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Eléusyòs


Eléusyòs

Ich bin Hunger. Ich bin Schmerz. Ich bin Hass ... ich bin Hass. Niemand hasst besser als ich, niemand hat größeren Schmerz als ich, niemand hungert so wie ich. Hunger. Nach Licht. Das leckere Licht des Lux. Bin ich geschaffen worden, um zu fressen oder um qualvoll zu hungern? Eintausend, zweitausend, fünftausend Jahre und länger lebe ich schon. Es gibt keine Erlösung. Weder für mich, noch für andere wie mich. Lichtfresser. Wie Vampire das Blut saugen wir allem Lebenden das von Lux gegebene Licht aus. Doch es ist wenig. Wie ein Tropfen Wasser nach einer langen Wanderung durch die Wüste. Danach will ich mehr.

Ich habe gelernt zu fasten.

Und wenn mir ein Mensch unterkommt, in dem das Licht ungewöhnlich hell leuchtet – in unserer Welt, die die Gloándi verlassen haben – verfolge ich ihn wie ein Tier. Er entkommt mir nicht. Ich verschlinge ihn in einem Stück, mit Haut und Haar, denn ich wage nicht, etwas von dem seltenen Element zu verschwenden.

Ich jage sie. Manchen laufe ich wie eine blutrünstige Bestie hinterher. Mit anderen gehe ich eine Bekanntschaft ein und spiele mit ihnen, bevor ich fresse. Allen gleich ist der ultimative Moment der Angst. Selbst die abgebrühtesten fürchteten sich zum Schluss vor der Finsternis in meinem Körper, von der ich nicht weiß, wie tief sie ist. Ich bin ein Tor in eine Welt aus Nichts.

Es gab nur einen, der keine Angst hatte. Einen, der von Anfang an wusste, was ich war und trotzdem meine Nähe suchte. Einen, mit dem ich für einen langen Moment nicht hungrig war. Einen, der mit in mein erkaltetes Herz sah.

Ich kam in die Stadt Sylk. Der Kontinent, auf dem sie lag, trug denselben Namen. Die ersten Siedler hatten es sich leicht gemacht. Wochen zuvor hatte ich eine gewaltige Welle kleinster Teilchen aus Licht gespürt, die nur wir Lichtfresser wahrnehmen. Sie hatte hier ihren Ursprung. Ich suchte den- oder diejenige, die die Welle ausgelöst hatte. Ich musste schnell sein, denn andere Lichtfresser waren schon hier oder auf dem Weg hierher. Die Zeiten haben sich geändert. Es ist schwer für uns geworden, das wahrhafte Licht zu finden. Kaum wird eine Quelle entdeckt, stürzen sich alle Lichtfresser im Umkreis mehrere hundert Kilometer darauf, sei sie noch so klein. Die Nachfrage riesig, das Angebot winzig.

Zu meiner Überraschung suchte ich nicht lange. Keine Woche verging, da fand ich ihn. Wobei finden das falsche Wort ist. Nach einem erfolglosen Tag der Suche entschloss ich mich, in mein Zimmer zurückzukehren, dass ich angemietet hatte. Ein schäbiger kleiner Raum, mit dreckigem Fenster, Schimmel an den Wänden, nur einem Bett mit Kommode, die im Kontrast ordentlich und wertig waren. Ich bog in die Seitenstraße ein und bemerkte jemanden an der kleinen Tür anlehnen. Abrupt blieb ich stehen, und versteckte mich im Schatten des Gebäudes. Wir Lichtfresser sind Wesen, die mit jeder Art von Zwielicht verschmolzen und so unsichtbar wurden. Ich überlegte, ob ich mit der unglücklichen Person ein wenig spielte. Ein paar Finger hier, ein Bein dort abbiss. Ach, ja. Blutrünstig sind die meisten von uns genauso. Ich näherte mich geräuschlos, es war ein Mann, Mitte bis Ende zwanzig. Doch lange bevor ich meine Reißzähne in sein Fleisch schlug, wandte er sich in meine Richtung und sah mir schief lächelnd ins Gesicht.

„Ich sehe dich nicht, aber ich weiß, dass du da bist“, sagte er selbstsicher. „Du bist wie ein Vakuum. Ich spüre an der Stelle nichts, an der du stehst. Absolute Leere.“

Enttarnt wagte ich mich aus dem Schatten hervor, schritt auf ihn zu und baute mich vor ihm auf. Kurz taxierten wir einander. Er war der gewesen, der das leckere Licht in die Welt ausgesandt hatte, das mich hergeführt hat. Er war klein und schmächtig. Zumindest aus meiner Perspektive. Für einen Menschen hatte er eine stattliche Größe.

„Du bist beängstigend groß. Beeindruckend“, sagte er und starrte mich ehrlich erstaunt an. „Die, die ich bisher getroffen habe, waren nicht so riesig.“ Ich war eineinhalb Meter größer als er. Menschen sind ohnehin kleine Geschöpfe. Ich finde es unglaublich, dass sie einmal die Welt regiert haben.

Und dass er mich spürte, wunderte mich nicht. Die meisten, in denen das Licht heller leuchtete, bemerkten unsere Gegenwart. Was mich dennoch wunderte, war, dass kein Fünkchen Angst sein Herz bekümmerte. Im Gegenteil roch ich Freude. „Du bist freiwillig hier? Soll ich dich sofort verschlingen?“, fragte ich.

„Zuerst wollte ich Hallo sagen und mich bei die selbst zu einer Tasse Tee einladen. Aber wenn du so direkt fragst...“ Er streckte die offene Hand aus und stellte sich vor. „Ich heiße Wyrd. Wyrd Era Vail’lant.“

Ich zuckte innerlich zusammen. „Vail’lant?“, wiederholte ich. Viele wissen es, die wenigsten glaubten es, obwohl es stimmte. Die Vail’lants waren verwandt mit Gon Era Vail’lant, der bei den meisten Völkern als Heiliger und Heilsbringer verehrt wurde. Ich habe ihn nie getroffen, als er lebte, obwohl ich damals schon über die Welt wandelte. Vor über viertausend Jahren. Jeder Lichtfresser, der so alt war wie ich, erinnerte sich an die Lichtexplosion, die wir vom Kontinent jenseits des Ozeans fühlten. Eine Energieentladung, mit der Gon Era Vail’lant um einen Hauch die Welt zerstört hätte. Erst Jahrhunderte später erfuhr ich seinen Namen. Er war ein Nachkomme der Gloándi gewesen, der Lichtenmenschen, die wie jagten und auffraßen.

Und jetzt traf ich einen seiner Nachfahren. Gier regte sich. Ich streckte die Klaue nach ihm aus, hätte bloß meine Krallen ausfahren müssen, dann wäre er mein. Aber mich reizte das Spiel, das er spielte. Ich schlug in seine Hand ein. „Hallo, ich bin -“

„- Eléusyòs, ich weiß“, lächelte er. Seine kleine Hand war angenehm warm. Durch seine Venen und Adern pulsierte das die leuchtende Energie. So viel, dass ich Jahrhunderte davon zehren könnte. Ich bemerkte nicht, wie mir der Speichel vom Unterkiefer heruntertropfte. Wyrd blieb gelassen. „Na los, nimm dir eine Kostprobe“, sagte er.

Ich starrte ihn unverhohlen an. „Freiwillig? Du rennst nicht weg?“, fragte ich und streckte die zweite Klaue nach ihm aus.

„Du bist hungrig und will mit dir etwas besprechen. Aber ein Gespräch mit einem ausgehungerten Lichtfresser zu führen wird nicht leicht. Deshalb musst du erst satt werden“, erklärte er. Er wusste einiges über uns. Ich gebe zu, dass er mich beeindruckte.

„Woher weißt du, dass ich dich am Leben lasse?“

„Ich gehe davon aus, dass du neugierig darauf bist, was ich zu sagen habe“, antwortete er souverän.

Er hatte recht. Es interessierte mich brennend. Ich entschied, ihn am Leben zu lassen und auf sein Angebot einzugehen. Vorerst. Früher oder später verschlang ich ihn ohnehin. Ich kniete nieder, er zog den Ärmel seines Pullovers hoch und präsentierte mir den Unterarm, an dem ich roch. Mit der Zungenspitze leckte ich darüber, um mir eine geeignete Stelle zu suchen. Dabei war es egal, wo ich zubiss, das Licht in ihm war überall gleichmäßig verteilt. Sein Herz schlug kräftig und fest. Es war das Zentrum, von dem die Energie ausstrahlte.

Ich biss zu. Ich war nicht zimperlich und schlug meine Zähne fest genug in sein Fleisch, sodass sie es durchbohrten. Doch Wyrd kümmerte der Schmerz nicht. Er war in eine Trance gefallen. Es – war Wahnsinn! Es kam mir entgegengesprudelt. Für gewöhnlich schluckte ich meine Opfer in einem herunter, um nur ein Quäntchen des seltenen Elements zu erhalten. Wyrd war vollgepumpt damit. Ein bisschen entwich mir sogar durch die Zwischenräume meiner Zähne, quoll auf die Straße und erleuchtete sie sanft. Bei Nox, was für ein Mahl! Seit tausend Jahren hatte ich nicht mehr geschlemmt wie in diesem Augenblick. Ich genoss jeden Bruchteil der verstreichenden Sekunden, schmeckte die kleinsten Partikel, wie er aus Wyrds Arm hervorsprang, über meine Zunge wanderte und verschwand im unendlichen Nichts des Rachens. Ich hätte weiter gesaugt, bis die Quelle versiegt wäre, doch sammelte ich mich und ließ von ihm ab. Erschöpft und ausgelaugt brach er zusammen. Ich fing ihn auf, hob ihn über meine Schulter und sah mich schnell um. Keiner der anderen Lichtfresser in der Stadt sollte erfahren, dass ich die Quelle gefunden hatte. Dann eilte ich durch die Tür in mein Zimmer und verriegelte sie.

 

Nach eineinhalb Tagen erlangte Wyrd das Bewusstsein wieder. Sechsunddreißig Stunden, in denen ich ihn keinen Moment allein ließ oder von ihm abwandte. Zweitausendeinhundertundsechzig Minuten, in denen ich befürchtete, von anderen entdeckt zu werden. Einhundertneunundzwanzigtausendundsechshundert Sekunden hielt ich mich selbst krampfhaft davon ab, ihn runterschlucken und zu verschlingen. Wenn das, was man am meisten begehrte, direkt vor einem lag, eine fast unmögliche Aufgabe. Vor allem da mein Körper nach der Kostprobe nach mehr trachtete. Die Zeitspanne, bis er aufwachte, empfand ich als länger als die vergangenen eintausend Jahre. Ich wanderte oft an mein Bett, in das ich ihn sorgfältig hineingelegt hatte, und das für mich viel zu klein war, und betrachtete ihn eingehend.

Ich stellte mir verschiedene Szenarien vor, was ich mit ihm anrichtete. In allen davon vergewaltigte ich ihn, während er schlief. Das größte Bedürfnis von Lichtfressern war es, ihren Hunger zu stillen, das stimmte. Aber der fleischlichen Lust waren wir nicht abgeneigt. Das Geschlecht spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Ich stellte mir vor, wie ich Wyrd aus seinen Gewändern schälte, um dann jede Körperregion mit meinen Klauen erkundete. Oder wie ich meine Zunge in seinen Mund, dann den Hals und weiter hineindrückte, um sie erst zurückzunehmen, kurz bevor er erstickte, und sie dann in andere Körperöffnungen gleiten zu lassen. Alles, ohne dass er es mitbekam. Bis ich ihn verschlang.

Während ich mich meinen Fantasien hingab, beugte ich mich über ihn, öffnete die Kiefer einen Spalt weit und sabberte auf sein Gesicht, was ihn aber nicht aufweckte. Als mir bewusst wurde, was ich tat, war es mir peinlich. Er war nicht irgendein Opfer, sondern mein Gast. Gäste vollzusabbern gehörte sich nicht. Ich mochte keine Manieren haben, während ich aß, doch meinen Anstand bewahrte ich mir. Nicht so wie die kleinen Fische, die glaubten, sie seien Götter. Ich nahm ein Tuch und trocknete damit Wyrds Gesicht. Dabei schlug er die Augen auf, die mich wirr und nicht bei Verstand ansahen. „Schlaf“, rumorte ich und legte, zu meiner eigenen Überraschung, die rechte Klaue auf seine Stirn. Er schloss die Augen wieder und schlief weitere zehn Stunden. Ich setzte mich in die von ihm am weitesten entfernte Ecke des Raumes, in die Nähe der Tür. Ich wusste, wenn ich mich ihm wieder näherte, verging ich mich an ihm. Nicht, dass ich das nicht wollte, aber ich überlegte mir ein Spiel für ihn, durch das er sich am Ende von selbst auslieferte.

Um fünf Uhr am Morgen erwachte er, erhob sich abrupt, röchelte und hustete ein paar Minuten. Er stand auf, eilte zum Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus.

„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte er. Er hätte nicht wissen können, dass ich da bin. Es war stockfinster. Licht besaß ich nicht, die Lumineszenz meiner Augen ermöglichte mir, in tiefster Finsternis zu sehen, als ob es taghell ist.

„Sechsunddreißig Stunden“, antwortete ich.

„Weißt du, dass sich deine Stimme bei Nacht dunkler anhört?“, sagte er. „So lange? Du hast mich ein einer Minute schneller ausgesaugt, als ich erwartet hatte.“

„Was willst du, kleiner Mensch?“, fragte ich forsch, stand auf und stellte mich hinter ihn. Doch er nahm keine Notiz von mir. Entsprechend reagierte er verwirrt, als er sich umwandte und gegen mich stieß.

„Du musst mich fressen“, sagte er und zerstörte zu meinem Bedauern damit mein ausgeklügeltes Schauspiel, das ich für ihn vorgesehen hatte.

Ich schnüffelte an ihm und leckte meine Lefzen. „Das hättest du vorher sagen können. Ich nehme an, nicht sofort, nicht war?“

„Nein, nicht sofort“, bestätigte er. „Aber ich bitte dich darum, wenn die Zeit kommt.“ Er streckte den Arm aus und fuhr mit der Hand über meinen Bauch. „Es ist hoffentlich gemütlich in dir.“

„Du bist noch nicht oft von einem wie mir gefressen worden, oder?“, kommentierte ich genervt. „Wann ist denn die Zeit gekommen?“

Er sah auf. Seine Augen – lumineszierten. Er sah wie ich um Dunkeln. Was war er für ein Wesen? Ein normaler Nachfahre der Gloándi nicht.

„Wenn ich die Welt zerstöre, nein, wenn ich anfange, alles vernichten, was mir etwas bedeutet“, antwortete er.

Das war sehr vage. „Was bekomme ich dafür?“, fragte ich schelmisch.

Auf die Frage war er nicht vorbereitet und stutzte. „Du bekommst mich. Du darfst mich fressen. Ist das nicht das ultimative Glück, das jeder Lichtfresser sucht?“ Während er das sagte, schwand seine Selbstsicherheit. Was er mir bisher gezeigt hatte, war geschauspielerte Ruhe. Jetzt hatte ich ihn.

Ich lachte auf. „Glück?“, prustete ich. „Ich bin ein Lichtfresser. Wir sind unheilige Kreaturen. Dämonen in den Augen einiger. Glück ist uns verwehrt, so oder so. Das, was wir mit deinem Licht stillen, ist unser ständiger Hunger.“

„Aber, was -?“

Ich packte Wyrd grob am Hals und drückte ihm die Luft ab. „Dass ich dich fresse, stand fest, als du entschieden hast, zu mir zu kommen. Aber das ist mir nicht genug“, sagte ich und grinste niederträchtig. „Ich will mehr.“ Ich drängte ihn in die Ecke. Wenn ich ihm das, was er am meisten begehrte, nicht gab, tat er alles, um es zu bekommen. Vorsichtig lockerte ich meinen Griff. „Also? Mach‘ mir ein Angebot. Vielleicht gehe ich darauf ein.“

Wyrd ließ sie ein paar Minuten Zeit und überlegte gründlich. „Ich kann dir nichts anbieten, das dich interessiert“, sagte er dann. „Reichtum und Macht reizen dich nicht, du bist unsterblich.“

„Gut kombiniert“, nickte ich anerkennend. Es gab zwar Lichtfresser, die nach beidem strebten. Aber das waren allesamt Neulinge, die noch lernten, wie wertlos und vergänglich diese Dinge blieben. Ich stand seit Jahrtausenden über solchem Kinderkram.

„Aber, was dann? Ich kann dir nicht mehr anbieten, als mich selbst“, erwiderte er.

„Eben!“, rief ich. „Eben!“

„Ich verstehe nicht“, meinte er. „Du sagtest, du willst mehr, als mich nur zu fressen.“

Ich beugte mich hinab. „Mehr als dich zu fressen“, hauchte ich ihm ins Gesicht. „Dein Körper. Ich will ihn quälen und missbrauchen und benutzen.“ Während ich sprach, geiferte ich über meinen Arm. Zuerst wusste Wyrd nichts zu sagen. Nach ein paar Sekunden kehrte das gespielte Selbstvertrauen zurück. Er befreite sich von meinem Griff und schlurfte zum Bett. Dabei entkleidete er sich. „Stopp“, gebot ich Einhalt. „Ich habe nicht gesagt, dass ich es jetzt will. Zudem ist das nicht alles, was ich verlange.“

„Mehr?“, rief er empört, was mich amüsierte. „Ich habe dir alles zugesagt, und du willst immer noch mehr? Du bekommst dein dreistes Maul nicht voll genug, was?“

„Sei vorsichtig, Kleiner. Du vergisst, wem du gegenüberstehst“, grollte ich tief und kalt.

Wir sahen einander an. Augenblicke, in denen wir uns einen schweigenden Kampf lieferten, wer der Herr unserer Diskussion war. Es ist verwunderlich, wie viel man anderen mitteilte, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Dadurch sind Reiche untergegangen und Sterbliche verrückt geworden. Wyrd kämpfte eine nonverbale Schlacht, die er nicht gewann.

„Was willst du noch?“, fragte er und gab nach, war aber zunehmend misstrauisch.

„Dich verstehen“, antwortete ich. „Deine Augen zum Beispiel. Du siehst im Dunkeln. Ich will wissen, warum.“

„Warum interessiert dich das?“ Er legte die Stirn in Falten.

Ich grinste hämisch. „Wenn ich dich besser verstehe, finde ich in hundert Jahren noch etwas zu Fressen. Daneben bin ich neugierig“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Wyrd seufzte und zog seine Hose und das grobe Leinenhemd wieder an. „Es dauert zu lange, das zu erzählen“, wiegte er ab.

„Dann berichtest du mir nach und nach von deiner Geschichte. Ich bestehe nicht darauf, dass es sofort geschieht.“ Verschmitzt fügte ich an: „Selbstreden werde ich ab und zu von die kosten. Immerhin verlangst du, dass ich rund um die Uhr auf dich achtgebe.“

„Und wenn ich mir einen anderen Lichtfresser suche? Es gibt andere wie dich in der Stadt“, entgegnete er frech. Das war ein gescheiter Gedanke, aber trotzdem zu kurz gedacht.

„Du wärst nicht zu mir gekommen, wenn du nicht schon wüsstest, dass die anderen nichts taugen. Sie sind allesamt sabbernd, maßlos und unersättlich. Sie saugen dich aus, bevor du ein Wort mit ihnen wechselst.“ Ins Schwarze getroffen und versenkt. Er verzog keine Miene mehr. „Haben wir eine Abmachung, oder soll ich dich doch gleich hier vertilgen?“ Er nickte gezwungen. „Gut!“, sagte ich erfreut. „Ich werde dich nicht enttäuschen. Und mich auch nicht.“

„Vergiss nicht: Nur, wenn es nicht anders geht. Nicht vorher, verstanden?“

„Verstanden“, wiederholte ich. Freilich war das gelogen. Sobald ich genug über ihn erfahren hatte, plante ich den Schmaus ein.

 

Die folgenden Monate besuchte er mich häufig. Oft nur eine Stunde. Zwar fraß ich weiter von ihm, aber nur, wenn er mehrere Tage von seinen Verpflichtungen befreit war, und es nicht auffiel, dass er fehlte. Er studierte Scholastik. Nicht weil er es sich ausgesucht hatte, sondern weil es von ihm erwartet wurde. Armes, reiches Bübchen. Ich rang mich dazu durch, mich ebenfalls einzuschreiben. Um genau zu sein: Ich manipulierte die bürokratischen Organe, um in derselben Scholastik-Gruppe wie er zu sein. Das machte die Überwachung leichter.

Er gab mir einiges mehr von sich preis, als ich erwartet hatte. Er war der erste Mensch, der den Kontinent seit dreihundert Jahren betreten hatte. Korrekterweise merke ich an, dass er der erste Mensch seit dieser Zeit war, der aus Emmir’dal stammte, denn auf meinen Reisen durch Sylk war ich immer wieder welchen begegnet. Allein hier an der Westküste habe ich keinen getroffen. Bis auf ihn. Ich erfuhr, dass ich nicht der erste Lichtfresser war, der an ihm gesaugt hatte. Was der letzte mit ihm gemacht hatte, war umso abenteuerlich, wenn auch unsagbar infantil. Er hatte versucht, Wyrd zu einem von uns zu transformieren. Dadurch hatte er die Fähigkeit erhalten, im Dunkeln zu sehen. Dummerweise hatte Wyrd sich gewehrt. Außerdem war es nicht möglich einen direkten Nachfahren der Gloándi zum Lichtfresser zu verwandeln. Denn was selbst unter uns kaum jemand wusste, war, dass wir das genaue Gegenteil der Nachfahren waren. Sie waren die Quelle, wir der Abfluss. Eine Quelle zu einem Abfluss zu machen, war nicht möglich. Auf diese Weise hatte Wyrd ein paar nützliche Fähigkeiten erhalten, obwohl der Preis dafür hoch war. Seine vormals gelenkte Kraft war unkontrollierbar geworden. Er musste der Energie ab und zu freien Lauf lassen, da er sonst Amok lief. Kurz nach der missglückten Verwandlung war ihm das passiert. Dabei hatte er seine Heimatstadt zerstört und die meisten getötet, die ihm nahestanden. Es war aufregend zu erfahren, dass das der Grund war, weshalb er unbedingt von mir gefressen werden wollte.

Weitere sechs Monate verstrichen, in denen mehr und mehr meiner Brüder und Schwestern in die Stadt strömten. Mit mir zusammen waren es etwa zwei dutzend, wobei ich die Hälfte wieder verjagte, sobald sie sich Wyrd näherten. Zwischen uns baute sich eine Zweckbeziehung auf, ich kostete jeden Monat von ihm.

Das brachte mir aber nichts, als der Tag kam, an dem er – so wie er angekündigt hatte – knapp die ganze Gegend zerstört hätte. Wie ein Schlag auf meinen Kopf spürte ich die massige Energiewelle, die von ihm ausging, als ich in einem anderen Stadtteil auf der Jagd nach Konkurrenz war. Ich eilte voller Vorfreude zum Gelände der Scholastikschule. Aber anstatt anzusteigen, nahm die Energie ab. Als ich den Haupthof betrat, gehüllt in gleißendes Licht, die meisten Anwesenden geblendet oder blind geworden, erkannte ich, wie sich zwei andere Lichtfresser an Wyrd gütlich taten. Aatxe und sein kleiner Speichellecker Dyaus.

Die Gefahr war abgewandt, die scheiß Stadt gerettet. Und ich war zornig, begrub aber meine Emotionen bis zu dem Moment, als Wyrd sich erholt hatte. Er war von der Fakultät dauerhaft beurlaubt worden. Die meisten hatten nicht verstanden, was passiert ist und wer er war. Sie wollten es auch nicht wissen.

Sobald er sein Zimmer verließ, durch die Straßen schritt und verloren alle Orte besuchte, an denen er sich in den letzten Monaten regelmäßig aufgehalten hatte, lauerte ich ihm in einer weniger belebten Gasse auf und versperrte ihm den Weg. Freilich war er wenig überrascht, mich zu sehen. „Hallo, Eléusyòs“, begrüßte er mich, als ob nichts geschehen sei.

„Du hast die Abmachung nicht eingehalten!“, klagte ich ihn an. „Warum hast du andere an dich rangelassen?“

„Was hätte ich machen sollen?“, entgegnete er. „Du warst nicht da! Du hast die Abmachung ebenfalls nicht eingehalten.“

„Lass die Spielchen, du lügst! Ich weiß, dass mehr dahintersteckt.“

Wyrd schwieg ein paar Momente, bevor er antwortete: „Ich... darf noch nicht sterben. Deshalb haben mich die beiden anderen gebissen. Sie wollten mich nicht töten. Du darfst mich nicht verschlingen, selbst wenn ich außer Kontrolle gerate.“

„Warum?“, brüllte ich und schlug so fest gegen eine nahe Mauer, dass sie brach.

„Ich weiß es nicht!“, sagte er energisch. „Aber du darfst es nicht. Irgendwann, vielleicht. Aber nicht jetzt. Außerdem bist du unsterblich. Was sind für dich ein paar Jahre oder Jahrzehnte? Nicht mehr als ein Augenblick!“

Ich stierte ihn an. Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihm und schlug ihn bewusstlos. Danach raffte ich in auf und eilte zu meinem Zimmer. Dort wartete ich, bis er aufwachte. Er wusste sofort, wo er war, sprang vom Bett und rannte zur Tür. Ich war schneller und stieß ihn in den düsteren Raum zurück.

„Du darfst nicht sterben? Bitte, ich lasse dich leben. Noch. Dafür nehme ich mir eine Entschädigung. Glaub mir, es ist kein Spaß, mit mir das Bett zu teilen.“ Ich packte ihn am Arm und schleuderte ihn gegen die Wand, sodass er schmerzvoll aufschrie, als er mit der Schulter dagegen krachte.

Ich brauche nicht zu beschreiben, was ich mit ihm anstellte. Ich fügte ihm viele Schmerzen zu und genoss seine Schreie. Nachdem ich fertig mit ihm war, schickte ich ihn fort, bevor ich mich umentschied und ihn doch auffraß.

„Hör zu“, sagte ich, als er mit zerfetzten Gewändern im Türsturz stand. Er sah mich verstört an, war übersät mit Schnittwunden. „Unsere Abmachung gilt nicht mehr. Ich werde dich fressen. Und zwar dann, wenn es mir passt und ich Hunger habe. Jetzt verschwinde!“ Langsam schlurfte er davon und ließ die Tür offen. In seiner Verwirrung war er nicht nach Hause gegangen, sondern in den Scholastik-Unterricht geplatzt und dort zusammengebrochen. Zumindest hörte ich davon. Es kratzte mich nicht. Der kleine Bastard hatte mich um meinen Fraß gebracht, der mich über Jahrhunderte hinweg gesättigt hätte. Stattdessen hat er zwei Schwachköpfe an sich rangelassen.

Wo ich gerade von ihnen erzähle; Aatxe und Dyaus besuchten mich drei Tage später. Von den beiden erfuhr ich erst, was mit Wyrd passiert ist. Ich war außerhalb der Stadt und suchte in einem Waldstück nach Wildtier, weil ich Lust auf Fleisch und spritzendes Blut hatte. Als sich kein Erfolg einstellte, überleget ich, mir einen der Holzfäller vorzuknöpfen. Sie waren leichte Beute und kreischten viel ansprechender, wenn man sie ausweidete. Wie aus einem schlechten Märchen entsprungen, zeigte sich Aatxe hinter einem Baum. Ich blieb stehen.

„Es ist lange her“, sagte der Minotaur. Er sah immer noch so aus wie bei unserer ersten Begegnung vor viertausend Jahren, als er in der Armee eines Königreichs weit im Osten, dessen Namen ich vergessen habe, gedient hat. Er war jünger als ich, aber nur eintausend Jahre. Wir waren zwei der wenigen Lichtfresser, die die Epochen vor dem heiligen Gon miterlebt hatten.

„Lang? Siebenhundert Jahre, mehr nicht“, entgegnete ich. „Wo ist dein Windelkind und Fickfreund? Das letzte Mal hattest du ihn erst verwandelt.“ Aus dem Boden nahm ich mehrere seichte Erschütterungen wahr. Jemand schlich sich an mich an. Aus Reflex griff ich hinter mich, packte den überraschten Dyaus und rasierte mit ihm eine Eiche und mehrere Tannen nieder, bevor ich ihn zu seinem Meister schleuderte. Der kümmerte sich nicht um ihn und blieb ungerührt stehen, bis Dyaus sich erhob und den Dreck von sich abklopfte. Es war auffällig, wie unterschiedlich die beiden waren, obwohl sie derselben Spezies angehörten. Aatxe war ein Riese von Minotaur, fast so groß wie ich, protzige Muskeln, markanter Schädel. Dyaus hingegen ein Abklatsch, viel kleiner und besaß weiche Gesichtszüge. Im Vergleich zu anderen Spezies war er zwar trotzdem eindrucksvoll, aber für jemanden wie mich, der seine Vorfahren gekannt hatte, war er ein Schwächling. Etwas, was mir schon lange aufgefallen war. Mit jedem Jahrhundert degenerierten die einstmals wilden Rassen. Leoniden, Drakonier, Minotauren, Lykanther, und so weiter.

„Was wollt ihr von mir?“, fragte ich. „Soll ich eure fetten Rinderärsche durchficken?“ Unter Lichtfressern waren die beiden für ihre innige Beziehung zueinander bekannt. Das war ungewöhnlich, da wir Einzelgänger waren und uns an niemanden banden.

„Du hast ihn verunreinigt“, hob Aatxe an und verschränkte die Arme. „Es wird Monate dauern, bis er sich erholt hat. Aber das Schlimmste ist, dass du ihm deinen Samen injiziert hast.“

Ich grinste grimmig. „Nein, nicht aufgezwungen. Er und ich hatten eine Abmachung.“ Kaum hatte ich den Satz beendet, traf mich Aatxes Faust am Kinn, ich flog mehrere Meter weit und verursachte eine Schneise im Geäst. Als ich aufstand, rieb ich die Stelle, an der er mich getroffen hatte und aus der schwarzes Blut troff, ich lachte unwillkürlich.

„Eure Abmachung war in dem Moment geplatzt, als Dyaus und ich ihn gebissen und davor bewahrt haben, in die Luft zu fliegen. Du hattest kein Recht mehr, ihn zu schänden!“ Aatxe stand bereits vor mir. Er war bekannt für seine unnatürliche Schnelligkeit, die er im Verlauf der Jahrtausende perfektioniert hatte. Nicht einmal ich reicht ihm darin das Wasser.

„Was bringt es, mit dir darüber zu diskutieren?“, fragte ich. „Es ist passiert, du kannst nichts mehr dagegen machen.“ Ein paar Momente schwiegen wir uns an und taxierten einander. Dyaus im Hintergrund wurde nervös.

„Aatxe!“, sprach er ihn an, sodass sich ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit bei meinem Ex-Favoriten einschlich. Das reichte aus, um ihn an den Hörnern zu ergreifen, in die Höhe zu schleudern und dann in den Boden zu rammen. Ich holte aus, um seinen Kopf zu zermatschen, als Dyaus mich umwarf und auf mich einschlug. Von den Hieben ungerührt erhob ich mich, griff ihn an den Schultern und warf ihn durch die Luft gegen eine Tanne. „Halt dich raus, kleine Kröte“, rief ich hinterher. Einen Moment später war Aatxe wieder vor mir und traf mit der geballten Faust meine Brust, die hörbar knackte und brach. Wie Messer rammten Knochensplitter in mein Herz. Gleich darauf traf mich ein zweiter Schlag auf dieselbe Stelle, die angeknacksten Rippen brachen und bohrten sich in meine Lunge. Nicht lebensgefährlich, ich hatte schon Schlimmeres durchgemacht, aber es tat weh. Ich spuckte Blut, schwarz wie Pech, und ging in die Knie. Dyaus packte mich von hinten und versuchte, mir das Genick zu brechen. Die kleine Pest war bei Weitem nicht kräftig genug, meinen Halswirbel nur zu verbiegen.

„Nicht!“, brüllte Aatxe, doch es war zu spät, ich hatte ihn im Griff und in meiner Gewalt, bewerkstelligte es, ihn vor mich zu bugsieren und einen lebendigen Schild aus ihm zu machen.

„Na, kleine Schwuchtel?“, höhnte ich und spie blutigen Geifer, der Dyaus Gesicht benetzte. Er schnaufte, ich hatte ihn mit demselben Griff unter Kontrolle, mit dem er mir eben den Hals verdrehen wollte. Seine Augen waren aufgerissen, er starrte Aatxe entsetzt an, der still dastand, um mich auf keinen falschen Gedanken zu bringen. Pech für ihn hatte ich den schon gefasst.

„Du liebst deinen Meister?“, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. „Du bist sein Gefährte, hm?“

„Lass ihn los!“, brüllte Aatxe. „Bitte!“

„Oh, was höre ich? Das Großmaul bittet mich, sein Ficklloch freizulassen?“ An Dyaus gewandt: „Er liebt dich ja wirklich. Ich habe ihn noch nie bitte sagen hören.“ Ich grinste niederträchtig. „So sehr er dich liebt, er muss sich einen anderen Gefährten suchen.“ Ich brach Dyaus das Genick. Das führte nicht zu dessen Tod, erleichterte mir aber, seinen Kopf ins Maul zu stopfen und abzubeißen.

„Nein!“, brüllte Aatxe dramatisch und sprang mich an. Aber es war zu spät. Ich rollte Dyaus Kopf über meine Zunge und schluckte ihn hinunter. Mein Glück danach war, dass Aatxe emotional kompromittiert und sein nächster Angriff planlos war. Ich wich ihm aus, warf ihm Dyaus kopflosen Körper hinterher, der ihn breitseitig traf und straucheln ließ. Daraufhin boxte ich ihm in den Bauch, sodass er zu Boden ging, ihn sich festhielt und hustend wälzte. Sofort war ich über ihm und hinderte ihn daran, aufzustehen. Ich spannte meine Krallen zu einer Spitze und durchbohrte seine rechte Schulter. Er schrie nicht, was ich mir gewünscht hatte, sondern stöhnte und – weinte.

„Der eiskalte Minotaurenritter weint wie ein Neugeborenes. Was für ein Anblick“, spöttelte ich. Wie gut es mir tat, jemanden in der Seele zu verletzen! „Ich habe dir bei unserer letzten Begegnung schon gesagt. Du kannst mich nicht besiegen! Oder töten. Damals habe ich dich gewarnt, heute musst du den Verlustschmerz ertragen.“

„Spuck ihn aus! Noch ist ... es nicht zu spät!“, keuchte er angestrengt. Blut floss ihm das Kinn hinab, genauso schwarz wie meins. Wir Lichtfresser waren verdammte Wesen, für uns gab es keine Erlösung.

„Du raffst es nicht, oder?“, feixte ich. „Wir kennen uns so lange und du hast es immer noch nicht begriffen!“

„Spuck ihn aus! Spuck seinen Kopf wieder aus! Nimm ihn mir nicht weg!“, flehte Aatxe ungehemmt, versuchte, sich von mir zu befreien und aufzustehen, was ich aber verhinderte, indem ich tief in seine Wunde drückte. Er röchelte und sank zurück zu Boden.

„Na, wie ist das so, seinen Gefährten zu verlieren? Fühlst sich scheiße an, oder?“, fragte ich von oben herab. „So habe ich mich gefühlt, als du mich verlassen hast!“, brüllte ich und trieb die Krallen durch seine Schulter hindurch, bis sie im Erdreich steckten. Ich hockte mich hin und rumorte leise: „Ich gebe ihn dir nicht zurück. Das geht nicht, selbst wenn ich es wollte. Ich habe es dir erklärt, doch du hörst ja nie zu. Ich bin wie ein schwarzes Loch. Alles, was ich fresse, ist verloren. Schlag mich bewusstlos und steig mir ins Maul, du verschwindest, wie alles andere. Ich habe es ausprobiert, habe jemanden in mich hineingeschickt. Mein Bauch hat sich keinen Zentimeter gewölbt, verstehst du? Als ich versuchte, ihn hervorzuwürgen, kam nichts heraus. Er war weg, verschwunden.“

Aatxe stierte mich verzweifelt an, bat und flehte mit vertränten Augen, dass ich ihm ein Märchen weismachte. Ausnahmsweise sagte ich die Wahrheit.

„Dyaus ist tot, finde dich damit ab. Und wenn du dich nochmal an Wyrd ranmachst, hole ich mir auch deinen Kopf“, sagte ich und hob mit einem Ruck die blutigen Krallen aus seinem Fleisch. Aatxe kroch auf Dyaus kopflosen Körper zu, nahm ihn in die Arme und wiegte ihn mütterlich hin und her. Ich ging davon und erwartete, dass er mir Verwünschungen hinterher brüllte, oder zumindest auf Verzweiflung schrie. Er war still und litt leise unter seinem Verlust.

 

Nach unserer Begegnung bin ich ihm erst einmal nicht mehr begegnet. Er hatte die Stadt verlassen, aller Versuchung zum Trotz. Wyrd rappelte sich schnell wieder auf. Seine Seele hingegen litt noch lange – was meine Absicht gewesen war. Wir liefen uns des Öfteren über den Weg. Ich fädelte es so ein, dass es wie Zufälle aussah, und sorgte dafür, dass er in Angstschweiß ausbrach, sobald er mich sah. Sonst hielt ich mich bedeckt. Ich spürte, dass bald etwas passierte.

Während eines Ausfluges zu mehreren Ruinen einige dutzend Kilometer außerhalb der Stadt – beim Kampf um das Gemäuer vor Jahrhunderten war ich dabei gewesen – setzte er wieder seine Kräfte ein, als ein anderer Lichtfresser einen offenen Angriff auf ihn wagte. Währenddessen blieb ich im Hintergrund, wie auch zwei weitere Lichtfresser, mit denen ich schweigend konkurrierte und observierte, wann der perfekte Moment gekommen war, um einzugreifen. Der Kampf dauerte keine drei Minuten, bis der Vollidiot von Wyrd pulverisiert wurde. Ein Störenfried weniger. Leider war das Ergebnis enttäuschend. Wyrd hatte sich unter Kontrolle und hielt seine Mächte im Zaum. Da konnte man nichts machen.

Danach vergingen weitere Monate. Auf einem abseits gelegenen Gelände des Campus lauerte ich ihm auf. Hm. Auflauern ist das falsche Wort. Er eilte quer über den gepflasterten Hof, nur wenige andere Scholastiker waren dort, und als er die Mitte erreichte, schritt ich ihm von der anderen Seite entgegen. Für einen Bruchteil einer Sekunde hielt er inne, bevor er weiterging. Tapfer. Ich erinnere mich, wie anmutig er gewesen ist, obwohl er nicht der schönste Mensch war, der je geboren wurde. Es wunderte mich nicht, dass Mitschüler beider Geschlechter sich für ihn interessierten. Als wir aufeinandertrafen, blieb er stehen, während ich ignorant an ihm vorbeiging und ihn nicht beachtete. Seine Intuition war ungeschlagen.

„Ist es soweit?“, fragte er. Ich wandte mich um. Es wäre leichter für ihn gewesen, wenn er mich auch ignoriert hätte. Dann hätte ich mich umgedreht, ihn gepackt und er wäre in meinem Magen, noch bevor er gewusst hätte, wie ihm geschah. Doch er verlangte die harte Art und Weise.

„War nicht schwer zu erraten, oder?“, meinte ich spottend. „Wirst du dich wehren?“ Ich hegte die leise Hoffnung, dass er es uns beiden leicht machte.

„Wir haben keine Abmachung mehr. Außerdem hast du dich entschlossen, nicht mehr zu warten. Warum sollte ich mich also nicht wehren?“, fragte er patzig.

Ich nickte langsam. „Na, gut.“ Ich führte den ersten Schlag aus. Ich langweile nicht mit einer detaillierten Beschreibung unseres Kampfes. Kurz und knapp zerstörten wir den Hof und mehrere angrenzende Gebäude. Ein paar Leute starben, obwohl er mühsam versuchte, alle zu beschützen, was sein Schwachpunkt war. Sylk war ihm zur Heimat geworden. Naiverweise hatte ich geglaubt, dass er nach einer Weile schwächer wurde. Gewaltiger Fehler. Halb bewusstlos lag ich unter den Trümmern eines Turmes. Der Geruch von Blut einiger zerquetschter Leute, die mit mir begraben waren, holte mich in den Wachzustand zurück. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch mich derart düpierte!

Sobald ich mich hervor kämpfte, bemerkte ich Wyrd straucheln und in die Leere starren. Er verlor wieder die Kontrolle. Das war die Chance! Ich musste nur zu ihm gelangen und ihn verschlingen. Wenn nur meine Beine endlich gehorchten! Durch den Einsturz waren ein paar Pfeiler auf sie gefallen und hatten sie gebrochen. Das war nicht weiter tragisch, sie heilten innerhalb weniger Sekunden. Während ich darum kämpfte, aufzustehen, entschied ein anderer Lichtfresser, mir meine Mahlzeit zu stehlen. Der Kerl war aus Wyrds Unterricht, ich hatte ihn schon eine Weile im Verdacht gehabt, einer von uns zu sein. Wie war sein Name? Drayk? Ein Halbdrakonier. Und was lief da zwischen ihnen? Anstatt ihn zu beißen und zu fressen, was vor ihm war, redete er aufgeregt auf Wyrd ein. Der aber nahm keine Notiz von ihm. Erst als Drayk sich näherte und über dessen Schulter und Arm strich, zeigte Wyrd eine Reaktion. Sein Blick heftete sich an Drayk ... dann schlug er ihm den Kopf ab! Ich kenne Gewalt, Intrigen, Verrat und Hass. Das hier war keines davon, sondern purer Reflex. Drayks enthaupteter Körper fiel nach hinten um, sein Kopf flog einige Meter weit durch die Luft. Von irgendwoher vernahm ich einen hysterischen Schrei. Eine dieser blöden Huren, die Wyrd Freunde nannte.

Ich musste hier weg. Wie es aussah, schaffte ich es nicht mehr rechtzeitig zu ihm. Außerdem würde er mir genauso den Kopf abschlagen. Nur ungern gebe ich es zu, ich hatte echte Angst. Seit ich unsterblich war, habe ich das nicht mehr gespürt. Ich fürchtete mich davor, dass Wyrd sich nach mir umsah und einen Weg fand, meinen unsterblichen und unzerstörbaren Körper zu vernichten. Ich raffte mich auf und brüllte bei jedem Schritt. Ich knickte um und fiel hart auf den Boden. Sogar meine Arme waren gebrochen, sodass ich den Sturz nicht abfedern konnte. Der Schmerz war ungeheuerlich! Tausend Blitze und Nägel, die durch alle Gliedmaßen geschossen wurden! So schwer es fiel, ich musste warten, bis meine Beine sich von alleine gerichtet hatten, was noch fünfzehn bis dreißig Sekunden benötigte.

Knackend verwuchsen sie wieder miteinander, zähneknirschend wartete ich. Als ich zu Wyrd sah, stellte ich verwundert fest, dass er bewusstlos geworden war und sie eine Personentraube um ihn versammelt hatte. Es war sinnlos, zu warten, bis andere auf mich aufmerksam wurden. Ich musste weg. Denn wenn er doch noch aufwachte, jagte er die gesamte Stadt in die Luft. So schnell und unauffällig wie möglich verließ ich das zerstörte Gelände und eilte zu meiner Absteige, um mich dort ein paar Tage zurückzuziehen und zu erholen.

Doch in einer Nebenstraße auf dem Weg dorthin stellte sich Aatxe in meinen Weg. Uns beiden war sofort klar, wer von uns einen Kampf gewann. Gemächlich schritt er auf mich zu, während ich die Umgebung selektierte, um einen Fluchtweg auszumachen. „Du hast ihn nicht besiegt“, sagte er. „Ich wusste das. Niemand besiegt ihn.“

„Was willst du?!“, keifte ich und spuckte schwarzes Blut. „Willst du mich fertig machen? Versuch es!“

Aatxe schüttelte überlegen den Kopf. „Was bringt das? Du hast selbst gesagt, dass du nicht von unseresgleichen getötet werden kannst“, entgegnete er. Dann nickte er in die Richtung, aus der ich gekommen war. „Er, Wyrd, kann es. Das hat er eben eindrucksvoll bewiesen.“

Er war fast bei mir. Wenn er näher kam, biss ich ihm den Kopf ab wie Dyaus zuvor. Stattdessen durchfuhr mich ein lähmender Stich und ich wäre zu Boden gefallen, wäre Aatxe nicht sofort zur Stelle gewesen, um mich aufzufangen. Ich stierte ihn bösartig an, unfähig, mich gegen ihn zu wehren. Es war erniedrigend, dass der, den ich einst Schüler und Diener nannte, jetzt mich – seinen Herrn und Meister – stützte!

„Du musst dich ausruhen“, sagte Aatxe. „Ich bringe dich nach Hause.“

„Verpiss dich! Das schaffe ich alleine.“

„Nein“, erwiderte er und schüttelte den Kopf. „Nicht da hin. Ich meine unser zu Hause. Ich nehme dich mit.“

Ich sah ihn einen Moment abschätzig an, er erwiderte meinen Blick. „Dieses zu Hause gibt es nicht mehr“, sagte ich. „Du hast es zerstört, als du mich verlassen und fortgegangen bist.“

„Dann lass es uns neu aufbauen“, schlug er vor.

Interessant, wie sich der schreckliche Aatxe zu meinem Schüler von damals zurückverwandelte. So war er schon seit jeher gewesen. Er brauchte einen Partner, egal ob er ihn Meister oder Schüler nannte.

„Du weißt, dass ich dich töte, wenn die Zeit reif ist“, sagte ich zu meinem eigenen Missfallen. Einen Schüler zu beseitigen tat weh. „Ich vergebe keinen Verrat. Du hast mich verraten.“

„Das ist mir bewusst“, grollte er. „Trotzdem ...“

Ich hustete und spuckte Blut aus. „Lass uns gehen“, sagte ich mies gelaunt.

 

Wir verließen Sylk. Wyrd sah ich erst über ein Jahr später wieder. Ich greife vor. Zurück zu Aatxe, der mich versorgte und wieder zu meinem kleinen Schüler geworden war. Es brauchte deutlich länger als erwartet, bis ich mich regenerierte. Aus wenigen Tagen wurden Wochen, dann Monate. Wyrd hatte meinen Körper zermalmt und auf eine Weise manipuliert, die ich nicht hatte absehen können. Ich hatte vorher nie mit seinesgleichen gekämpft, sondern nur gefressen. Aatxe suchte mir Opfer, die er betörte und zu mir führte, damit ich sie verschlang. Dabei observierte er mich immerzu intensiv, bis mir klar wurde, warum.

Er sehnte sich nach dem endgültigen Tod. Demselben, den auch Minos erlebt hatte. Er liebte ihn sogar über dessen Tod hinaus. Mehr als er mich je geliebt hatte. Das war der einzige Grund, weshalb er war, wie er war, und mich umsorgte. Wenn er mich liebte, dann nur aus seinem Wunsch heraus, bald den Tod zu finden. Ich sprach das nicht an. Stattdessen schwelgte ich in Erinnerungen zurück in die Zeit, als er und ich, Meister und Schüler, fast fünfhundert Jahre lang unsere alte Heimat, Epiphainia, terrorisierten. Wir waren durch geschickte Intrigen und Verschwörungen sogar zu den engsten Beratern der letzten Herrscher geworden. Dorthin, oder eher dem, was davon übrig war, war Aatxe mit mir unterwegs.

Wie damals las er die Gedanken von meinem Gesicht ab und fragte: „Was ist damals passiert, nachdem ich gegangen bin?“

Ich grummelte in mich hinein und schwieg die nächsten Tage. Doch was nützte es? Es war unbedeutend. „Nachdem du fort warst“, setzte ich eines Abends an, „fühlte ich mich verraten. Aber das weißt du ja schon. Das, was wir uns als zu Hause aufgebaut hatten, war keins mehr. Ich fühlte mich unwohler und verlassener denn je. Ich nahm einen neuen Schüler zu mir. Er war wissbegierig, aber eben nicht so wie du. Ich spürte ein größer werdendes Loch in mir.“ Ich unterbrach mich und lachte in mich hinein. Wie ironisch. Aatxe hörte zu. „Fünfzig Jahre. So lange dauerte es, bis ich die Geduld verlor, meinem neuen Schüler den Kopf abbiss, dann allen aus der Herrscherfamilie. Es gab keinen Erben auf den Thron mehr, die Berater zerstritten sich untereinander, woran ich kräftig mitgewirkt hatte. Ich streute eine Prise Misstrauen hier, ein bisschen Neid da, schon war Anarchie im Land, die alles vernichtete. Ich wollte jede Erinnerung an dich tilgen, weil du mich tief verletzt hast.“

Nachdem zu Ende gesprochen, schlug er die Augen nieder und sagte: „Ich habe immer gewusst, dass du etwas damit zu tun gehabt hattest. Wir haben ein Imperium errichtet. Imperien verschwinden nicht in so kurzer Zeit. Aber, unsere gesamte Heimat ...“ Aus seinem Blick sprühte eine gewisse Verwunderung darüber.

„Das hättest du mir nicht zugetraut, oder?“, grinste ich grimmig. „Dabei lag es mir fern, meine Heimat zu zerstören. Ich habe versucht, dich zu verletzen, weil ich deine zerstörte. Schließlich habe ich dich damals dort aufgegriffen.“

„Das Epiphainia, in dem ich aufgewachsen bin, war ein völlig anderes, als zu dem Zeitpunkt, als ich dich verließ. Es war nur ein verkommenes Abbild eines einst glorreichen Reiches. Und ich trug Mitschuld daran.“

„Bist du deshalb gegangen?“, fragte ich geradeheraus. Wie zu erwarten, ließ er sich mit der Antwort Zeit. Das war nichts Ungewöhnliches zwischen uns. Als er noch mein Partner war, hatte es Phasen gegeben, in denen wir Jahre nicht miteinander sprachen, weil wir über eine Frage und eine Antwort nachdachten. Zwei Wochen vergingen, in denen wir nicht miteinander redeten. Als wir den Grenzen unserer Heimat näherkamen, fühlte ich mich mit jedem Tag kräftiger. Zumindest jagte ich mir wieder selbstständig meine Opfer.

„Ich habe das Reich verlassen, weil ich die Welt sehen wollte“, antwortete Aatxe, als ich dabei war, eine Leonidin in meinen Schlund zu pressen. Sie kreischte und brüllte verzweifelt, was ihr überhaupt nichts brachte. Meine Kiefer knallten zu, ich schluckte einmal geräuschvoll und sie war fort. Ich ignorierte ihn und stampfte an ihm vorbei, während ich meine Zähne ableckte, die voll mit Leonidenhaaren waren. In einem verlassenen Wirtshaus kamen wir unter. Dort setzte ich mich in die dunkelste Ecke, in die kein Mondlicht hinein schien. „Es wird schwerer, Menschen zu finden“, sagte ich. „Jetzt muss ich schon Fellviecher essen, um über die Runden zu kommen.“

„Fünfhundert Jahre lang habe ich nur das Reich gesehen. Nie etwas anderes. Ich -“

„Halt die Klappe!“, fuhr ich ihn an. „Ich will nicht mehr wissen, wieso und warum. Du hast es getan und mich verraten. Eleusyos verrät man nicht, du dämliches Rind! Dafür werde ich dir den Kopf abbeißen. Ich weiß ja, dass du das willst.“

Aatxe wirkte verunsichert. Ein Außenstehender oder Sterblicher hätte das nicht bemerkt, aber ein Lichtfresser wie ich erkennt kleinste Unterschiede in Mimik, Gestik und Intonation. „Du weißt es?“, fragte er.

„Hältst du mich für blind?“, entgegnete ich. So wie damals wagte er es, mich zu unterschätzen, dieser Narr.

„Wohl kaum“, stellte Aatxe fest. „Ich hatte dennoch gehofft, es vor dir zu verbergen. Dann hättest du mich schon längst -“

„Du kannst nichts vor mir verbergen, und das weißt du auch. Wenn du glaubst, dass ich dich auseinandernehme, nur weil du es gerade erwähnt hast, wirst du lange warten.“ Er fing allmählich an, mir auf die Nerven zu gehen. Quatschte er noch weiter, stopfte ich ihm bald das Maul. Zum Glück bemerkte er meine Ungeduld und hielt den Rand.

Wir erreichten Epiphainia. Wohlgefallen empfand ich nicht dabei, die Ruinen der ehemaligen Hauptstadt zu besuchen. Anders als Aatxe, der an fast jedem Gebäude stehenblieb und in Erinnerungen verharrte. Mir fehlte der Sinn dazu. Bevor ich abschweife: Wir lebten eineinhalb Monate im Gebiet des vergangenen Imperiums. Ich ließ ihn leiden, indem ich ihm ein ums andere Mal den Tod androhte, ihm den aber stets am Ende verwehrte. Wie habe ich seine verzweifelten Anflehungen geliebt!

Es war eine Laune, als ich spontan entschied, mich von hinten an ihn heranzuschleichen und ihm dann doch den Kopf abzubeißen. Schwarzes Blut spritzte aus dem zerfetzten Halsstumpf und übergoss mich, bevor sein Körper zu Seite umfiel, etwas zuckte und dann zur Ruhe kam. Ich glaubte, ein leises Danke gehört zu haben. Ich schob seinen abgetrennten Kopf ein wenig in meinem Maul hin und her, kaute darauf herum und untersuchte mit der Zunge die entstandenen Löcher im Schädel. Dann kaute ich weiter, bis er aufbrach und sich die Gehirnmasse in meinem Rachen verteilte. Dann spuckte ich ihn wieder aus.

„Dachtest du, dass ich nachgebe?“, brüllte ich zornig. „Dass ich deinen Scheißkopf herunterwürge? Nein! Du wirst für immer von Dyaus getrennt sein! Hörst du mich?“ Aatxe war tot, aber seine Präsenz war anwesend und verflüchtigte sich nur langsam. Er hörte jedes Wort. „Deine Seele soll ruhelos umherwandern. Für immer!“, beschwor ich lachend. „Dyaus aber wird in mir gefangen sein.“ Breit grinsend rieb ich meinen Bauch und verließ Epiphainia. Seine Präsenz begehrte auf und leuchtete taghell, wurde aber am Ende von einer Brise im Wind davongetragen. Aatxe, der größte aller Lichtfresser neben mir, war fort.

 

Ich nahm den kürzesten Weg zurück nach Sylk. Auf halber Strecke aber bemerkte ich, dass Wyrd nicht mehr dort war. Dennoch entschied ich mich, in die Stadt zurückzukehren. Wo er auch hingegangen war, er kam zurück. So waren Menschen. Sie besuchten wichtige Orte ihres Lebens mindestens zweimal. Irgendwann sehnte er sich nach seiner Heimat jenseits des Meeres. Dorthin gelangte er nur über Sylk. Als ich die Straße der Stadt durchschritt, war die Atmosphäre frei, ich war derzeit der einzige Lichtfresser weit und breit. Alle anderen waren gegangen.

Ich wartete ein ganzes Jahr, bis ich eine Veränderung in der Luft wahrnahm. Wyrd kam. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte und wo er sich aufhielt, aber er näherte sich mit jedem Tag der Stadt. Es vergingen weitere vier Monate, bis er das Haupttor seiner Schule passierte, wo ich bereits auf ihn wartete. Keine Überraschung, kein Misstrauen, keine Angst sprach aus ihm. Eine Narbe zierte seinen Hals, die vorher nicht da war und ihn erwachsener aussehen ließ.

„Ich habe dich gesucht“, sagte er, ohne mich zu begrüßen. „Überall. Einmal habe ich dabei fast das Land zerstört.“ Er ging an mir vorbei, ich folgte ihm. Zusammen schlenderten wir durch die streng symmetrisch angelegten Gärten. Einige, die uns begegneten und von früher erkannten, starrten uns an und hinterher.

„Gilt unsere Abmachung noch?“, fragte er.

Ich lachte sarkastisch auf. „Vergiss es. Die ist geplatzt.“

„Gut“, sagte er. „Hier eine Neue. Heute Abend um halb zwölf treffen wir uns in der Gasse deiner alten Wohnung. Dort wirst du mich verschlingen.“

Zuerst war ich skeptisch. Die Intonation seiner Worte sowie Wyrds Miene überzeugten mich dennoch, dass er es ernst meinte. Keine Tricks, mit denen er sich herausredete.

So blieb es also. Trotzdem wartete ich ungeduldig den ganzen Tag und hielt mich selbst davon ab, nicht loszustürmen, ihn zu suchen und vor der Zeit zu fressen. Währenddessen versammelten sich in den Schatten andere Lichtfresser, die mich belauerten. Zur verabredeten Zeit erschien Wyrd. Er blieb am Ende der Straße stehen und ich glaubte einen Moment, dass er sich anders entschied und wegrannte. Stattdessen entkleidete er sich und präsentierte sich nackt vor mir. Die anderen betrachteten uns aufmerksam, keiner wagte, sich einzumischen oder ihn anzugreifen. Sie wussten, warum. Ich kniete nieder und streichelte über seine Haut.

„Letzte Worte?“

Er sah mich fest an – solche traurigen Augen hatte ich noch nie gesehen – und antwortete: „Genieß mich.“

Knurrend packte ich ihn, öffnete klaffend mein groß und größer werdendes Maul und schob ihn hinein, leckte mit der Zunge seinen Körper feucht, ergötzte mich an dem Geschmack, und verschlang ihn. Die Wirkung stellte sich sofort ein. Ich. War. Satt! Zum letzten Mal hatte ich Sättigung gespürt, als ich sterblich gewesen war. Endlich war er in mir! Endlich hatte ich ihn getilgt! Einen Gloandi, einen Ewigen! Ich würde nie mehr Hunger haben. Die lange Suche nach dem leckeren Licht war vorbei.

Die anderen Lichtfresser sprangen aus ihren Verstecken hervor und forderten, dass ich Wyrd ausspuckte, damit sie ihren Teil erhielten, weil sie so lange gewartet hatten. Ich ließ sie kaum ausreden, als ich den Ersten erwischte und zerfetzte. Keinen ließ ich am Leben, sie sollten mir bei meinem Triumph nicht in die Quere kommen. Mein Körper erhielt einen Kraftschub von unvergleichlicher Macht. Ich hätte die Welt mit einem Hieb vernichten können. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, was in dem Menschenkind geschlummert hat.

Die nächsten Jahre und Jahrzehnte wurden die erfülltesten meiner Existenz.

 

Aber – ja, es gibt immer ein aber, nicht wahr? – Wyrd hatte mich gelinkt. Diese Made! Nachdem verschlungen, verging sein Körper, wurde von mir verdaut und aufgenommen. Doch ohne dass ich es bemerkte, erstand er von neuem und wuchs heran. Als ich verstand, dass er sich parasitär von mir ernährte, war es zu spät. Ich war schwach und hilflos geworden, während er gedieh und auf seine Wiedergeburt wartete.

Unter Schmerzen würgte und spuckte ich schwarzes Blut. Als das nichts mehr half, griff ich mir in den eigenen Rachen, bis in meinen Bauch, suchte, bekam ihn zu fassen und zog ihn abrupt hervor. Er sah ... genauso aus wie damals, als ich ihn aufgefressen hatte! Schockiert brach ich zusammen, während er vor mir kauerte. Es war zu spät, ich lag im Sterben. Ich! Ein Unsterblicher! Wie ironisch.

„Was - hast du – mit mir ... gemacht?“, fragte ich zornig mit letzter Kraft. Wyrd sah sich verwirrt um, bis sein Blick klar wurde. Er setzte sich aufrecht und rieb meinen dickflüssigen Geifer und Speichel von seiner Haut. Als er mich ansah und wiedererkannte, grinste er mich an und sagte: „Du bist voll drauf reingefallen.“

Ich verlor das Bewusstsein und starb mit Hass auf die Welt im Herzen.