ich mich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich in der Lage war, sie zu beantworten. Agelulf nickte, sagte aber nichts. „Was ist mit meinen Fragen an dich?“ - „Ich werde sie beantworten, aber ich brauche Zeit“, erklärte er. Von Shakún’tala zu erzählen, hatte ihn mehr aufgewühlt, als ich bisher wahrgenommen hatte. „Eine Frage ist aber dringend“, sagte ich. Er zog die Augenbrauen hoch. „Welche?“ Ich sah ihn tief an. „War es das wert bei ihr?“, fragte ich. Er sank etwas in sich zusammen und ließ den Kopf leicht hängend. Den Blickkontakt unterbrochen, antwortete er: „Ich hoffe es. Ich weiß es noch nicht.“ Ich wollte etwas sagen, aber er verweigerte sich, wandte sich ab und ging wieder, bevor ich ein weiteres Wort an ihn richtete. Ich atmete tief ein und aus, legte mich dann hin, hatte bereits vergessen, wer keine Minute später bei mir war und sich neben mich hockte. Ich zuckte zusammen, als er sich räusperte und ich mich liegend mit klopfendem Herzen langsam umdrehte. Alles tat mir weh nach den letzten Stunden. Urrdat hatte die Ohren noch angelegt. „Lass das“, sagte ich, als er das Maul öffnete, um sich zu entschuldigen. Sofort kletterten sie wieder hinauf. „Was denn?“, fragte er heiser. Die Auseinandersetzung mit Agelulf hatte Spuren hinterlassen. „Um Vergebung zu bitten. Du hast mich als deine Beute angesehen, oder?“, fragte ich. Er wusste nicht, was er sagen sollte und nickte langsam. „Hättest du mich gefressen, wenn Agelulf nicht gekommen wäre?“ Er überlegte ein paar Sekunden und nickte nochmal. „Aber ich -“, fing er an. „Dann musst du dich für nichts entschuldigen“, unterbrach ich ihn sofort. „Ich war für dich Beute, du hattest Hunger und wolltest essen. Das ist nicht verwerflich, auch wenn ich dabei fast gestorben wäre. Also lass es, Urrdat.“

Er war zuerst verdattert, dann wanderten seine Maulwinkel hinauf und ich sah in das schönste Werwolflächeln, das es gab. „Du kannst mich weiter Ibor nennen. Anders als Agelulf lege ich keinen Wert darauf, dass alle mich mit neuem Namen ansprechen“, sagte er, nahm meine Hand und schnupperte daran, bevor er darüber leckte, um wieder eine Verbindung zu mir herzustellen. „Was hat es damit auf sich?“, fragte ich. „Wulfiga wurde zu Agelulf, Ibor wurde zu dir. Ich habe das noch nicht begriffen.“ Urrdat, der von mir wieder Ibor genannt werden wollte, setzte sich von der Hocke bequem hin und legte den Kopf leicht schief, so wie Agelulf. „Das wirst du auch nie. Jedenfalls nicht ganz. Du bist keine uns. Ist nicht schön, das zu sagen, aber es ist so. Außenstehende verstehen nicht, was wir Werwölfe da durchmachen. Zumal nur ganz wenige das erleben, was wir beide erlebt haben. Ich weiß nicht, ob ich dir erklären kann, was kaum zu erklären ist. Vorher muss ich aber etwas verstehen, dann geht es vielleicht besser.“ - „Und was?“ - „Letzte Nacht sagtest du, dass du mich zur - äh -“ Er überlegte angestrengt. „Ich habe das Wort vergessen. Du hast mich hingeführt, sagtest du.“ - „Du meinst die Verzückung?“, fragte ich, worauf er sich sofort nach vorne beugte. „Ja! Verzückung? Ver-zück-ung ... Verzückung“, wiederholte er ein paar Mal langsam, um sich das Wort einzuprägen, sah dann mich wieder an und fragte: „Was ist das?“ Ich war überrumpelt von der Frage, da es für mich das einleuchtendste der Welt war. Ich sammelte mich kurz, denn es war nicht leicht, alles in ein paar Worten zusammenzufassen, was sie bedeutete. Aber als ich in Gedanken zusammentrug, was ich wusste, wurde mir klar, wie wenig das war, bis auf diese eine Sache. Ich setzte mich auf, Ibors Pupillen weiteten sich. „Da!“, sagte er, um den Moment zu verdeutlichen. „Du hast gerade eine Stufe erreicht.“ Eine Stufe? „Woher weißt du das?“, fragte ich betroffen. Er betrachtete mich eingehend und schnupperte an mir. „Dein Geruch hat sich verändert. Deine Augen auch. Sie sind nachtschwarz geworden.“ Zuerst glaubte ich ihm nicht und warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Es ist so“, sagte er. Ich bat ihn, mir den Handspiegel aus meiner Reisetasche zu holen.

Er fummelte an dem Knoten eine Weile herum und kramte die Hälfte des Gepäcks hervor, bevor er ihn fand und mir gab. Aus der Spiegelung starrte mir ein Gesicht entgegen, das ich nicht kannte. Es war erschöpft und abgekämpft, sah dabei aber gesund und zufrieden aus. Die Gesichtszüge waren anders, als ich erwartet hatte. Dieses Gesicht war scharf gezeichnet, die Wangen hoch, der Blick fest, die über die Schulter reichenden Haare gewachsen und kraftvoll glänzend. Das war ich? Wirklich ich? Ich hatte nichts mehr mit der kleinen Bäuerin zu tun, die vor ein paar Monaten mit Agelulf losgezogen war. Ich legte den Spiegel zur Seite, öffnete die Bluse, was Ibor schweigend beobachtete, und betrachtete meinen Körper. Er hatte sich verändert. Durch den langen Weg hierher hatte ich abgenommen. Die Brust war nicht kleiner geworden, aber die Röllchen meiner Hüfte waren weniger und prägten nicht mehr mein Körperbild. „Was bedeutet das?“, fragte ich leise. „Ich bin ein Mensch, keine Werwölfin. Warum verändere ich mich so sehr?“ Ibor streckte einen Arm aus und streichelte vorsichtig über meine Stirn, die Schläfe, die Wange herunter. „Du bist menschlich. Aber was du sonst noch bist, weiß ich nicht. Agelulf auch nicht, denke ich“, sagte er und brummte. „Ah, jetzt sind sie wieder normal. Graublau.“ Ich war durcheinander. Was sollte ich anderes sein, als ein Mensch? Meine Eltern waren Menschen, Groß- und Urgroßeltern ebenso. Das war alles. Ich war nur eine menschliche Frau, die zu lange wach geschlafen hatte und die Jahre an sich vorbeiziehen ließ. Warum veränderte ich mich erst jetzt? So spät? Ich fühlte mich von mir selbst betrogen. „Ich wünschte, ich wäre jemand anderes“, murmelte ich. „Das wünschte ich mir auch“, pflichtete Ibor bei und erntete einen verärgerten Blick. Erlegte den Kopf schief und fuhr fort: „Ich will dich wieder so wie gestern haben. Da warst du frei von deinen eigenen Ketten. Jetzt bist du weinerlich.“ Klatsch! Eine Ohrfeige. Er bewegte seine Lefzen hin und her und fuhr mit der Zunge über die Stelle, wo ich ihn getroffen hatte. „Das ist besser“, sagte er. „Aber als dein Rudelbruder fordere ich mein Recht ein.“ Ich kam nicht dazu, zu fragen, was das bedeutete. Ibor griff meinen Arm, setzte zwei Krallen an meiner Schulter an, drückte sie in mein Fleisch und zog die abrupt hinab, sodass zwei brennende, blutende Schnittwunden zurückblieben. Ich schrie auf, doch er ließ nicht los, sondern starrte mich streng an. „Wir vergelten Gewalt untereinander, Kalanthe. Wenn du ein Rudelmitglied verletzt, hat es das Recht, dich auch zu verletzen.“ - „Fick dich!“, schrie ich ihn aus voller, aufkommender Verachtung ins Gesicht, die aus Frust geboren war. „Du forderst dein Recht ein? Wo ist meins? Du hast mich im Wald angegriffen!“ Er blieb gelassen und erwiderte: „Dort habe ich dich nicht verletzt. Du bist gestolpert und hast dir selbst weh getan.“ Am Eingang erschien Agelulf, angelockt von meinem Gezeter. Hilfesuchend sah ich ihn an. Er sagte nichts, fragte nicht, ob alles in Ordnung war, sondern sah nur zu und hielt sich im Hintergrund. Er half mir nicht und hatte es nicht vor. Es war nicht seine Sache. Ich senkte den Blick, schüttelte den Kopf und sah Ibor finster von unten hinauf an. „Ich nehme noch mehr Wunden in Kauf, wenn du mich nicht loslässt“, sagte ich. Dabei rutschte meine Stimme tief ab, wovon ich zwar Notiz nahm, mir aber erst später darüber Gedanken machte. Er ließ mich trotzdem nicht los, senkte aber den Kopf und leckte die Wunden sauber, um zu zeigen, dass er friedvoll blieb. Als er fertig war, lockerte er den harten Griff. „Merke dir das hier. Wenn du anderen von uns begegnest, und mit ihnen umspringst, wie mit mir, haben wir als Rudel schnell Probleme“, erklärte er. Ich funkelte ihn an. Danach Agelulf dafür, dass er mir nicht geholfen hatte.

Der interessierte sich nicht für meinen Ärger, schlenderte an uns vorbei in die kleine Schlafhöhle und legte sich dort hinein. Es war überhaupt nicht die Tageszeit, um zu ruhen, die Sonne hatte erst ihren Zenit überschritten. Andererseits war er die gesamte letzte Nacht draußen und wach gewesen. „Ich verstehe deinen Ärger, aber er hindert dich nur“, sagte Ibor und zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er hatte sich direkt neben mich hingelegt und kam mir vor wie eine lebendige Lawine. Seine Augen strahlten diese seltene Freude und Leichtigkeit, die ich gestern und letzte Nacht bei ihm gesehen hatte. Sein Fell sah anders aus. Das war mir überhaupt nicht aufgefallen. Es war im ganzen einen deutlichen Farbton heller geworden. Die eher dunkleren braunen Sprenkeln darin, waren jetzt wie Ocker. „Du bist menschlich, daran kannst du nichts ändern. Beim nächsten Mal wirst du etwas anderes sein“, sagte er zuversichtlich. „Beim nächsten Mal?“, wiederholte ich. „Ich sagte dir, dass du menschlich bist, aber darüber hinaus noch mehr sein musst.“ - „Was macht dich so sicher?“, hakte ich nach. Jetzt war er es, der sich wunderte. „Hat er dir das nicht gesagt?“, fragte er, lehnte sich in Richtung der Schlafhöhle und rief: „Du weißt, dass das ungerecht ist, Bruderherz?“ Agelulf grummelte etwas, das ich nicht verstand. „Ja, ja ...“ Das ging mir auf die Nerven. „Was hat er mir nicht gesagt?“, fuhr ich Ibor an, der mich daraufhin anknurrte. „Das, was wir durchmachen, Agelulf und ich, ist selten. Es kommt nur einmal unter zehntausend unserer Art vor. Der Rest bleibt ... gering. Meinem Bruder war es vorherbestimmt, zu Varwúlfur zu werden. Das wussten wir beide, seit wir Welpen waren. Aber du ... du hast mir geholfen, mich zu entwickeln, oder - hm - aufzusteigen. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, dafür gibt’s keine Worte.“ Er unterbrach sich und suchte nach einem passenderen Wort, das er nicht fand. „Na ja, egal. Was ich sagen will, ist, das es selten ist, was wir beide durchmachen. Bei Agelulf warst du dabei und musst einen Teil dazu beigetragen haben, sonst hätte er dich nicht mitgenommen. Mir hast du mit der - äh - Ver-zück-ung geholfen, etwas zu erreichen, das ich für unerreichbar gehalten habe.“ Er lehnte sich nah an mich heran, sodass ich seinen nach Fleisch riechenden Atem roch, was mir aber ein Gefühl von Intimität gab. „An dir ist etwas. Du bist mehr, als zu sehen ist und du selbst weißt. Denn du hebst dich mit uns auf eine andere Stufe. Deshalb wünsche ich mir nicht, dass du jemand anderes bist. Wir brauchen dich, um weiterkommen, und du brauchst uns, um zu finden, was du suchst.“ - „Und das wäre?“, fragte ich. Ibor schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht in deinen Schädel hineinsehen und dein Herz nicht schmecken. Woher soll ich das wissen?“ Er hatte recht. Ich hatte mich verblenden lassen von der vermeintlichen Weltweisheit, die er aussprach. Er war alles andere als weise, genauso wenig wie Agelulf. Der Grund, weshalb ich dieses Gefühl in ihrer Nähe hatte, war, dass beide mit ihrer Existenz auf eine Art im Reinen und verbunden waren, wie niemand, den ich vorher im Leben traf. Das machte sie für mich zu Orientierungspunkten.

Und ich? Was suchte ich? Was wollte ich finden? Ich wusste es nicht, ich war leer. Doch war es genau das, weshalb ich die vielen unvernünftigen Entscheidungen der letzten Monate getroffen hatte. Mit Agelulf nach dem Mord an Vlooriean fliehen, mit ihm schlafen, bis hier reisen, mit seinem Bruder beischlafen. Wissen, dass Agelulf bis zum Schluss bei mir ist. Das alles, weil ich zu Hause leere Eintönigkeit gelebt und, seit ich klein war, in mir gespürt hatte. Ich ließ dabei völlig außen vor, was Ibor über mich gesagt hatte, was wichtig war. Nämlich dass ich wichtig war, weil ich anders war, als andere Menschen, und nicht gewöhnlich und unbedeutend, wie ich geglaubt und mir selbst eingeredet hatte. Das tröstete mich genug, damit ich ihn zart anlächelte. „Deshalb willst du wissen, was die Verzückung ist. Du willst wissen, was ich an mir habe, dass dich zu Urrdat gemacht hat“, stellte ich fest. Ibor nickte. „Stimmt. Aber auch, weil ich wissen muss, wie mein Weg weitergeht. Du weißt es von Agelulf. Ich habe erst eine Stufe erreicht. Wie viele noch kommen, weiß ich nicht. Wenn du mir sagst, was du weißt, dann fällt es mir leichter zu erkennen, wann ich aufsteigen kann und die Möglichkeit nicht verpasse.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was sie ist“, sagte ich und erwartete, ein enttäuschtes Gesicht. Stattdessen hörte Ibor aufmerksam zu. „Die Verzückung ist ein Gefühl, dass uns überwältigt, wenn wir die höchste körperliche Reinheit erfahren. Dann gehen Körper und Geist Hand in Hand miteinander. Man hat es mir einmal so erklärt: Jeder hat mindestens zwei Personen in sich. Die Person, die denkt, und die Person, die ausspricht - nur nicht immer das, was die denkende Person will. Umgekehrt will die sprechende Person in uns manchmal Dinge sagen, die die denkende Person verhindert, dass sie ausgesprochen werden. Eine Frau in meinem Heimatdorf hat das das Zwei-Herzen-Prisma genannt. Warum es ausgerechnet so heißt, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was ein Prisma ist. Sie sagte mir, dass die Verzückung der einzige Weg ist, beide Personen in uns zu vereinen und die natürliche Einheit wiederherzustellen, die wir besaßen, als wir noch nicht geboren waren. Sie sagte, dass alle Grenzen in uns fallen werden, wenn wir die Verzückung erreichen. Dann sehen wir alles, was wir sind, und werden mit allem verbunden sein.“ Woher wusste ich das? Mit jedem Wort wurde mir klarer, dass ich nicht nur Ibor zur Verzückung geführt hatte, sondern mich selbst genauso. Außerdem war es eine Entsprechung dessen, was Agelulf und er durchlebten. Ich sah in die Schlafhöhle hinein, aus der zwei sandgelb leuchtende Augen raubtierhaft hersahen, dann zu Ibor, der - ich hatte es nicht bemerkt - den Arm um und ein Bein auf mich gelegt hatte. Seine Augen waren wieder opalrot. Ich hatte ihnen beiden, ohne es zu wissen, ein Geheimnis anvertraut, von dem ich nicht wusste, dass es eins war. In mir wuchs das Gefühl, dass es besser unausgesprochen geblieben wäre. Sie hatten jetzt Kenntnis über etwas erlangt, von dem das Schicksal oder eine andere Macht nicht gewollt hatte, das sie davon erfuhren. „Was ... habe ich angerichtet?“, fragte ich, obwohl ich das nicht laut sagen wollte. Ibor grinste. So abtrünnig und verrückt, wie Agelulf manchmal. „Du hast nichts falsch gemacht, Kalanthe. Du hilfst uns“, sagte er und drückte mich an sich. Was er murmelte, sollte beruhigen. Nur fühlte es sich wie das genaue Gegenteil an. Etwas in mir war sich sicher: Ich hatte einen Verrat begangen. Aber wer war der Ankläger oder die Anklägerin? Ich selbst? Die beiden? Die Natur? Ich bekam es mit der Angst zu tun und zitterte. Ibor streichelte mich, das dämonische Grinsen verschwand und wich der freundlichen, besorgten Miene. „Was ist mit dir? Ich sagte doch, du hast nichts falsch gemacht.“ Es war naiv, zu denken, dass er der unbedarfte kleine Bruder Agelulfs war. Trotzdem war ich in den Moment mehr als bereit, alle Bedenken zur Seite zu schieben, um das Schuldgefühl zu verdrängen. „Ich, ich ...“, stammelte ich daher und fiel in Muster zurück, die ich für überwunden gehalten hatte. Mein Unterleib zog sich zusammen. Ibor drückte mich näher und näher an sich. Etwas stimmte nicht. Er sah mich zwar besorgt an, öffnete aber seicht seinen Unterkiefer und hechelte und versuchte dann, sein Maul über mein Gesicht zu stülpen. „Lass das!“, sagte ich laut, griff mit meinen Händen seine Schnauze und sein Kinn und drückte ihn weg. Ibor grollte und presste nach. Meine Gegenwehr brachte überhaupt nichts. Er wollte mich zu einem Teil von sich machen! „Agelulf!“, rief ich um Hilfe, als Ibor meinen Kopf zwischen den Zähnen eingekeilt hatte. Der war schnell da, packte Ober- und Unterkiefer seines Bruders und befreite mich mit zwei kräftigen Tritten gegen ihn aus seinem Griff. Ibor jaulte auf, blieb aber liegen, weil sich Agelulf sofort auf ihn warf. In meiner Panik krabbelte ich über die heiße Glut der Feuerstelle und erlitt ein paar leichte Verbrennungen. Ich spürte den Schmerz nicht, so wenig, wie meinen verstauchten Fuß. Ich kauerte in einer Ecke auf der anderen Seite der Höhle. Agelulf bellte ihn grollend und knurrend ohne Worte an, biss ihm in den Arm, dieses Mal nicht nur angedeutet, sondern so, dass er blutete. Ibor wehrte sich nicht, fiepte, wimmerte und drehte sich so um, dass sein Bauch schutzlos nach oben zeigte. „Sie gehört mir!“, grummelte Agelulf seinen Bruder an. „Ich weiß, ich weiß!“, jammerte Ibor verdrehte den Kopf und suchte meinen angstvollen Blick. „Bitte! Kalanthe! Es tut mir leid. Ich konnte nicht anders. Du hast nach Angst gerochen.“ Ich schüttelte ohne Verständnis den Kopf. Er wehrte sich plötzlich gegen Agelulf, der ihn losließ. Er sprang auf, eilte zum Höhleneingang und verschwand fluchtartig.

Agelulf und ich blieben schweigend zurück. „Du musst vorsichtig sein mit deinen Gefühlen“, riet er mir. „Seine Fragmente haben sich gerade erst zu Urrdat zusammengefunden. Er kann sein Verhalten noch nicht kontrollieren, so wie ich, und reagiert auf deine Angst so, wie ein Werwolf von Natur aus reagiert. Wir bekommen Hunger und wollen das fressen, was Angst empfindet.“ Er kam zu mir und bot mir seine Klaue an, um mir aufzuhelfen. Ich schlug sie aus. „Ihr seid Ungeheuer. Geh weg“, sagte ich und sprach die Wahrheit aus, die die ganze Zeit schon in mir gewartet hatte. Agelulf neigte den Kopf. „So siehst du uns? Ja, wir sind Ungeheuern. Wir alle, auch du. Ihr Menschen wisst es besser zu verbergen, aber eure zerstörerischen Seiten sind viel tiefer als unsere.“ Er nahm Abstand. „Du gehörst jetzt zu uns, zu den Ungeheuern. Um weiterzuleben, wirst du selbst bald eins sein, denn du bist ein Teil von mir. Von uns dreien bin ich das schlimmste und grausamste Ungeheuer. Hast du mich deswegen bisher verurteilt? Kaum. Du siehst über alles hinweg. Aber scheinbar nur so lange, bis es dich betrifft. Ich nehme es dir nicht übel, Kalanthe, du wirst dich ändern. Im Moment bist du von uns das heuchelnde Ungeheuer.“ Er wartete nicht darauf, dass ich etwas erwiderte, sondern zog sich wieder in die Schlafhöhle zurück. Ich saß lange da und dachte über seine harten Worte nach. Ich, eine Heuchlerin? Dieser Dreckskerl! Er hatte dich keine Ahnung, er kannte mich doch gar nicht! Ich fluchte in mich hinein und ärgerte mich über mich selbst. Denn er hatte recht. Wir waren alle Ungeheuer, nur dass ich es nicht wahrhaben wollte und die Unschuldige spielte, die ich nie gewesen war. Warum beklagte ich mich? Ich suchte nach Bestimmung, Agelulf und Ibor gaben sie mir. War ich so einfältig, zu denken, dass alles auf dem Weg dorthin leicht wurde? Bisher, ja. Jetzt nicht mehr. Ich setzte mir zum Ziel zu akzeptieren, wer ich war und zu wem ich wurde. Es war egal, ob ich den beiden etwas preisgab, dass ich nicht hätte preisgeben sollen. Für reuevolle Gedanken war es zu spät. Ich akzeptierte, dass ich zum Ungeheuer wurde, weil es nötig war, da ich sonst niemals erfuhr, wer ich war.

Nachdem ich mich für den Weg entschieden hatte, fühlte ich mich besser und mies zugleich. Ich befreite mich von mir selbst, hatte aber Gewissensbisse wegen Ibor. Ächzend stand ich auf und bemerkte da erst die verbrannten Handballen, die zwar schmerzten, ich sie aber kaum beachtete. Ich humpelte in Richtung Eingang. „Ich gehe ihn suchen“, rief ich zurück. Agelulf grummelte etwas, das ich nicht verstand.

 

Mit einem verstauchten Fuß war es nicht leicht, einen Werwolf zu finden. Ich sah mich nach einem langen Ast um und fand einen im Unterholz, der an der richtigen Stelle verzweigte, sodass ich ihn mir unter die Schulter klemmte und als Stütze nutzte. Damit war ich schneller. Ich suchte Ibor in einem weiten Umkreis, fand ihn aber nirgends. Ob er überhaupt gefunden werden wollte? Oder war er zur Hütte gegangen, in der Agelulf mir von Shakún’tala erzählt hatte? Ich eilte dorthin. Ich musste ihm sagen, dass ihn keine Schuld traf. Denn obwohl er ein fröhlicher Werwolf war, war er - anders als Agelulf - verletzlich, weil er sein Herz öffnete, aus Sehnsucht um die Gesellschaft zu anderen. Er und ich waren uns in dieser Hinsicht ähnlich. Er ist von Agelulf verlassen worden. Ich von meinem Mann, als er sich entschied, ein Mädchen aus dem Dorf im Bett zu besuchen. Wir teilten dasselbe Gefühlschaos. Bei der verfallenen Hütte angekommen, rief ich nach ihm und hoffte, dass er herauskam. Wenn er hier war, zeigte er sich nicht. „Ibor, es tut mir leid!“, rief ich. Meine Stimme wurde vom Wald verschluckt. Das Vogelgezwitscher des Morgens hatte längst aufgehört und war einzelnen Rufen von größeren Vögel, wie Dohlen oder Habichten, gewichen. Die Blätter rauschten in seichtem Wind, von dem ich hier im Wald nicht viel bemerkte, der aber zugig über die Baumkronengrenze hinwegfegte. Ich war außer Atem. Mit einem Krückstock zu laufen, war anstrengend und wurde für meine Achsel und Schulter zur Qual. Ich ruhte kurz aus, sah mich um und ertappte mich bei dem Gedanken, wie Agelulf und Ibor hier aufgewachsen waren. Es war womöglich nicht die beste Kindheit, aber sie war naturverbunden und somit besser als die der meisten gewesen.

Ich überlegte, in welche Richtung er gegangen war, was aussichtslos schien, da ich mich im Muralge-Wald nicht auskannte. Während ich Luft holte und durch die Nase einatmete, nahm ich einen seltsam unpassenden Geruch wahr. Zimt. Weit und breit gab es keine Küche, in der etwas hätte gekocht oder gebacken wurde, doch ich roch Zimt. Ein seltener Duft. Nur Adelige oder Leute mit Geld leisteten sich das Gewürz für ihre Küchen. Ich wandte meine Nase in alle Richtungen, erhob mich vorsichtig und folgte dem Duft. Wurde er schwächer, ging ich zurück zur Hütte und schlug eine andere Richtung ein. Der Duft führte tiefer in den Wald hinein. Ehe ich wusste, wo ich war, folgte ich einem der Werwolf-Pfade. Als ich das bemerkte, blieb ich stehen, sah zu Boden und kniete unter Schmerzen nieder. Verdammte Verstauchung! Am Ende kauerte ich und berührte mit meiner Nase den Waldboden. Der Zimtduft war deutlich. Ich wusste nicht, warum er mich so faszinierte und ich ihm folgte. Ich wehrte mich nicht dagegen, was nicht möglich gewesen wäre, weil meine fixierten Gedanken es nicht zuließen. Es war die richtige Richtung. Ich rappelte mich auf und eilte weiter, tiefer in den Wald hinein, tiefer in Muralges Inneres und wusste nicht, was mich erwartete.  Oder wer.

Dabei war die Antwort so klar wie offensichtlich. Es war Ibor. Wobei - das stimmte nicht. Weder erwartete er mich, noch wartete er. Er versteckte sich und wollte nicht gefunden werden. Umso überraschter und verschlossener reagierte er, als er mich zwischen den dichten Nadelbäumen kommen sah. Er begrüßte mich nicht. Stattdessen knurrte er warnend, seine Lefzen zuckten. Ärger folgte auf die Überraschung. Ich war in sein Rückzugsgebiet eingedrungen, für Werwölfe unerhört. Es gab kein zurück. Der Zimtgeruch war seiner. Selbst wenn ich mich entschied, zu gehen, würde er mich unweigerlich zurückzwingen. Meine Welpenzeit, falls ich je eine gehabt hatte, war vorbei. Wenn ich mich jetzt nicht wie eine Werwölfin verhielt, fiel Ibor mich am Ende an und würde mich zerreißen. Ich näherte mich ihm, er legte die Ohren an, fixierte mich und grollte laut. Statt ihm direkt in die Augen zu sehen, neigte ich den Kopf weg, danach hin und her, und tat einen kleinen Schritt nach dem anderen. Zwar empfand ich es als affig, aber ich winselte und näherte mich mit geneigtem Kopf und abgewandten Blick - bis ich mit der Stirn gegen sein Bein stieß. Er knurrte immer noch, ich spürte die Vibration durch meinen Körper hindurch. Weil mir nichts anderes mehr einfiel, ließ ich mich fallen, trotz des verstauchten Fußes, und entblößte meinen Bauch, so wie er es bei Agelulf gemacht hatte. Die Reaktion folgte prompt. Er überfiel mich, bellte aggressiv und zeigte mir seine Zähne aus nächster Nähe. Doch ich hatte keine Angst, denn ich wusste, dass er mir nichts antat. Weil ich ihm bereits meine Unterlegenheit und Untergebenheit zeigte, war ich keine Bedrohung mehr.

Und wie erwartet, beruhigte er sich bald, krabbelte von mir herunter und ließ mich aufstehen. Sein Blick hatte sich vollkommen verändert. Er starrte erstaunt und sagte: „Du müsstest tot sein! Stattdessen verhältst du dich wie eine von uns. Riechst wie eine von uns. Wie hast du mich gefunden?“ Ich stand langsam und vorsichtig auf, um meinen Fuß zu schonen. „Ich weiß es nicht. Ich habe dich gerochen, denke ich, und bin dem Duft gefolgt.“ Ich sah ihn an. „Du riechst nach - Zimt“, meinte ich und lachte laut. Ibor sah mich an, als wäre ich nicht bei Trost. Seine Fragen waren wichtig und er sah nicht erheitert aus. Leider konnte ich nicht aufhören, weil sich mir die Vorstellung aufdrängte, dass einer, wie er, nach Zimtgebäck duftete. Weit mehr amüsierte mich die Frage, ob er so schmeckte. Ich hob entschuldigend meine Hand, während er sich entspannt hinhockte und auf mich wartete. „Du bist eine komische Frau“, meinte er und legte den Kopf schief. „Ich will, dass du meine Gefährtin wirst.“ Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke, hustete und röchelte. Das Lachen verging mir, ich war entsetzt. „Ist die Vorstellung so schlimm, mich zum Partner zu haben?“, fragte er und zog die Augenbrauen zusammen. Da merkte ich, dass sein Ärger nicht weg war, bloß hinten angestellt. „Nein, ganz und gar nicht. Ich weiß nur nicht, wie das gehen soll. Ich gehöre deinem Bruder, und -“ Ibor winkte unwirsch und grollend ab. „Der kann mich mal. Wenn er dich teilt und mit erlaubt, dich zu benutzen, wie ich will, hat er auch nichts dagegen, wenn du meine Gefährtin wirst.“ Er hatte ja recht. Agelulf sprang mit mir um, als wäre ich ein Gegenstand. Andererseits war das als Rudelführer sein Recht. „Du musst nicht, wenn du nicht willst ...“, sagte Ibor. Ich war nachsichtig mit ihm. Seine Frage war aus einer inneren Regung heraus entstanden. „Ich bitte dich um Vergebung“, sagte ich und wechselte abrupt das Thema. Seine angelegten Ohren kletterten nach oben. „Agelulf hat es mir erklärt. Ich hätte es merken müssen. Das tut mir leid. Wegen mir fühlst du dich schlecht.“ Ibors Miene verzog sich zur Fratze. „Schlecht fühlen, sagst du? Ich war - bin zornig auf dich!“, sagte er grummelnd. „Du bist dreist, weil du dich zuerst auf mich einlässt, aber dann wagst, mich wegzustoßen und vor mir zu fliehen. Wärst du nicht, wer du bist, hätte ich dir die Kehle durchgebissen.“ Während er das sagte, schlug er zweimal mit der Faust auf den Boden und spuckte mich versehentlich an. So schnell er sich aufgeregt hatte, so abrupt schien er sich wieder zu beruhigen. „Stattdessen habe ich ein paar Bäume bearbeitet“, sagte er und sah kurz nach links. Ich folgte seinem Blick und entdeckte drei Tannen und eine Fichte, die malträtiert aussahen. Eine hatte er umgeschmissen, nachdem er sie halb zu Kleinholz geschlagen hatte. Ich hob hilflos die Arme. „Ich weiß nicht, was ich sonst tun kann oder sagen soll, außer, dass es mir leidtut“, sagte ich. Er schüttelte sofort mit dem Kopf, wehrte ab. „Lass endlich gut sein. Es ist mir egal, ob es dir leidtut und du denkst, dass ich mich schlecht fühle.“ Er trat an mich heran und half mir auf, näherte sich mit seiner Schnauze und verlangte: „Sei mein!“ Ich wusste mir überhaupt nicht zu helfen, weil wir die Themen nur so durch preschten, obwohl im Grunde ich es war, die ständig auswich. „Ich -“ konnte und durfte ich das entscheiden? Über Agelulfs Kopf hinweg? Wenn er ging, blieb ich bei ihm, das musste Ibor doch klar sein! Egal, ob er uns begleitete, oder nicht. Ich gehörte zu Agelulf. Aber ich war ich. Eine eigenständig denkende und handelnde Frau! Ich hatte mir lange und oft genug von Männern sagen lassen, wer ich war und was ich zu tun hatte. Ibor war, so kurz wir uns kannten, ein großes Stück von dem, was ich suchte, um meine verkümmerte Seele zu heilen. „Na, gut!“, rief ich energisch. „Ich bin dein!“ Prompt leckte Ibor über mein Gesicht, als wollte er mein Versprechen in sich aufnehmen. Ich blinzelte überrascht. Er wirkte zufrieden. „Was bedeutet das jetzt für uns? Gibt es ein Ritual, oder ein Gelöbnis?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht so kompliziert wie bei euch Menschen. Es reicht, dass du zugestimmt hast“, erklärte er. Ich richtete meine Haare etwas, die völlig zerzaust waren. „Und jetzt? Bist du noch wütend auf mich?“ Er wog den Kopf hin und her. „Nein, nicht mehr wie vorher.“ Ich vergrub meine Hand in seinem dichten mit unzähligen Holzsplittern übersätem Fell. „Dann trag mich bitte, wenn wir gehen. Mein Fuß ... du weißt noch?“ Ohne Einwand hob er mich auf, seine Augen ruhten auf mir. Sie hatten die Farbe nicht gewechselt, obwohl es ihm um mich ging. Oder, doch nicht? War ich ihm in dieser Angelegenheit in Wahrheit egal? Oder interpretierte ich die Änderung der Augen bei Agelulf und ihm falsch?

Während ich grübelte, räusperte er sich mehrmals, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Zwar fiel es mir schwer, die Gedanken loszulassen, doch ich hob die Augenbrauen und sah ihn an. „Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagte er. „Du hast mich mit einer Geruchsfährte gefunden. Wie hast du das gemacht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Wirklich. Ich habe nach dir gesucht und einen Zimtgeruch wahrgenommen. Während ich dem gefolgt bin, habe ich sogar vergessen, dass ich dich suchte. Mein Kopf war nur auf den Geruch ausgerichtet, an etwas anderes dachte ich nicht mehr.“ Ibor sah mich nicht an, sondern nach vorne durch die Bäume in grenzenlosen Leere. „Wie eine Wölfin auf der Jagd“, murmelte er. „War ich deine Beute? Das macht keinen Sinn.“ Ich nickte. „Ich verstehe es auch nicht. Das, was mir dazu einfällt, ist, dass ich etwas ähnliches vor ein paar Tagen erlebt habe.“ Ibor horchte auf und sah mich erwartungsvoll an. „Als Agelulf dich mit seinem Heulen rief, hast du geantwortet. Ich habe das gehört. Er war überrascht, weil wir zu weit entfernt waren, als dass ich dich hätte hören können. Aber ich habe mir das nicht eingebildet. Ich - warte, du hast so geantwortet.“ Ich sammelte mich, vergegenwärtigte die Melodie und versuchte den Klang nachzuahmen. Ibor blieb verwundert stehen. „Das stimmt. Das habe ich geantwortet“, sagte er und schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie geht das? Das macht keinen Sinn.“ - „Denkst du, Agelulf weiß mehr?“, fragte ich. „Möglich. Ich denke aber nicht, nein. Warum sollte er?“ Ich überlegte kurz. „Weil er das Traumtagebuch hat, vielleicht.“ Ibor sah mich schief an. „Was soll dass sein?“, fragte er. Ich erklärte ihm auf die Schnelle, was ich wusste, doch als ich ansetzte, ihm mehr zu erzählen, würgte er mich ab und schätzte: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen darf. Es hört sich persönlich und wichtig für ihn an. Besser, du behältst das für dich.“ Hm. Fragte er sich denn gar nicht, was es damit auf sich hatte? Andererseits war es unhöflich von mir, über die intimen Dinge anderer zu sprechen. „Von dem, was du mir gerade gesagt hast, lässt sich nicht ersehen, warum du mich riechen und hören konntest.“ Er schritt weiter, ohne auf den Weg zu achten, dem er ohnehin auswendig folgte. War etwas auf dem Weg, wie ein hervorstehender Ast, trampelte er ihn nieder. Seine Augen hafteten an mir. „Wie gut, dass du jetzt meine Gefährtin bist. Dadurch habe ich, was sonst niemand hat. Etwas einzigartiges.“ - „Vergiss deinen Bruder nicht“, gab ich zu bedenken. „Prft!“, machte er leicht abfällig. „Mit dem kommen wir klar. Er ist grummelig, abweisend, viel zu nachdenklich, und ein Idiot. Aber er wird keinem von uns etwas anhaben.“

 

Begeistert war er trotzdem nicht von Ibors Machenschaften. Er gab hauptsächlich ihm die Schuld, mich in eine Partnerschaft gedrängt zu haben. Anders als ich erwartete, fiel er seinen Bruder nicht an, um ihn zu maßregeln. „Du weißt, dass wir deswegen nicht ewig hierbleiben werden? Irgendwann nehme ich Kalanthe wieder mit“, gab Agelulf zu bedenken. Er hatte, sofort nachdem wir in ihrem Heim waren, an unserem Verhalten gemerkt, dass etwas anders war, und uns zur Rede gestellt. Ibor atmete genervt ein und aus. „Ich weiß, Bruderherz. Aber ich will es so“, antwortete er trotzig und sah Agelulf mit leicht angelegten Ohren und gesenktem Kopf von unten herauf an. Der wiederum schaute in meine Richtung. „Und du? Bist du dir sicher? Es wird schmerzvoll werden - am Ende.“ Das war es jetzt schon. Eine angesengte Hand, ein verstauchter Fuß. Wer weiß, was sonst alles passierte, solange ich mit Ibor zusammen blieb. Zumal Agelulf dadurch nicht wegfiel. „Wir brauchen einander“, antwortete ich überzeugt und ohne Kitsch. So schwierig unser Start war, so gut war der gegenseitiger Einfluss zueinander, das ließ sich nicht von der Hand weisen. Agelulf blinzelte und hatte anscheinend gehofft, dass ich mich anders entschied. „Hm“, machte er nachdenklich. „Dann bitte ich dich um Verzeihung.“ Ich horchte auf. „Wofür?“ - „Für das, was Ibor und ich jetzt machen müssen.“

Oh, oh. Nicht schon wieder. Ich tappte von einer Falle in die nächste. Agelulf trat zu mir her, ich wich etwas zurück, doch er schubste mich, sodass ich auf hinfiel. „Was soll das?!“, rief ich verärgert. Er griff mit der rechten Klaue nach seinem Gemächt, das sich leicht aus der Felltasche hervorwagte, richtete es auf mich und pinkelte mich an. Er erwischte mich an der Schläfe. Ich war so erschrocken und irritiert, dass ich mich nicht bewegte, sondern die Augen schloss und die Luft anhielt. Sein Wasser lief von über Kopf und den Hals hinab. Es wurde von meinem Kleid zum Teil aufgesogen. Der Rest verteilte sich auf mir und floss bald zu Boden. Als er zu Ende war, wagte ich, meine Augenlider zu öffnen und sah ihn kritisch an. Er wandte den Blick peinlich berührt ab in Richtung Ibor, der sich neben ihn hinstellte, wie er, nach seinem Genital griff - und mich auch anpinkelte. Sein Strahl hielt länger an. Wo - fragte ich mich - wo war ich hier hineingeraten? Als Ibor endlich fertig war, atmete ich vorsichtig ein und aus. Ich roch nach Urin. Nicht stinken, riechen.

Noch bevor ich die Frage stellte, beantwortete Agelulf sie und erklärte: „Wir haben dich markiert. Du gehörst immer noch mir. Aber ich habe Ibor erlaubt, seine Marke auf dir zu verteilen. Wenn wir anderen unserer Art begegnen, werden sie unsere Gerüche wahrnehmen und dich nicht anrühren.“ Ich schwieg. Es war würdelos. Zwar war es logisch, dass sie markierten, obwohl ich es nicht erwartet hatte. Aber dann bitte nicht auf mich! „Wir werden das regelmäßig machen müssen“, meinte Ibor gepresst. Ich starrte sie nacheinander an und nahm mir fest vor, nicht zu schreien. Wenn das ihre Gesetze waren, oder ihre Etiketten, was mir egal war, dann fügte ich mich. Ich knurrte aus tiefer Kehle, beide zuckten überrascht mit ihren Köpfen zurück und sahen einander an. „Beim nächsten Mal warnt ihr mich vor, habt ihr verstanden? Jetzt muss ich meine Gewänder schon wieder am Bachlauf waschen“, warf ich ihnen vor und entschied, das nicht mehr heute zu tun. Ich hatte meinen Fuß genug strapaziert.

„Sie verändert sich“, sagte Agelulf leise zu Ibor. Der nickte und erwiderte: „Sie hat mich heute gefunden, indem sie meine Fährte erschnüffelt hat.“ Agelulf legte die Augenbrauen schief. „Warum sagst du das erst jetzt?“ Ibor hob abwehrend seine Arme. „Wann denn sonst? Wir waren kaum hier, da hast du über unsere Partnerschaft gemosert.“ Meine linke Wange zuckte. Sie redeten über mich, während ich angepisst neben ihnen saß. „Hallo!“, rief ich und unterbrach ihren Kaffeekranz. Ich zeigte auf mich selbst. „Es ist mir egal, wer, aber einer von euch badet mich. Jetzt! Wenn ihr mich anpinkelt, könnt ihr mich auch säubern.“ Ibor nickte sofort ohne Widerspruch. Agelulf sagte: „Das übernehmen wir beide. Zuerst ich, dann Ibor. Da er dein Partnerwolf ist, wird er ab sofort bei dir schlafen.“

Das war mehr, als ich gefordert hatte. Beide wuschen mich. Auf werwölfische Art mit ihren Zungen. Es wurde genauso intensiv, wie ich es mir vorstellte. Aber ohne, dass einer mit mir beischlief. Das wäre zu plump gewesen. Sie waren gründlich und wuschen mich überall. Bei meinem verstauchten Fuß blieben sie vorsichtig, bei der angesengten Hand hielt Ibor sich lange auf. Nach dem prickelnden Bad begaben wir uns nach draußen, denn es war erst später Nachmittag. Mit dem dritten und letzten Gewand - eine weitere Tunika, die meinem Mann gehört hatte - setzte ich mich auf den Waldboden. Ibor und Agelulf zu beiden Seiten neben mir. Ich spürte pure Wärme von innen heraus, die sie aus mir hervorgegraben hatten. Obwohl die Luft frisch war, war mir nicht kalt. Ohne es zu merken, streichelte ich sie, die sich einvernehmlich niederließen. Agelulf gebeugt sitzend und den Kopf tief in meine Richtung geneigt mit geschlossenen Augen - ich kraulte ihn zwischen und hinter den Ohren. Ibor lag auf der Seite mit dem Rücken zu mir. Meine Hand fuhr durch das Fell seines Gesäßes. Dort mochten es die meisten Werwölfe gern. Ich genoss den Moment, weil es einer der wenigen sorgenfreien Augenblicke zwischen uns war.

 

Drei Monate voller Momente wie diesem. So lange blieben wir und richteten uns ein. Es war eine einmalige Zeit der Entdeckungen. Meine Beziehung zu Ibor wurde jeden Tag tiefer und fester. Zur Verzückung führte ich ihn aber nicht mehr, egal wie wir es versuchten. Das heißt, wir hatten Sex. Viel Sex, nachdem mein Fuß wieder heil war. Wir wussten, dass unsere Zeit begrenzt war und wir jede Minute auskosteten. Er kam zu dem Schluss, dass er mit mir nicht nochmal aufsteigen konnte. Das kränkte mich, denn ich wollte ihm so gerne helfen. Agelulf ließ uns genug Raum für uns, indem er manchmal für einen, zwei oder sogar fünf Tage im Muralge-Wald verschwand. „Der kommt wieder“, meinte Ibor, als ich mir einmal Sorgen machte. „Du bist hier, er wird dich nicht zurücklassen.“ Unsere Leben dümpelten dahin, ich genoss es. Die Leichtigkeit bestimmte meine Gedanken. Vorher hatte ich viele drängende Fragen gehabt, die Agelulf mir nicht beantwortet hatte. Alles zu Shakún’tala zum Beispiel, oder warum er mir von den Geistern berichtete? Weshalb tat er das alles? Was stand in dem Traumtagebuch?

Es kümmerte mich nicht mehr. Nicht, dass ich es nicht mehr wissen wollte. Wäre er von sich aus an mich herangetreten und hätte mir seine Geheimnisse offenbart, hätte ich aufmerksam zugehört. Ich fragte nicht, weil ich nicht mehr daran dachte. Für mich gab es andere, wichtigere Dinge, die meine Aufmerksamkeit gefangen hielten. Zum Beispiel, wie ich mich weiter veränderte. Nachdem ich Fährten roch und Geräusche - vor allem Wolfsgesang - aus großer Entfernung hörte, wandelte sich auch meine Stimme. Wenn ich mit Agelulf und Ibor redete, sprach ich mit normaler Tonhöhe. Doch wenn ich knurrte, was des Öfteren vorkam, oder etwas sang, passierte das mit der zweiten Stimme, die tiefer und sonorer war. Meine Sicht war keine Ausnahme. Von Nacht zu Nacht sah ich im Dunkeln besser und schärfer, wenn auch nie so deutlich wie die beiden. Als ich Ibor an einem späten Abend betrachtete, behauptete er, meine Augen schimmerten. Weil ich ihm nicht glaubte, nahm ich einen Handspiegel. Sie schimmerten. Wie der Mond. Das gefiel mir. Ich, Kalanthe, war nicht mehr nur Kalanthe, sondern mehr geworden. Ich wuchs und blühte auf. In dem Vierteljahr erfuhr ich auch andere körperliche Veränderungen. Ich nahm ab und dann wieder zu, denn durch die täglichen körperlichen Anstrengungen - als Rudelfrau schonten mich Agelulf und Ibor nicht, weshalb ich mit ihnen jagte - wurde ich kräftiger, meine Muskeln unnachgiebiger. Ich fühlte mich stärker und selbstbewusster denn je.

Zu Beginn des zweiten Monats fing ich an, mir allmorgendlich meine Eckzähne spitz zu schleifen. Auf dem ungenutzten Werkzeugtisch neben der kleinen Schmiede hatte ich ein Schmirgelmesser entdeckt, das ich dafür nutzte. Ibor amüsierte das, Agelulf schüttelte skeptisch den Kopf, als er eines Morgens bemerkte, wie ich über dem kleinen Spiegel gebeugt saß und in meinem Mund wirtschaftete. Sie ließen mir meinen Willen, ich fühlte mich wohl damit, weil ich gefährlicher aussah. In ihren Augen niedlich, für Menschen unberechenbar. Unser kleines Glück währte, solange es ging. Aber bald wurde Agelulf ungeduldig. Er sagte nichts, ich spürte es an dessen Verhalten. Er wurde nervöser - für seine Verhältnisse. Das zeigte sich daran, dass er häufiger patzig auf Fragen antwortete, mehr aber, dass er sich oft zurückzog. Was ihn aber reizte und am Ende dazu brachte, mich zu entführen, war, dass ich mich überhaupt nicht an seinem Gemüt störte. Ich fragte nicht, warum er so war. Es war mir nicht egal, es ergab sich nur nicht.

Ibor war nicht da und am Waldrand unterwegs, als es passierte. Er war, genau wie sein Bruder, ab und zu eine Nacht lang fort. Agelulf nahm mich unter dem Vorwand der Jagd mit und sagte mir nicht, wohin und was wir jageten. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte, wagte aber nicht, zu fragen, was ihm auf dem Herzen lag. Nach drei Stunden, in denen ich ihm schweigend hinterhergehastet war, sagte er: „Wir kehren nicht zurück.“ Ich blieb stehen, doch er gab mir keine Möglichkeit zu fragen, warum, wandte sich abrupt zu mir um, nahm meinen Arm und zerrte mich hinter sich her. „Du kommst mit mir! Es geht nicht um dich! Es geht um mich!“, bellte er verärgert. „Das wusstest du von Anfang an und hast dich gefügt. Es war perfekt. Ich habe dir alles erzählt, die ganze Wahrheit! Doch jetzt willst du nichts mehr davon wissen, obwohl ich lange nicht fertig bin. Du musst - du musst es hören, damit du verstehst, was passieren wird. Was unausweichlich ist! Aber das wird nicht hier sein. Nicht bei Ibor. Ich habe dich mit ihm spielen lassen, damit du dich erholst, nach Shakún’talas Geschichte. Aber du! Du bist wie alle Menschen. Du bist wie Erlik! Mein Erlik! Den ich verlassen habe, obwohl er mich brauchte! Egoistisch, selbstverliebt, grausam. Egal, wie du dich veränderst und eine von uns wirst, du bleibst du. Du bist ein Teil von mir. Ich werde dich zu einem machen. Dann werde ich erst anfangen. Ich muss mächtiger werden und so grausam, wie ihr Menschen schon seid. Nur dann kann ich den erhöhen, der mich erweckt hat, und ihn zu einem verschlingenden Gott machen, der uns alle in sich aufnimmt. Meinen Erlik ... Erlik ...“

Er wurde langsamer und blieb stehen, ließ mich aber nicht los, und schaute ins Leere. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Körper hatte Angst, mein Geist war taub und stumm. Ich atmete flach, obwohl ich außer Atem war. Mein Instinkt schrieb mir vor, mich so zu verhalten. Jede unbedachte Bewegung, jedes unerwartete Geräusch hätte meinen Tod bedeutet. Agelulf stand neben sich. Oder war in sich gekehrt und hatte die Welt um sich herum ausgeschlossen. „Agelulf ... ?“, fragte ich flüsternd. „Agelulf?“ Sein Griff wurde locker und ich zog meinen Arm aus seiner Klaue. Wegrennen war undenkbar. Er wäre hinter mir her. Ich trat vor ihn, gleich unter seine Schnauze, er hatte den Kopf leicht gebeugt. Waren das kleine Tränen in den Augenwinkeln? Sein Blick ging durch mich durch. „Agelulf?“, fragte ich nochmal mit voller Stimme. Keine Reaktion. Ich sah mich vorsichtig um, blieb ihm aber mit meinem Gesicht zugewandt. Es wäre fatal gewesen, ihm den Rücken zuzukehren, eine Provokation, bei der ich mein Leben aufs Spiel setzte. Ich wagte mehrere Schritte rückwärts von ihm fort, was endlich eine Reaktion auslöste und er mich fixierte. Er knurrte tief. Einen mehr und er hätte mich angefallen, um ein Blutbad anzurichten. „Deine Liebschaft mit meinem Bruder ist vorbei. Du wirst meine Geschichte bis zum Schluss anhören“, grollte er bösartig. Das wollte ich weniger denn je. Nicht, weil sie mich nicht mehr interessierte, sondern weil ich hinauszuzögern versuchte, was immer an ihrem Ende passierte. Das war die unbewusste Erkenntnis gewesen, die mir nach Shakún’talas Geschichte in die Knochen gefahren war. Ich wusste nicht, was kam, und wollte es nicht mehr wissen, was gleichbedeutend war mit der Verneinung der vorherbestimmten Fügung, der ich nicht entging. Dann war da Ibor, der mein Leben bereicherte. Agelulf hatte es angekündigt. Es wurde schmerzhaft. Langsam tröpfelte die Erkenntnis in meinen Verstand, dass ich ihn nie wieder sah, und bei dem grausamen Wesen blieb, das vor mir stand. Wir sahen einander an. Seine Miene war von Verzweiflung und Zorn und Ärger und unerwiderter Liebe dominiert. Die Augen schimmerten zwischen Sandgelb und Meerblau hin und her. Seine Schnauze zuckte, er hatte ein paar graue Härchen dazu bekommen, bildete ich mir ein. Die Narben an seinem Körper waren mehr geworden. Das war mir überhaupt nicht aufgefallen in den letzten Monaten. Die Klauen hatte er zu Fäusten geballt. In einer hielt er etwas fest. Bei ihm blieb ich, ihm folgte ich. Ich hatte keine Wahl. Nur die, aus Hilflosigkeit zu weinen. Damit besänftige ich ihn, er entspannte sich und sah eine Weile scheinbar teilnahmslos zu, wie Tränenflüsse meine Wangen hinab wanderten und dicke Tropfen zu Boden fielen. „Deine Gefühle werden auch meine sein“, sagte er. „Vielleicht schaffe ich es dann, so zu weinen, wie du. Jetzt kann ich das noch nicht.“ - „Du sprichst in Rätseln, wie immer“, entgegnete ich, ohne zu schluchzen. Ich vermisste Ibor. Wie würde er sich fühlen, wenn er sein Heim betrat, uns erwartete, aber niemanden vorfand? Was würde er denken, wenn er wartete und keiner kam zurück? Er überlebte das, aber sein Herz erhielt eine Narbe. Er tat mir leid. „Wohin jetzt?“, fragte ich niedergeschlagen und fügte mich meinem Schicksal, obwohl alles in mir zurückwollte. „Nirgendwohin. Ich gebe dir das Traumtagebuch“, antwortete er und schaffte es, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Ich sah auf und dann auf seine ausgestreckte Klaue. Da war es. Es war kleiner, als ich erwartet hatte und in abgegriffenes, fettig gewordenes Leder eingebunden. Leicht widerwillig nahm ich es entgegen. Obwohl kaum größer als meine Hand war es schwer. Das Leder war dick und die Seiten aus hochwertigem Papier, das sich nur Reiche und Adelige leisteten. „Ist das - von Erlik?“, fragte ich. Es war, als hätte ich Agelulf geschlagen, als ich den Namen erwähnte. Er legte die Ohren sofort an und rammte die Klauen in den Boden, grollte mich an wütend an und bellte: „Woher weißt du seinen Namen?!“ Statt zurückzuweichen, tat ich einen Schritt auf ihn zu, beugte mich nach vorne und erwiderte das Knurren mit meiner zweiten Stimme. „Weil du ihn eben genannt hast!“, antwortete ich energisch und hielt seinem Blick stand. Das war die beste Möglichkeit, eine verfahrene Situation mit einem aggressiven Werwolf aufzulösen. Ibor hatte mir das beigebracht für den Fall, dass ich anderen als ihnen begegnete. In solchen Momenten war Augenkontakt am wichtig. Werwölfe starrten, es gehörte fest zu ihrer Kultur und war wichtiger als gesprochene Worte. Ein Werwolf, der ständig wegsah, zeigte Unterlegenheit oder Ablehnung. Es klappte, Agelulf entspannte sich, seine Ohren blieben angelegt. „Ich habe ihn verraten?“, fragte er nochmal nach und taxierte mich. Weil er keine Lüge bei mir entdeckte, schüttelte er verwirrt den Kopf. „Ich erinnere mich nicht. Eben - das, was ich zu dir sagte - das war nicht nur ich.“ - „Nicht nur du?“, wunderte ich mich. „Was bedeutet das?“ - „Ich weiß es nicht. Es war ich ... aber nicht mein Jetzt-Ich. Eher mein Bald-Ich.“ - „Dein Bald-Ich?“ Was war hier los? Wem stand ich gerade gegenüber? Agelulf oder einem anderen? Etwa dem, der auf Agelulf Varwúlfur folgte? Er sah sich gehetzt im Wald um, als ob er etwas gehört hatte. Ich lauschte, aber da war nichts. Mittlerweile hörte ich Gezwitscher von Spatzen, die weit entfernt waren. Wenn sich etwas an uns heranschlich, hätte ich es schon lange bemerkt. Was immer es war, nur er nahm es wahr. Er sprang auf, ging hin und her, und sah hinter einige Bäume, als fühlte er sich verfolgt. „Hast du das gehört?“, fragte er, ihm war sichtlich unwohl zumute. Ich schüttelte leicht den Kopf. Er lief weiter auf und ab, beachtete mich gar nicht mehr, und war bald zwischen den Bäumen verschwunden.

Als er nach einer Viertelstunde nicht zurückkam, schlenderte ich etwas umher. Ich hatte keine Orientierung, Agelulf hatte mich tief in den Wald hineingeführt, wo die Bäume dichter zusammenstanden und das Sonnenlicht gnadenloser ausschlossen, als zum Waldrand hin. Trotzdem waren wir im äußeren Gürtel, indem auch andere Werwölfe lebten. Ibor hatte mir erklärt, dass wir zehn oder elf Tage in Richtung Herz von Muralge reisen müssten, um die erste innere Grenze zu überschreiten. Dort war es gefährlich, dort lebten Wesen und Kreaturen, mit denen es selbst ihre Art nur schwer aufnahm, weshalb sie und andere im Wald lebende, sprechende Arten es mieden, weiter einzudringen. Das echte Zentrum hatte noch keiner betreten, der davon berichten konnte. Obwohl ich weit weg war, bekam ich Angst. Was, wenn etwas aus dem tiefsten Waldinneren trotzdem den Weg hinausgefunden hatte? Ein Grauen, das nur in schlimmsten Albträumen vorkam? „Agelulf?“, rief ich und sah mich nach ihm um. Mein Ruf verhallte schnell und wurde von den hohen Bäumen mit ihren dichten Baumkronen verschluckt. Normalerweise strahlten solche Waldwächter eine Aura von Leben in ihrer reinsten Form aus. Diese hier hingegen bedrohten mich durch ihren Anblick. „Agelulf?“, rief ich erneut, ohne Erfolg, er war weg.

Ich schloss meine Augen und lauschte konzentriert. Da war kein Vogelgezwitscher mehr, kein Hämmern von Spechten gegen Holz, kein leises Rascheln von Nagern oder anderen kleinen Tieren auf dem Boden. Dafür Knacken von Unterholz durch Gewicht. Das war er. Ich wandte mich in die Richtung, aus der das Geräusch kam und öffnete die Augenlider, um ihm zu folgen, als es verschwand. Einfach so. Es wurde nicht leise, weil er sich von mir fortbewegte, sondern hörte auf. Er war stehengeblieben und verharrte still. Warum? Merkwürdig. Ich erschrak, zuckte innerlich zusammen, fuhr herum und starrte in die entgegengesetzte Richtung hinter mir. Da war ein zweites Knacken! Weiter entfernt als das Erste, es näherte sich. Schnell! Ich sog tief einatmend Luft durch die Nase ein und hoffte, dass es Agelulf war. Er roch nach Pfefferminz, was ich ein paar Tage, nachdem ich Ibors Geruch kennenlernte, bemerkt hatte. Aber weit und breit roch nichts danach. Agelulf war nicht da. Dafür kam zu dem zweiten Knacken ein drittes hinzu! Und das Erste setzte wieder ein. Mein Herzschlag wurde schneller, ich atmete durch den Mund ein und aus. Mein Körper bereitete sich auf Flucht vor. Das Zweite wurde lauter und lauter, das Erste bewegte sich von mir fort, bevor es die Richtung änderte und in weitem Bogen auf mich zuhielt. Das dritte Unterholzknacken blieb in gleichbleibender Entfernung und bewegte sich hinter das zweite, um dann wie die beiden anderen in meine Richtung einzulenken. Bei Lux und Nox, ich wurde gejagt! Die Jäger pirschten sich heran und glaubten sich unentdeckt. Was war zu tun? Schnell wegrennen? Dann wussten sie sofort, dass sie enttarnt waren und hetzten hinter mir her. Stehenbleiben und auf sie warten? Ich wusste nicht, was meine Fährte aufgenommen hatte. Eine Kreatur mochte Agelulf sein, aber was waren die anderen? Ein Rätsel. Nein, stehenbleiben bedeutete den Tod. Ich musste hier weg und etwas finden, von wo ich nicht erreichbar war. Aber so, dass diese Dinger dachten, ich hätte sie nicht bemerkt. Schnell gehen, das sollte machbar sein. Das nächste Knacken war etwa einen Kilometer entfernt. Die anderen beiden weiter. Ich hatte somit Zeit eine Richtung einzuschlagen, ohne eingekreist zu werden. Dabei musste ich schnell sein, ohne zu schnell zu sein. Eine Zwickmühle. Ich drehte mich in die Richtung, aus der keine knackenden Geräusche drangen und ich die Chance sah, im Zweifel zu fliehen, wenn sich die Kreaturen dazu entschieden, loszupreschen. Dann setzte ich einen schnellen Schritt vor den andern und hoffte, bat zu allen mir bekannten Göttern, dass es nicht wie Flucht aussah. Erliks Traumtagebuch steckte ich in meine Hosentasche. Nach ein paar Wochen mit zwei Werwölfen, die mich auf die Jagd mitnahmen, hatte ich gelernt, wie unpraktisch Röcke waren und mir aus einem mehrere Hosen genäht. Stopp! Ein Knacken war verschwunden und tauchte vor mir wieder auf. Das war nicht möglich! Diese Wesen mussten schwer sein und bewegten sich nicht ohne Geräusche zu verursachen durch den Wald. Warum schnitt eines davon jetzt meinen Fluchtweg ab? Wie war es dort hingekommen? Ich schluckte hart und drehte um. Zwischen den zwei anderen Kreaturen, die sich näherten, war ein kleiner werdender Korridor, der sich bald schloss. Als in meinem Rücken ein widernatürliches Gekreische einsetzte, bekam ich Gänsehaut, nahm keine Rücksicht mehr auf meinen Plan und stob panisch davon. Sekunden später stürmten sie los und trieben mich. Ich überschlug ihre Geschwindigkeit und meine. Sie holten mich in weniger als zwei Minuten ein, egal wie schnell ich war. Ohne verstand fegte ich zwischen den Bäumen hindurch, über den Waldboden davon auf vier Tatzen, die mir die nötige Kraft und Schnelligkeit verliehen, zu entkommen. Mein Blick fokussierte, Geist und Gefühle wurden eins nach dem anderen ausgeschaltet, bis nur die Angst und der Gedanke an dem Weg vor mir überwog. Ich wurde gejagt, aber ich war frei, solange sie mich jagten. Sollten sie kommen! Sollten sie mich einholen! Ich kämpfte bis zum Tod und riss sie mit mir in die ewige Finsternis des großen Gleichmachers! Wie konnten sie es wagen! Ich war die Herrin, sie hingegen Maden! Statt weiterzurennen, verdrängte mein Zorn die Energie der Flucht und wandelte sie um zum Willen nach Widerstand und Verlangen nach Sturm und Fleisch und Wut und Blut. Ich hielt an und schlitterte über das Unterholz, kam zum Stehen und brüllte die Herausforderung an meine Verfolger heraus. Nicht mit Worten, nur mit Stimme. Tiefer Stimme, unmenschlicher Stimme, sonoren Ton, Unterton, Überton, Schall. Kommt her zu mir! Lasst uns streiten, lasst uns fetzen, lasst uns töten. Ihr mich oder ich euch!

Sie kamen. Knackend, grollend, furchteinflößend und laut. Drei Schemen, deren Hilferufe durch den Wald hallten, als wären sie weit weg. Das Erste war weiß, sprang leichtfüßig hin und her, verschwand während der Sprünge und tauchte am Boden aufkommend wieder auf, um zum nächsten anzusetzen. Je näher es kam, desto deutlicher wurde es. Eine große Katze, größer als ein Löwe oder Tiger zusammen. Es jammerte, während es sich näherte, neblig verschwand und wieder auftauchte. Das zweite Schemen war schwarz und sah aus, als hätte jemand unzählige Pinselstriche in die Luft gemalt, die dort verharrten. Es wandelte auf zwei Beinen und hatte einen Schädel mit rot leuchtenden Augen, war dürr und so groß wie Ibor. Seine Statur war der eines Baumes mit Verästelungen ähnlich. Der Torso war der Stamm, Beine und Arme dick wie Äste, die Klauen feine Ästchen. Während es auf mich zuwankte, hielt es schreckliche Krallen vor sein Gesicht und kreischte wehklagend. Wie das andere Schemen verschwand es mehrfach, während es sich bewegte, und erschien an anderer Stelle wieder. Das letzte Schemen war weder schwarz noch weiß, sondern durchsichtig und nur dadurch zu erkennen, dass alles, was hinter ihm war, verschwamm. Ich hatte Schwierigkeiten auszumachen, was es war. Es zog einen langen Schwanz hinter sich her, Hinterläufe hatte es scheinbar keine. Stattdessen zwei unbarmherzig wirkende Arme, die in scharfen Fängen endeten und mit denen es sich fortbewegte. An ihnen entfalten sich Schwingen. Es reckte den Kopf in die Höhe und brüllte vorwurfsvoll. Es löste sich gelegentlich vor meinen Augen auf und entstand neu an anderer Stelle wieder. Immer, wenn sie den Boden berührten, knackte das Unterholz laut, ohne sich zu bewegen. Das laute Grollen stammte nicht von ihnen. Es war, als wollte der Wald selbst sie fortjagen, indem er sie wie Kinder tadelte. Ihre Regungen schienen wie aus der Zeit gefallen. Sie waren zwar schnell bei mir gewesen, aber jetzt, da ich sie sah, langsam, als hätte jemand ihre Zeit entschleunigt. Ich blieb angespannt und hatte nach wie vor Angst, aber ich spürte deutlich, dass sie keine Bedrohung waren. Sie waren verzweifelt auf der Suche nach etwas, das sie vervollständigte. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das wusste. Ihre Wehklagen riefen Unbewusstes in mir hervor, das mir die Antwort gab. Ich hatte Mitleid mit ihnen, ihre Suche hatte nicht mit ihrem Tod geendet, sondern ihn nur in die gnadenlose Ewigkeit versetzt.

Sie richteten sich nach einem Punkt etwa zwei Meter vor mir aus, sammelten sich dort und verschmolzen an der Stelle. Das tote Unterholz knackte und brach. Das vorwurfsvolle Grollen des Waldes schwoll an wie das Geschrei eines Vaters, der sein Kind dafür anbrüllte, das es existierte. Die drei Schemen wurden zu einer unförmigen Masse, die nach wenigen Momenten an Konturen gewann. Das neu entstandene lapislazuli-farbene Schemen kauerte auf dem Boden mit eingezogenen Gliedmaßen. Drei Köpfe, die aufsahen. Ein Körper mit zwei Armen und zwei Beinen, der sich erhob und wie ein Riese vor mir stand. Drei Wesen in einem, und trotzdem eins. Ein Name schwirrte in meinem Verstand, knapp außerhalb meiner Reichweite. Fell, Schuppen, Knochen. Hörner dort, wo die Kniescheibe sein sollte, sowie an Ellenbogen und Gelenken. Sechs Augen - je zwei geschlitzt, rund und stechend kreuzförmig - betrachteten mich. Das Wesen hob seinen rechten Arm und legte eine grobe fünffingrige Pranke auf meine Wange. Heiß wie geschmolzenes Blei begegnete ich einer Erinnerung, die freigelegt wurde. Darüber verlor ich mein Bewusstsein für ein paar Sekunden, wobei das Wesen mich auffing, damit ich nicht umfiel. Als ich die Lider wieder öffnete und meine Augen sich an Formen und Farben und Licht und Schatten gewöhnt hatten, erkannte ich Agelulf, der mich ungerührt ansah und festhielt.

„Was ist passiert?“, fragte er. „Du hast dagestanden und bist umgekippt, als ich dich ansprach.“ Ich antwortete nicht auf seine Frage, besah mich selbst und stellte fest, dass ich etwas war, was so nicht sein sollte. Meine Tatzen waren fort, mit denen ich durch den Wald geeilt war. „Ich bin ... “, sagte ich, um mir die Wahrheit selbst begreiflich zu machen. Er spitzte die Ohren und wartete. „Ich bin eine Manticora.“ Agelulf taxierte mich kritisch, wog die Worte ab und fragte: „Wie kommst du darauf?“ Es dauerte, bis ich eine Antwort fand. Merkwürdig. Zu sprechen kam mir unnatürlich vor. Sinnvoller erschien es mir zu grollen und zu zischen oder andere Geräusche mit meiner Kehle zu machen. „Ich bin weggerannt“, antwortete ich. Er nickte. „Ja, das habe ich gesehen. Du hast nach mir gerufen, als ich zurückkam, bist du geflohen.“ Ich sah ihn zweifelnd an. „Du bist zurückgekommen?“, wunderte ich mich, er nickte, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern fragte seinerseits: „Warum bist du geflohen? Es sah aus, als hast du etwas gesehen, das dir Angst machte.“ Bevor ich die Frage beantwortete, sah ich ihn herausfordernd an. „Du warst der, der etwas gehört hat und verschwunden ist“, warf ich ihm vor. „Was ist mit dir passiert?“ Ich rappelte mich auf und wand mich aus seinem Griff. „Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber da war nichts. Nur Stille“, antwortete er. Ich verschränkte meine Arme. „Tja, ich habe etwas gehört! Von drei Wesen, die mich gejagt haben.“ Er neigte den Kopf und schaute skeptisch auf mich herab. „Gleich drei? Was waren das für welche?“, fragte er. Dabei sah ich ihm an, dass er eher fragen wollte, ob ich bei Verstand war. Obwohl es nicht leicht fiel, darüber zu sprechen, weil mir keine Worte ausreichend schienen, zu erklären, was ich erlebt hatte, berichtete ich von der Begegnung so genau wie möglich. Zuerst hörte Agelulf ungläubig zu, aber bald änderte sich seine Miene in eine Art Staunen, was selten bei ihm war. Danach sagte er eine ganze Weile nichts mehr. „Wo ist das Tagebuch?“, fragte er dann ohne Zusammenhang. Stimmt, ich hatte es völlig vergessen und griff aufgeschreckt in meine Hosentasche, befürchtete, ich hätte es verloren. Aber, nein, es war da. Ich holte es hervor und reichte es ihm. Er schüttelte den Kopf. „Öffne es“, sagte er. „Da ist eine dunkelblaue Markierung weiter hinten. Lies dort.“

Ich las von der Seite an, auf der die Markierung war. Nur wenige Seiten, dann schloss ich es. Das war unmöglich. Das war nicht möglich. Wie war es möglich? Ich hatte nur einen kleinen Teil des Textes gelesen. Das reichte, mehr wollte ich nicht wissen. Dieses Buch war verflucht. Das war mein erster Gedanke. Ungläubig und mit in Falten gelegter Stirn suchte ich Agelulfs Blick. „Ich verstehe es selbst nicht“, meinte der, seine Augen wurden sandgelb. „Aber du bist ihm begegnet. Das passt.“ - „Passen? Wozu denn passen?“ - „Zu deiner Natur. Du sagtest, du bist eine Manticora. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Sinn machen einige Teile des Tagebuches. Es muss so sein, du hast eine Verbindung, die sich nur darüber erklären lässt, obwohl es mir schwerfällt, das zu akzeptieren.“ Wie schwiegen, bis ich mich erhob. Die ganzen Zweifel und die Trauer um den Verlust von Ibor waren für den Moment weggefegt. Ich war wieder in der Situation wie vor drei Monaten, als ich mich selbst ein zweites Mal kennenlernte. Nur handelte es sich diesmal um einen beängstigenden Teil von mir, der mich überfiel wie ein Raubtier und nicht die Möglichkeit einräumte, mich langsam an ihn zu gewöhnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich genau diese Gewöhnungszeit mit meinem Verhalten Agelulf gegenüber verpasst hatte. Jetzt wurde ich hineingestoßen in etwas, das mir Kopfschmerzen verursachte, und ich musste damit zurechtkommen.

„Lass uns weitergehen“, schlug ich vor. Agelulf zuckte mit einem Ohr. „Wohin?“, fragte ich. „Wohin du mich entführen wolltest. Dahin!“, zischte ich ihn an und ging in irgendeine Richtung davon. Nach kurzem Zögern folgte er mir und sagte: „Verzeih mir.“ Ich blieb gleich wieder stehen und wandte mich ihm zu. „Wofür?!“, schrie ich. „Das du mich von Ibor fortgerissen hast? Dass du mir falsche Hoffnungen gemacht hast, eine von euch Kötern zu sein? Oder dafür, was du noch alles mit mir vorhast, um zu bekommen, was du willst? Du musst dich für nichts entschuldigen, Agelulf. Du tust es gar nicht. Deine Worte sollen mich nur beruhigen. Okka hatte dein Spiel durchschaut. Jetzt, wo ich weiß, was ich bin - dass ich mehr als nur eine Werwölfin oder Menschenfrau bin - erkenne ich es auch. Du spielst eine Rolle. Du bist die Rolle. Manchmal magst du tatsächlich fühlen, was du nach außen zeigst. Zweifelsohne hast du Gewissensbisse. Aber sobald du dich deinem Ziel näherst, sind die Zweifel weg, nicht wahr? Dann bist du wieder der, der Vlooriean umgebracht hat. Der Schlächter, der Spaß hat zu morden. Der Streuner, der nicht weiß, wohin er gehört oder gehen soll. Ist es nicht so?“ Er sah mich betreten mit sandgelb veränderten Augen an, was mich nur wütender machte. „Hör auf, mich so anzusehen!“, fauchte ich. „Was war das denn mit Shakún’tala? Bei ihr hast du es doch am meisten genossen, weil sie unschuldig war! Jetzt, wo Ânsgar mein inneres Auge geöffnet hat, sehe ich in dich hinein und bin nicht einmal entsetzt über das, was ich entdecke.“ Agelulf machte ein undefinierbares, erschrockenes Geräusch. Im selben Moment strauchelte ich leicht, mir wurde schwindelig und ich lehnte mich gegen den nächsten Baum. „Woher kennst du seinen Namen?“, fragte Agelulf und starrte mich an. Ja, woher kannte ich ihn? Ich wusste es nicht. Er war mir plötzlich in den Sinn gekommen. Ich sah Agelulf verwirrt an. „Er steht im Buch“, behauptete ich, wusste aber, dass er die Lüge sofort durchschaute. „Nicht dort, wo du gelesen hast. Er wird erst spät erwähnt.“ Er ballte die Klauen zu Fäusten, die unangenehm knackten. „Du begegnest ihm und kennst schon seinen Namen. Es geht nicht anders, es wird Zeit, dass ich dir von ihm erzähle, obwohl ich es vermeiden wollte“, sagte er betreten. „Wer ist er?“, fragte ich, hielt meine Schläfe und rieb. Agelulf schüttelte den Kopf, half mir auf und hieß mich, ihm zu folgen. „Komm, ich erzähle dir auf dem Weg von ihm.“

Ich brannte darauf, mehr zu erfahren. Doch Agelulf schwieg eine ganze Stunde. Ich hatte den Eindruck, dass er mit sich haderte, mir etwas zu offenbaren, dass er nicht teilen wollte, was unmöglich war. Er hatte es selbst gesagt: Er musste mir seine Geschichte zeigen, wenn er weiter aufsteigen wollte. Erst als wir eine angemessene Geschwindigkeit erreicht hatten, die uns beiden genehm war, hob er an: „Ânsgar ist der vierte Geist. Sein Beiname lautet Trismégistos, der dreifach Erhöhte. Als ich ihn fand, neigte sich sein Leben dem Ende zu. Im Geist ist er ein Verwandter meines Erliks. Er ist auf einer verzweifelten Suche nach sich selbst.“