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Achter Abschnitt "Ânsgar"


Ânsgar

Er konsumierte. Er nahm auf, er sammelte. So war es, seit er denken konnte. Er ... fraß. Alles und jeden. Um zu füllen, was sich nicht füllen ließ. Er war immer lebensfroh gewesen, mutig, energisch, übergriffig, gewalttätig. So viele hatte er in sich aufgenommen. Er war einmal etwas anderes gewesen, an das er sich nicht mehr erinnerte. Aber nachdem er all die Lebewesen konsumiert hatte, hatte er sich verändert, äußerlich wie im Innern. Drei Stimmen, ein Geist. Er hatte ein gutes, volles Leben gelebt, in dem er niemals Hunger litt. Aber eins hatte ihm gefehlt. Erfüllung. Oder Ausfüllung. Er wusste, wie man es nannte oder was das bedeutete. Denn es waren nur Worte, die er mit verstreichender Zeit weniger und weniger verstanden hatte. Er suchte nach etwas, das ihn erfüllte. Ein Teil von ihm, der seit seiner Geburt nicht da war. Als wäre er ihm abhandengekommen. Eine weise Frau hatte ihm vor vielen Jahren, als er noch nicht so war wie jetzt, und keine drei Köpfe besaß, von Seelenspaltung gesprochen. Er war ein Teil einer Seele, der auf der Suche nach dem anderen Teil war. Er hatte die Frau gegessen, weil er gehofft hatte, dass sie der verschollene Seelenteil war. Vergebens.

„Du willst mich also zu ihm bringen?“, fragte er den überheblichen Werwolf, dessen Augen weiß geworden starrten, seit sie vor zwei Wochen zuerst aufeinandergetroffen waren. „Ausgerechnet du willst mich zu dem bringen, der zu mir gehört, damit ich endlich vollkommen werde?“ Der Werwolf grinste ihn übertrieben breit an und neigte seinen Kopf unnatürlich wie ein Dämon. Er nickte selbstbewusst und antwortete: „Das werde ich, Ânsgar. Ob du zustimmst, oder nicht.“ Er schmunzelte. Er mochte Wulfiga. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er ihm ähnlich gewesen. Arrogant hatte er sich für etwas Besseres gehalten. So empfand er heute noch, obwohl er es nicht mehr offen zeigte und andere neben sich anerkannte. Daneben war er einer, der fraß und nicht gefressen wurde. So wie er selbst. Einer, der nahm, aus Spaß Schmerzen zufügte, mit einem echten Herz der Finsternis in der Brust. Besser eines haben, anstatt keins zu besitzen.

„Wo ist er?“, fragte Ânsgar und betrachtete ihn mit seinen Köpfen. Es waren drei. Ein Wendigo, ein Liger und ein Lindwurm. Manche sahen in Letzterem einen Drachenkopf, weil es in ihrer Sprache kein Wort für Lindwurm gab. Vor langer Zeit hatte er sie gegessen und sich einverleibt. Danach sind ihm ihre Köpfe auf den Schultern gewachsen. Weil sein ursprünglicher Kopf - dieses widerliche Ding - nicht mehr passte, hatte er ihn sich mit den drei anderen abgebissen. Danach war er als Instinktwesen durch die Welt gestreift, weil seine neuen Köpfe nicht die Intelligenz des alten besessen hatten. Jeder von ihnen nahm einen anderen Teil des Farbspektrums wahr. Der Wendigo-Kopf darüber hinaus Auren, die ihm verrieten, wenn ihn jemand anlog. Wulfiga log nicht. „Unwichtig“, antwortete der. „Selbst wenn ich es dir sage, schaffst du es nicht mehr zu ihm. Deine Verletzung ist tief. Dich kann keiner mehr retten. Ich biete dir eine Lösung.“ Ânsgar lachte. „Du hast sie bemerkt? Schlaues Hündchen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du sie hättest verhindern können.“ Wulfiga zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Anders geht es nicht. Ich kann dich nicht zu ihm lassen, weil du sonst alles durcheinanderbringst, was ich vorbereite.“ Ânsgar fixierte ihn mit sechs Augen und grollte. „Ich bin todgeweiht, aber nicht tot. Genug Kraft, um dich zu erledigen und zu fressen, habe ich noch.“ Wulfiga lachte ihn aus. „Dann wirst du einsam sterben. Ohne den Teil von dir, den du suchst. Das willst du nicht.“ Er schnippte mit zwei Krallen. „Ich bin deine einzige Rettung, ihm zu begegnen.“ Jetzt war es Ânsgar, der mit aufgerissenen Mäulern lachte, was Wulfiga nicht gefiel, er die Ohren anlegte und knurrte. „Wenn du mich nicht mitnimmst - wie du das auch immer anstellen wirst - ist dein Plan zunichte. Du hast es selbst eben gesagt!“

Mit seinem Lindwurmkopf sah er sich um, um einen Vorteil zu suchen, wenn es zum Kampf kam, der unausweichlich bevorstand. Sie waren in einem verlassenen Dorf, das früher einmal belebt war, bevor er hergekommen war. Er hatte die Bewohner entweder verjagt oder gegessen. Die meisten, die geblieben waren, hatten sich ihm irgendwann freiwillig geopfert. Er wusste schon immer andere zu manipulieren. Zu dem Zeitpunkt hatte er keine Ahnung, wonach er suchte und fraß alle, die in seiner Nähe waren, ohne Unterschied auf. Nachdem das kleine Dorf entvölkert war, hatte er sich niedergelassen und von hier aus weitergesucht. Mittlerweile war das anders. Mit jedem, den er konsumierte, wuchs das Verständnis und Gefühl dafür, wer zu ihm passte, wer ihn weiterbrachte. Bald hatte er begriffen, dass er den fehlenden Teil in sich nur fand, wenn er gezielte Schritte verfolgte. Er musste die Teile eines komplizierten Schlüssels finden und zusammensetzen, um die Tür zu öffnen. Er hatte es fast geschafft, obwohl nicht so, wie er es erwartet hatte. Wulfiga war der letzte Schritt für ihn. Das finale Stück des Schlüssels, das nicht fehlte. „Großspuriger Idiot, dir werde ich was beibringen“, rumorte Wulfiga verächtlich. „Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast.“ Ânsgar verschränkte die Arme, seine tödliche Verletzung tat nicht weh, aber er verlor unaufhaltsamen Blut. „Besser als du glaubst, Wolf. Ich bin deine Nemesis. Trotzdem erreichen wir nur gemeinsam unsere Ziele. Ich werde es dir nicht leicht machen.“ Wulfiga stob auf ihn los, sprang und zückte dabei seine Klauen, riss das Maul gefährlich auf und fletschte die Reißzähne. Zu offensichtlich, wie billig. Ânsgar duckte sich leicht, sodass Wulfiga über ihn hinwegflog und ihn selbst mit wütend hin und her hauenden Klauen nicht erreichte. Dafür erwischte Ânsgar ihn, indem er hinter ihm her hechtete und in den Rücken trat, als Wulfiga auf dem Boden mehrere Meter entfernt aufkam. Der jaulte und bellte zürnend, war schnell wie eine Spinne auf acht Beinen. Bewegte sich unnatürlich und widerlich. Er sprang Ânsgar erneut an, der erneut auswich, aber nicht schnell genug. Wulfiga erwischte ihn an der linken Schulter, krallte sich fest und manövrierte sich durch den Schwung auf Ânsgars Rücken. Alle seine Köpfe zischten, grollten und kreischten, er griff hinter sich, um ihn zu erwischen. Aber Wulfiga hatte sich wie ein Affe an ihn geklammert, die Beine um seine Taille, die Arme um Brust und Schulter. Die Klauen rammte er in Ânsgars Fleisch hinein, der blökte und versuchte, ihn verzweifelt mit rückwärtigen Hieben loszuwerden. Wulfiga lachte bellend auf, wurde still und sagte dumpf: „Da sind ein paar alte Narben. Komm, lass mich sie wieder öffnen!“ Er ließ mit den Beinen los, stemmte die Hinterläufe in Ânsgars Rücken und drückte sich von ihm fort. Durch die Zugwirkung schnitten durch Krallen durch sein Fleisch. Ânsgar riss die Köpfe in die Höhe und brüllte auf. Der Schall war in vielen Kilometern Entfernung zu hören und versetzte alle in Angst, die ihn wahrnahmen. Blut spritzte umher auf den verwaisten Dorfweg und die Pflanzen, die die alten Häuser vereinnahmten. Es waren nur Fleischwunden. Nicht tief, bloß schmerzhaft. Bevor Wulfiga außer Reichweite war, fuhr Ânsgar herum und packte den überraschten Werwolf an Hals und Arm, der erschrocken aufschrie. Er hielt ihn fest und rannte mit ihm voraus gegen die Mauer des am nächsten gelegenen leeren Hauses, die brach und sie sich in einem zu kleinen Raum für sie beide wiederfanden. Ânsgar ließ nicht von Wulfiga ab, wirbelte ihn herum gegen einen im Raum freistehenden Balken aus massivem Holz, der splitterte, zerbarst und krachend durchbrach. Danach durch die nächste Wand. Dann durch noch eine, und noch eine. Er wollte sicher gehen, dass Wulfiga mit vielen Kopfschmerzen und Narben den Kampf verließ. Das Hausdach über ihnen stürzte in sich zusammen und begrub sie beide.

Für ein paar Augenblicke herrschte Stille. Aufgewirbelter Staub vernebelte die Luft und wurde von einer leichten Brise langsam davongetragen. Sowohl Ânsgar als auch Wulfiga befreiten sich vom Schutt, rappelten sich auf und standen einander wieder gegenüber. Wulfiga blutete aus einem Ohr und aus der Schnauze. Ânsgar aus den aufgerissenen Narben und seiner tödlichen Verletzung. Er strauchelte kurz, stellte die Beine breit und stand wieder sicher. Ihm war leicht schwindelig. Nicht mehr lange und er kippte um. Wulfiga war gewieft, er fügte ihm Wunden zu, um den Blutverlust zu erhöhen und ihn schneller außer Gefecht zu setzen. Ânsgar hätte genausogut aufgeben können, einen Unterschied machte es nicht. Aber seine Natur ließ es nicht zu. Sich von einem wie ihm fertigmachen zu lassen war nicht drin. Das Leben hatte ihm so viele Hindernisse vorgesetzt, warum sollten andere es leichter haben als er? Er schielte zu Wulfiga und grinste ihn an. So gekämpft hatte er schon seit langem nicht mehr. Er gab es nicht gerne zu, aber er war alt geworden. Er stöhnte, als er sich Wulfiga frontal zuwandte und die von ihm aufgerissenen Narben feurig schmerzten. Wulfigas Miene war nicht mehr zu deuten und glich der eines wilden Tieres, dass keine Gesichtsausdrücke kannte. So so, er hatte den Instinkten die Kontrolle überlassen. Das war schlau. Seine Schmerzgrenze war dadurch deutlich höher, die Aggressivität gesteigert, Angst verringert. Ânsgar hatte es, streng genommen, nicht mehr mit Wulfiga zu tun.

Der beugte sich vor, rammte seine Klauen in den Schutt unter ihm und hetzte auf Ânsgar zu, der diesmal anders vorging, und sich ihm stellte. Statt auszuweichen, hielt er ihm die Pranken entgegen. Kurz bevor Wulfiga ihn erreichte - die Distanz zwischen ihnen lag ohnehin nur bei etwa neun Metern - stellte er sich wieder auf. Ihrer beider Krallen verfingen sich ineinander und sie stemmten sich gegen den anderen. Wulfiga war etwas kleiner als Ânsgar, aber sie waren gleich stark. Ihre Lefzen zitterten angestrengt und sie zeigten sich gegenseitig ihre Zähne, als sie versuchten, den anderen zurückzudrängen. Wulfiga schritt grollend vorwärts, Ânsgar rutschte über den Schutt. Zwar versuchte er entgegenzuhalten, schaffte es aber nicht. Abrupt ließ er deshalb von ihrem Ringen ab und riskierte, weitere Verletzungen von dem verrückten Wolf zu erhalten. Der prallte überrascht gegen ihn. Darauf hatte er gewartet. Mit allen drei Köpfen biss er zu. Der Lindwurmkopf erwischte Wulfigas Arm, der Wendigo die Schulter. Das Ligermaul stülpte er über dessen Schnauze, die tief in seinen Rachen geriet, was aussah, als wollte er ihn küssen. Oder auffressen. Sein Ziel war, ihn zu blockieren, damit er nicht seinerseits zubiss. Ânsgar revanchierte sich für die alten, neuen Narben und schlitzte Wulfigas Haut und Fleisch an beiden Armen, der Elle und an der Brust auf. Dazu kamen die Verletzungen, die er erhielt, weil er den Kopf hin und her wandte und sich an Ânsgars Zähnen selbst verletzte. Wenn er ihn ein bisschen tiefer zwischen seine Kiefer bekam, biss er zu und zertrümmerte ihm den Schädel. Doch Wulfiga wehrte sich, drehte die Schnauze hin und her, öffnete seine eigenen Kiefer und erwischte Ânsgars Zunge, in die er fest hineinbiss. Der zuckte zurück, ließ mit allen Köpfen von Wulfiga ab und stieß in von sich. Kaum danach schmeckte er Blut und er sah mit den anderen beiden Köpfen, wie die Zunge leblos und rot aus dem Ligermaul heraushing. Wulfiga hatte sie ihn zum Teil herausgerissen. Ânsgars Sicht verschwamm leicht, er schüttelte die Köpfe. Während er Wulfiga festgehalten hatte, hatte der seine Verletzung mit der linken Klaue erwischt und weiter aufgerissen. Sein Blut lief ihm in einem dicken Rinnsal von seiner Hüfte über das rechte Bein hinab auf den Boden. Überall, wo er auftrat, hinterließ er einen Abdruck. Dafür hatte er ihm ein paar feine Verletzungen zugefügt. Obwohl er verlor, war Wulfiga dadurch nicht außer Gefahr. Der Speichel seines Lindwurmkopfes war giftig, sobald es in den Kreislauf geriet. Ob sein Opfer starb, oder nur für eine Weile gelähmt wurde, hing von der Menge des Giftes und von der Körpergröße des Vergifteten ab. Wulfiga überlebte es, da war er sich sicher. Trotzdem war er bald außer Gefecht. Fünf bis zehn Minuten, dann setzte die Wirkung ein und er lag für mindestens einen Tag bewegungslos da, während er schlimmste Krämpfe erlitt. Ânsgar grinste und bedauerte, das nicht mehr sehen zu dürfen. Der aufgeblasenen Fellrute hätte er gerne beim Leiden zugesehen. Aber länger als ein paar Minuten blieb er nicht mehr bei Bewusstsein.

Wulfiga stellte sich aufrecht und streng gerade auf wie eine Säule, verschränkte überheblich die Arme und verhöhnte ihn. „Du keuchst wie ein alter Mann“, sagte er. „Du hast hunderte und tausende Personen verschlungen, und das ist dann alles?“ Er hatte kaum den Satz beendet, als ihn ein Brocken Gestein des zusammengefallenen Hauses im Gesicht traf, er aufjaulte und seine Schnauze hielt. Ânsgar verlor keine Zeit, stürmte vor und benutzte die drei Köpfe als Rammbock, mit denen er ihn mittig in der Bauchgegend traf. Wulfiga prustete die Luft aus, bis Ânsgar abrupt stehen blieb. Durch den Stoß wäre er ein paar Meter weitergeflogen, doch packte Ânsgar ihn am Gelenk seines Hinterlaufs, nutzte die Schwungkraft, durch die er ihn einmal um sich selbst wirbelte, dann über seine Schulter hievte und frontal mit Gesicht auf den Boden schlug. Zwar federte Wulfiga den Aufprall mit ausgestreckten Armen ab, aber verhinderte er ihn nicht. Um sicher zu gehen, schlug Ânsgar nochmal mit der Faust auf dessen Kopf, bis er in den Boden gerammt war. Danach sprang er in einem weiten Satz davon, weil er nicht wusste, ob sich Wulfiga sofort wehrte. Er strauchelte, das Blickfeld seines Wendigokopfes verengte und wurde trüb. Der Ligerkopf hatte mit der schmerzenden, gerissenen Zunge zu kämpfen, und röchelte. Dem Lindwurmkopf war schwindelig. Ândgar musste dem Werwolf zugestehen, dass er zäh und unberechenbar im Kampf war. Er vollführte Bewegungen, die Ânsgar nicht kannte und ihm nicht zugetraut hätte. Dass er ihn mit einer Spinne verglich, kam nicht von Ungefähr. Wulfiga bewegte sich abrupt und unerwartet in absurder Schnelligkeit - wie eine Arachne.

Für einen Moment blieb Wulfiga im Boden stecken und spielte tot. Dann stemmte er sich mit den Armen ab und stand in aller Ruhe auf. Mit dem Rücken zu Ânsgar streckte er sich, bevor er sich umdrehte und ihn angrinste. Einer seiner Reißzähne war gebrochen. Er fuhr mit der Zunge darüber und knurrte, klemmte den Rest des Zahnes mit zwei Fingern ein - und riss ihn sich knackend aus dem Oberkiefer. „Dein Gift fängt an zu wirken“, sagte er und überraschte Ânsgar, der die Augenbrauen hochzog. Er spuckte Blut aus. „Ein paar Momente noch, dann kannst du mich erledigen. Aber willst du nicht endlich aufgeben und mir freiwillig folgen? Du verlierst ohnehin“, erklärte Wulfiga und gab ihm eine letzte Möglichkeit. Ânsgar schüttelte kraftlos mit den Köpfen. Nein, das wollte er nicht. Das wäre ungerecht gegenüber all seinen Opfern gewesen, die sich - selbst wenn sie willig waren - mit aller Kraft zum Schluss gewehrt hatten, bevor er sie in eins seiner Mäuler gestopft hatte. Um sie zu ehren, musste er bis zum Schluss standhalten. Das war das Mindeste. Wulfiga sagte nichts mehr. Jedes Wort wäre ihrem Kampf unwürdig gewesen. Stattdessen griff er erneut frontal am. Lernte der Junge es nie? Er machte sich bereit und spannte die Muskeln an. Wulfiga zückte seine Krallen und fletschte die Zähne. Ânsgar holte zu einem Gegenschlag mit der rechten Pranke aus. Erwischte er ihn, war Wulfiga erledigt. Im letzten Moment bevor der ihn erreichte - ließ er sich fallen! Nicht, um von unten anzugreifen, sondern als hätte Ânsgar ihn bereits geschlagen. Was sollte das? Eine Sekunde später wurde ihm klar, dass er auf einen Trick reingefallen war. Aus Irritation brach er seinen Hieb ab und schlug nicht zu, was genau die Reaktion war, mit der Wulfiga gerechnet hatte. Er wand sich auf dem Boden auf alle vier Gliedmaßen und bewegte sich wieder wie eine Spinne auf ihn zu, sodass er nicht mehr rechtzeitig dagegen reagierte. Wäre er im Vollbesitz seiner Kraft gewesen und hätte einen klaren Kopf gehabt, wäre ihm das nicht passiert. Wulfiga fiel ihn an. Mit den Armen umgriff er den Wendigo- und den Lindwurmkopf und brach beiden das Genick. Es schmerzte nicht einmal mehr, sondern war eher wie ein kurzer, aber heftiger Blitz, der deinen Körper durchfuhr. Mit dem Ligerkopf brüllte Ânsgar auf, wodurch er seine Kehle entblößte, in der sich Wulfiga sofort verbiss und knurrend alle Beißkraft einsetzte. Zwei weitere Sekunden und er ließ von ihm ab. Er hatte Ânsgars Kehlkopf herausgebissen, den Hals völlig zerfetzt, aus der durchtrennten Halsschlagader schoss das Blut im Strahl hervor und spritzte in Wulfigas Gesicht, sodass der kurz geblendet wurde. Mit letzter Kraft hieb er zu und erwischte ihn. Wulfiga jaulte auf, aber er war nicht tief genug gekommen, um ihm gleichsam den Hals zu durchtrennen. Ânsgar fiel um wie ein Baum, der gefällt wurde. Aus Reflex und aus Angst drückte er auf die zweite tödliche Verletzung, röchelte und gurgelte und rollte auf dem Boden. Er hatte sich damit abgefunden zu sterben. Aber nicht so! Das war seiner Fähigkeiten nicht würdig! Warum hatte Wulfiga ihn nicht anders ...? Angst, Angst, Angst überflutete seine Gedanken. So viel Angst! Die Angst aller, die er gejagt, erwählt oder vorbereitet, und schlussendlich gegessen hatte. Sie rächten sich an ihm, indem sie ihn all ihre Furcht und Verzweiflung spüren ließen. Panisch strengte er sich an, wieder auf die Beine zu kommen, stolperte zweimal, dreimal, bis er die Kraft ihn verließ. Er bekam keine Luft mehr, seine Lungen füllten sich mit Blut. Japsend und gluckernd lag er da und wartete auf sein Ende. So viel Dunkelheit, so viel Angst. Er war allein. Hatte nicht den gefunden, der bedingungslos zu ihm gehörte.

Das hätte sein letzter Gedanke sein können. Da trat Wulfiga in sein schwindendes Blickfeld ein und alles wurde hell, die wenigen Farben intensivierten. Er kam zu ihm und kniete kraftlos, beugte sich vor und sah ihn mit dem verrückten Grinsen an und den hellweiß veränderten Augen an. „Du bist der Beste von allen, die ich mitnehme“, sagte er. „Erinnerst du dich, wie wir uns kennenlernten?“ Was sollte die Frage? Das war erst zwei Wochen her. „Konzentrier dich darauf und geh zurück.“ Während er das sagte, bemerkte Ânsgar im enger werdenden Blickwinkel, wie Wulfiga etwas blutiges hervorholte. Zuerst dachte er, es sei dessen geballte Faust. Doch öffnete Wulfiga das Maul und stopfte es in sich hinein. War das - Ânsgars Herz? „Geh zurück“, sagte der Werwolf und brach dann selbst unter Krämpfen zusammen. Sein Gift, es wirkte. Ânsgar entschied sich, zurückzugehen.

 

Die letzte Jagd war eine wie jede andere gewesen. Nichts Ausgefallenes, sein Opfer war eine Pardiden-Frau im mittleren Alter, die er aus ihrem Dorf weggelockt hatte. Solche waren am leichtesten zu haben, aber reizlose Happen, sofern sie keinen ansprechenden Charakter hatten, oder etwas anderes, das sie von der Masse abhob. Sie war in einer unglücklichen Ehe gefangen, hasste ihren Mann und das ganze Dorf. Das hatte sie dazu gebracht, ein Ritual durchzuführen, um einen Dämon heraufbeschwören. Dazu war sie in ein Zelt aus getrocknetem Schilf und Lederhäuten außerhalb ihres Dorfes gegangen. Ânsgar hatte sie schon in vielen Kilometern Entfernung gerochen. Mit den Jahren und durch all seine Opfer, die bessere Nasen gehabt hatten als er, hatte er eine Fähigkeit entwickelt, die ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit zum nächsten Mahl führte. Mit jedem kam er seinem Ziel einen kleinen Schritt näher. Er wusste nicht, dass die Pardidin ihr Ritual abhielt, als er sich vor dem abgeranzten Zelt hinhockte. Er hatte keine Eile, sie zu konsumieren. Als sie herauskam, schrie sie erschrocken auf und flüchtete zunächst zurück ins Zelt. Erst nach einer Minute schielte die unter dem Verdeck hervor und sah ihn finster an. „Wer seid ihr beide?“, fragte sie.

Ânsgars Nackenfell stellte sich auf, er sah mit dem Wendigokopf umher und entdeckte - einen Werwolf. Wo kam denn der plötzlich her? Er stand schräg rechts hinter ihm und grinste die Pardidin verrückt an. Sein grau-schwarzes Fell glänzte im Schein der frühen Abendsonne der Savanne. Mit dem Ligerkopf blieb sein Blick auf der Pardidin haften, die anderen Köpfe fixierten den Werwolf. Wie hatte er es geschafft, sich unbemerkt hinter Ânsgar zu schleichen? „Ich bin der Dämon des Hungers“, sagte der zur verängstigten Frau, deren Augen groß wurden und sie sich hervorwagte. Ânsgar hielt die Luft an. Sollte dieser Kerl ein Dämon sein? Er observierte ihn mit dem Wendigoblick. Nein, war er nicht. Er log sein Opfer an. Er war aus Fleisch und Blut, so wie er. „Und das ist mein Bruder, der Dämon der Gefrässigkeit“, behauptete er und zeigte auf Ânsgar. „Du hast uns gerufen.“ Die Pardiden-Frau trat begeistert vor das Zeltverdeck, fiel auf die Knie und hob die Tatzen in den Himmel. „Ihr seid gekommen! Wirklich gekommen! Endlich!“, rief sie. „Nachdem ich euch schon Monate lang angerufen habe!“ Der Werwolf nickte. „Jetzt sind wir hier. Du bietest dich an?“ Die Pardidin beugte sich zu Boden. „Ja! Ja! Ich biete mich an. Nehmt mich mit, ich ertrage dieses Leben nicht mehr!“ Der Werwolf schnalzte und lachte dumpf in sich hinein. „Wie du willst. Doch was verlangst du?“, fragte er. Ânsgar wurde langsam ungeduldig. Was sollte das alles?

Die Pardidin erhob sich und sah zögerlich auf. „Verlangen?“, fragte sie irritiert. Der Werwolf näherte sich und betrachtete sie von oben herab. „Du willst doch etwas? Sonst hättest du uns nicht gerufen“, sagte er und beschwor damit feste Zweifel bei ihr herauf. Sie überlegte und fragte dann vorsichtig: „S-seid ihr überhaupt ...? Wer seid ihr?“ Es reichte Ânsgar. Ehe sie es sich versah, hatte er sie mit beiden Pranken gepackt. Sie kreischte auf und zappelte hin und her. Das machten sie alle in ihren letzten Momenten. Heute war der Lindwurm dran. Er stopfte sie ins klaffende Maul des Kopfes, ohne zu schlucken. Seine Kiefer knallten zu und sie war weg. Kaum der Rede wert, an ihr war nichts dran. Ânsgar stand auf und streckte sich, damit sie besser in seinen Bauch durchrutschte, der sich kaum füllte. Dann wandte er sich dem Werwolf zu, dessen Hals er ergriff, ohne dass der es verhinderte. Er zog ihn an sich heran und beschnüffelte ihn. Der Kerl wusste seine Gedanken und Gefühle zu verbergen. Selbst sein Wendigokopf sah nichts Auffälliges. „Sie bewegt sich noch“, sagte der Werwolf röchelnd und hatte Ânsgar eine flache Klaue auf den Bauch gelegt. „Ich kenne das Gefühl, wenn sie sich noch in einem bewegen. Ich hatte auch jemanden so gegessen.“ Ânsgar schaute hinab, fletschte die Zähne aller drei Köpfe und stieß den dreisten Mistkerl von sich fort. „Schon gut, Großer!“, sagte der und zog sich einige Meter zurück, bevor Ânsgar ihm einen Hieb verpasste. „Was willst du?“, fragte er. Sie taxierten einander, bis der Werwolf kurz den Kopf neigte und sagte: „Ich heiße Wulfiga und bin auf der Suche nach jemandem.“ Ânsgar betrachtete ihn skeptisch. Namen interessierten ihn nicht. Wer sich ungefragt vorstellte, biederte sich unnötig an. Das war seine Erfahrung. „Die Frau bekommst du nicht mehr. Sie war meine Beute und ist bald mit mir vereint.“ Wulfiga schüttelte den Kopf. „Nein, die kleine Schnepfe interessiert mich nicht, ich -“ schon war Ânsgar bei ihm und schlug ihn mit der flachen Pranke zu Boden. Wulfiga hatte keine Möglichkeit auszuweichen oder zu entkommen, als er sein linkes Bein in seinen Nacken stellte, damit er nicht floh. Er kniete nieder, zischte mit dem Lindwurmkopf, fauchte mit dem Ligerkopf und grollte mit dem Wendigokopf. „Sprich nicht abfällig über die, die ich esse. Sie hat mehr Respekt verdient.“

Er ließ von ihm ab, hatte genug davon. Ânsgar ging mit seinen Opfern gnadenvoll um. Vor allem, wenn sie sich freiwillig hingaben, so wie die Pardidin, wäre das Wölfchen nicht aufgetaucht. So aber war sie verzweifelt und panisch gestorben. Er liebte es, wenn er seine Opfer jagte und sie sich mit aller Kraft am Leben festhielten. Dafür verehrte er sie. Genauso würdig behandelte er aber alle, die es freiwillig beenden wollten und zu ihm kamen. Aber dieser Trottel hatte das kaputtgemacht. Jetzt war es zu spät. Er wartete darauf, dass es geschah und sie in ihm aufging. Jeden Moment war es soweit, dann - „Ich kenne dich“, sagte Wulfiga, der sich aufrappelte und den staubigen Dreck abklopfte, was aber nichts brachte, und eine feine, helle Schicht auf dessen Fell zurückblieb. Durch das Sonnenlicht abgestrahlt, sah er aus, als schimmerte er von selbst. Seine Augen weiß wie Schnee, bis auf die schwarzen Pupillen, die wie kleine Löcher auf seinen Augäpfeln wirkten. Er zog Ânsgars Aufmerksamkeit wieder auf sich, der ihn verärgert anstarrte, was ihn aber nicht aus der Ruhe brachte. „Du bist Ânsgar Trismégistos, der dreifach Erhöhte, Chimäre von Kalle’don, die klerikale Bestie des Dorn, der Wärter und Wächter der Gruft Dynyols.“

Ânsgar ließ sich nichts anmerken, nach innen hin war er erschrocken. Niemand kannte die Namen in der richtigen Reihenfolge. Er begutachtete ihn eindringlich. Seine Wendigoaugen erkannten nichts. Keine Veränderung der Aura, die wie Schlieren in der Luft um ihn waberten. Würde er lügen, oder wäre etwas anderes mit ihm, wären sie verwirbelt. Stattdessen strahlten sie in gleichmäßigen Schwingungen fort. Er war schon oft merkwürdigen Kreaturen begegnet, Wulfiga war nicht anders. Ânsgar fragte sich, was es mit ihm auf sich hatte, als es passierte. Die Pardidin ging in ihm auf. Er nahm wahr, wie sie sich mit ihm verband und ein Teil von ihm wurde. Kurz überschwemmten ihre Erinnerungen die Gedanken und ordneten sich nach und nach seinem Geist unter. Es war ein hartes Leben, das sie geführt hatte. Früh vermählt, war ihre Ehe kinderlos geblieben, sie dadurch mit Schmach und Schande zur Außenseiterin geworden, in ihrer Gemeinschaft nur geduldet. Sie wurde von ihrem Mann wegen der Kinderlosigkeit beschimpft und misshandelt. Regelmäßig hatte er sie geschlagen und danach gezwungen, ihm zuzusehen, wie er es mit anderen Pardidinnen trieb, was ihr das Herz brach, da sie ihn trotz allem aufrichtig geliebt hatte. Sie fing an, sich selbst zu verletzen und Blutrituale durchzuführen, in der Hoffnung, fruchtbar zu werden. Stattdessen trieb sie das weiter an den Rand, ihre Leute verachteten sie, weil sie sich schwarzer Magie hingab. Zuletzt wollte sie sterben, weshalb sie Dämonen beschworen hatte. Sie war ein weiteres Bruchstück, das Ânsgar hinführte, wohin es ihn zog: Zu der Person, die zu ihm gehörte, die er konsumieren musste, wie alle anderen davor, damit sie die Leere in ihm ausfüllte und sein Herz und Herzschlag wurde. Die Erinnerungen der Pardidin vergingen und verschmolzen mit denen hunderter und tausender anderer.

Seine Blicke wurden klarer und der Werwolf ... stand immer noch da. Es sollte ihn nicht interessieren, aber da war dasselbe Gefühl, das er bei seinen Opfern hatte, sobald er ihre Witterung aufnahm. Das war das falsche Wort, beschrieb aber am besten, wie es war, wenn er wusste, wo er die oder den Nächsten zum Konsumieren fand. „Komm“, sagte er und lud Wulfiga ein, ihm zu folgen. Er war für Ânsgar nicht gefährlich, egal wie kräftig und schnell er war. Was das anging, hatte er keine Bedenken. Zusammen reisten sie zurück zu seinem Dorf. Sechs Tage dauerte das, sie legten eine Entfernung zurück, für die ein Mensch zweieinhalb Wochen gebraucht hätte. Sie schliefen nicht. Ânsgar brauchte keinen Schlaf, nicht im herkömmlichen Sinne. Während einer seiner Köpfe ruhte, blieben die anderen beiden wach. Manchmal empfand er dadurch das paradoxe Gefühl, gleichzeitig müde sowie wach und erholt zu sein - vor allem früh morgens und am späten Abend. Insgeheim hoffte er, das Wulfiga erschöpft zurückblieb und ihm nicht mehr folgte. Aber der Werwolf war hartnäckig und blieb bei ihm. Die Landschaft veränderte sich, es wurde kühler, der kahle, trockene Boden wich saftigem Gras. Sie drangen in bewaldetes Land ein. Ânsgar roch genau, dass Wulfiga müde war, manchmal verlor der ihn aus den Augen und sie sahen sich mehrere Stunden nicht. Aber jedes Mal fand der Wolf ihn wieder, was seiner Nase geschuldet war. Dem flachen Waldland folgte bergiges Waldland, danach gelangten sie zu den Sümpfen, die das Dorf umgaben, in dem er lebte. Es gab nur einen einzigen sicheren Pfad hindurch. Das Dorf selbst war geschützt gelegen, ein echtes Idyll und wie ein schmucker Edelstein, umgeben von Weizen-, Gersten-, Roggen- und Maisfeldern, die keiner mehr bewirtschaftete. Die Sümpfe erstreckten sich in einem mehrere Dutzend Kilometer weiten Kreis um das Dorf und die umgebenden Felder und Ländereien herum. Sie waren undurchdringlich, bis auf eben jenen einzigen Weg, den Ânsgar versperrt hatte. Damals, als er in das Dorf eingedrungen war, hatte er den Weg durch Baumstämme und Felsen für Menschen unpassierbar gemacht, nachdem er die verjagt hatte, die sich verjagen ließen. Es hatten nur wenige Angehörige anderer Spezies hier gelebt. Ein Frok-Ehepaar, ein Alligaton und zwei Hominiden-Schwestern, die alle geflohen waren. Nur der Alligaton nicht. Mit dem hatte er gekämpft und ihm den Kopf abgebissen. Auf die Zurückgebliebenen, alles Menschen, zwanzig Personen an der Zahl, hatte der Tod gewartet, nachdem sie nicht mehr fortkonnten. Alte Erinnerungen. Lange her. Wie lange? Er wusste es nicht mehr genau. Zwanzig Sommer? Oder dreißig? Es war egal, denn es war Vergangenheit. Die Gegenwart war wichtig, weil er den Werwolf durch das Moor führte und bewusst in eine Falle lockte. Ânsgar ging in dem Morast nicht unter. Er war stark genug, sich zu befreien, selbst wenn er mit den Hinterläufen eine falsche Stelle erwischte und kurz darin versank. Er hatte das schon unzählige Male ausprobiert und sich mit Absicht bis zur Brust einsinken lassen. Bei jedem Versuch hatte er sich aus eigener Kraft befreit. Das lag an seiner Natur. Er hatte in den vielen Jahren Raptora, Frok und einmal einen Alligaton konsumiert. Wesen, die den Sümpfen instinktiv vertraut waren. Als er sie in sich aufgenommen hatte, hatte er ihre Natur angenommen. Selbst, wenn er wollte, er konnte nicht im Sumpf sterben. Das ließen diese Instinkte nicht zu.

Es dauerte nicht lange und er roch Anstrengung in der Luft. Wulfiga war erneut zurückgefallen und Ânsgars Geruch gefolgt. Ein törichter Fehler. Ânsgar drehte um, er hatte Sümpfe schon gemocht, bevor er hierher kam. Sie waren ihm ähnlich, immer hungrig fraßen sie jeden, der einen falschen Fuß in sie hineinsetzte. Doch egal, wie viel sie fraßen, sie waren weiter hungrig nach mehr und mehr, so als ob sie dringend eine Leere füllten. Dasselbe galt für ihn. Der Sumpf war Ânsgars charakterliche Entsprechung in der Natur, bloß dass der Sumpf nicht jagte, sondern Beute zu sich kommen ließ, bis sie schon in seinem Rachen war. Dann schluckte er. Er fand Wulfiga bis zur Hüfte in Schlick, Schlamm und Morast versunken vor. Der Sumpf schluckte schnell und gierig. Je mehr sich der dämliche Wolf wehrte, umso schneller fraß er ihn auf. In dem einen Moment, bevor Wulfiga von ihm Notiz nahm, bemerkte Ânsgar eine erste echte Gefühlsreaktion bei ihm. Stille Panik. Die Gesichtszüge waren völlig andere als in den letzten Tagen. Beklommen, angstvoll, wütend. Seine Augen hatten sich verändert. Oder war das seltene Himmelblau Wulfigas echte Augenfarbe? Er war hilflos und hatte keine Ahnung, wie ihm geschah und wie er aus dieser Lage freikam, wand sich hin und her, versuchte mit den Armen, sich aus dem Moor zu stemmen, was ihn tiefer versinken ließ. Er war gar nicht so weit weg von festerem Untergrund. Das nützte ihm aber nichts, da selbst der nicht fest genug war, als dass er sich hätte daran halten und aus dem Schlamassel hinausziehen können. Seine Aura war eine völlig andere. Sie strahlte nicht mehr die Sicherheit aus, sondern war eng verwoben und verwirbelt wegen der vielen widersprüchlichen Emotionen, die er hatte. Interessanter war aber, dass sich sein Verhalten veränderte, sobald er Ânsgars Anwesenheit gewahr wurde. Seine Augenfarbe änderte sich sofort in das unheimliche Weiß. Er hörte auf, sinnlos zu zappeln, und sah ihn mit entspannter Miene an. „Je mehr du dich bewegst, desto schneller bist du tot“, sagte Ânsgar. „Das würde dir gefallen, oder?“, entgegnete Wulfiga und zeigte die Zähne blank. Er wog den Ligerkopf hin und her, mit dem er hauptsächlich sprach. „Ja und nein“, meinte er, worauf Wulfiga auflachte. „Deine Fragen blieben unbeantwortet. Ich bin mir sicher, dass einige in den letzten Tagen dazugekommen sind.“ - „Dafür hätte ich wieder meine Ruhe“, erwiderte Ânsgar kalt mit dem Wendigokopf, mit dem er sich mit der Zunge über die Zähne fuhr. „Du wärst keinen Schritt weiter. Dann kommst du nie an sein Ziel“, spuckte Wulfiga ihm verächtlich, zog dann einen Arm aus dem Sumpf und streckte ihn ihm entgegen. Ânsgars Lindwurmkopf betrachtete Wulfiga skeptisch. „Außer, du hilfst mir raus. Dann bekommst du alles, was du dir erhoffst.“ Ânsgar lachte auf und fragte: „Was soll das werden? Ein Handel? Du hast mir nichts anzubieten, außer haltloses Gerede, und denkst, dass es ausreicht, mich dazu zu bringen, dein wertloses Leben zu erhalten.“ Wulfiga zog den Arm zurück und fixierte Ânsgar, er knurrte tief. „Ich habe dir mehr anzubieten, als du ahnst. Aber nur wenn du mir hier raus hilfst.“ Ânsgar verschränkte die Arme, schnalzte mit dem Ligerkopf, sprach aber mit dem Lindwurmkopf: „Gib mir eine Kostprobe, so wie alle guten Händler. Wenn mir gefällt, was du hast, helfe ich dir vielleicht raus. Ansonsten nicht.“ Es hatte einmal einen Schamanen der Hyena gegeben, den er getroffen hatte. Er war schmächtig und klein und wehrlos. Völlig anders, als ein typischer Hyena. Aber ihm wurde nachgesagt, dass seine Blicke töteten. Niemand hat sich ihm deshalb widersetzt, weil keiner es gewagt hatte, in anzusehen. Er hatte ihn aufgesucht und gegessen. Vorher hatte er ein kurzes Gespräch mit ihm geführt, in dem sich aller Ärger seines kümmerlichen Lebens entladen hatte. Danach versuchte er Ânsgar tatsächlich mit seinem Blick umzubringen. Nichts war passiert. Doch die Augen ... solchen war er nie mehr begegnet. Sie hatten ihn aus vollkommen tödlicher Überzeugung angestarrt. Fordernd, befehlend, stechend, sicher, fest.

Genau so sah Wulfiga ihn an, als Ânsgar ihn vor die Wahl stellte. Er hatte sich schon gedacht, dass der Werwolf sein Wissen nicht teilen wollte. Eine andere Wahl hatte er aber nicht. Ânsgar ließ ihn sterben, wenn nötig. Es war ihm sogar lieber. Ihn interessierte nur, woher er ihn kannte? Dass er von ihm wusste, war nicht unerwartet, denn er galt in weiten Teilen des Landes als Ungeheuer, das böse Mädchen und Jungen auffraß. Dabei hatte er in all den Jahren nur vier Kinder konsumiert. Das hätte er zwar gerne vermieden, war aber unausweichlich gewesen. Was ihn mehr interessierte, war, was er alles über ihn wusste? Er ließ Wulfigas verächtlichen Blick an sich abprallen, was den zur Weißglut brachte. „Befrei mich, du dreiköpfiger Mutterficker! Ohne mich wirst du in deinem Scheißleben niemals finden, was du suchst! Missgeburt! Hol mich hier raus!“ Das und weitere Beleidigungen bellte er Ânsgar entgegen, der mit dem Wendigokopf gelangweilt gähnte und wartete. Als er sich abreagiert hatte, meinte er: „Dir läuft die Zeit davon. Selbst wenn du dich nicht mehr bewegst, versinkst du. Also? Was hast du mir anzubieten? Was ist so wichtig, dass ich nicht darauf verzichten kann?“ Wulfigas Lefzen zuckten, seine Augen leuchteten von innen, was Ânsgar ungewöhnlich fand. Andererseits war er selbst der Inbegriff des Ungewöhnlichen. Was änderten da ein paar leuchtende Augen? Das Werwölfchen zwang sich zu Ruhe und setzte ein verdorbenes Grinsen auf. „Ich bitte um Verzeihung. Ich habe mich vor kurzem fortentwickelt und kann noch nicht mit dem neuen Charakterzug umgehen“, erklärte er. „Seltsame Art sich zu entwickeln“, meinte Ânsgar lapidar. „Sagt der, der andere auffrisst, in der Hoffnung, vollkommen zu werden“, erwiderte Wulfiga und hielt ihm einen Spiegel vor. „Wir sind uns ähnlich, Trismégistos. Du verschlingst Leute, um dich weiterzuentwickeln. Ich nur einen Teil von ihnen.“ Er schüttelte den Wendigokopf und sagte: „Hör auf, mich hinzuhalten. Wenn du mir etwas anzubieten hast, sag es jetzt, sonst gehe ich.“ -

„Dir fehlt das Herz“, behauptete Wulfiga und erweckte Ânsgars ungeteilte Aufmerksamkeit aller drei Köpfe. „Aha! Jetzt habe ich das Ungeheuer neugierig gemacht, nicht wahr?“ Ânsgar ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Was weißt du?“, fragte er. Wulfiga legte den Kopf unnatürlich schief. „Eine ganze Menge. Du lebst seit einigen hundert Jahren und hast kein Herz. Du suchst nach dem, was andere Liebe oder Zuneigung und Zugehörigkeit nennen, findest aber nichts davon. Du hast lange die Gesellschaft anderer gesucht, dich aber nicht wohl unter ihnen gefühlt, weshalb du angefangen hast, sie zu essen. Damals warst du -“ - „Das reicht!“, unterbrach er ihn scharf, zückte die Krallen, sprang zu ihm in den Sumpf hinein und haute sie in seine Oberarme. Wulfiga jaulte auf, doch das war ihm egal, er zerrte ihn aus der Todesfalle heraus. Auf festem Boden und voller Schlamm leckte sich Wulfiga die blutenden Stellen. „,Habe ich dich überzeugt?“, fragte er. Ânsgar ging nicht darauf ein, sondern zischte ihn mit dem Lindwurmkopf an. „Du weißt zu viel. Egal ob du es mir erzählst, oder nicht. Du wirst diesen Ort nicht mehr verlassen“, rumorte er. Wulfiga lachte auf. „Willst du mich essen, so wie deine anderen Opfer?“ Ânsgar beugte den Ligerkopf vor und drückte die Schnauze in Wulfigas Nacken, mit dem Lindwurmkopf klemmte er dessen rechten Arm zwischen den Kiefern ein. Mit der Zunge des Wendigo leckte er ihn von der Brust an aufwärts ab und stülpte das Maul über dessen Schnauze. Wulfiga zuckte überrascht zurück, als Ânsgars Mundfleisch in seine Maulhöhle eindrang und ein sanft-wildes Spiel zwischen ihnen begann. Zuerst wehrte sich Wulfiga, aber nur kurz, dann ließ er es zu. Im Gegenteil öffnete er von sich aus seine Kiefer ein Stück. Ânsgar umarmte ihn mir beiden Armen und presste ihn an sich. Wie zwei Liebende standen sie da, wenn man nicht wusste, welches Gefecht sie führten. Ânsgar drang mit der Zunge weit in Wulfigas Rachen hinein, um jedes kleine Detail zu erfühlen - die Form seiner Maulhöhle, jede Gaumenfalte, die scharfen, stumpfen oder schief gewachsenen Zähne - und jeden Geschmack aufzunehmen, den er einmal gekostet hatte. Daneben war es die beste Möglichkeit für ihn, herauszufinden, ob er zu denen gehörte, die er konsumieren musste. Umgekehrt drang Wulfiga mit seiner Wolfszunge so weit in den Wendigorachen ein, wie ihm möglich war, oder eher, inwiefern Ânsgar es zuließ. Genau wie er suchte der Werwolf über Geschmack und Beschaffenheit nach Anhaltspunkten und Schwächen. Ihm war schleierhaft, warum. Zudem war es ihm egal. Hätte Ânsgar festgestellt, dass er nur redete und Glück in der Beschreibung seines Lebens gehabt hatte, hätte er ihn zerfetzt. Gleichsam hätte er ihn sofort gefressen, wenn er zu denen gehörte, die er brauchte. Weder das eine noch das andere war der Fall. Stattdessen entdeckte er etwas, was er nicht erwartete. Einen Geschmack, der sein schlagendes, aber nicht fühlendes Herz aufgeregt aufspringen ließ. Er war lieblich und zart, dabei verletzlich und trotzdem prägnant. Er war es! Der Geschmack der Person, die er suchte! Ânsgar unterbrach den Kuss ihres Kampfes und starrte Wulfiga an, der ihn fragend ansah. „Du hast sie gehabt“, stellte er fest. „Du hast sie geschmeckt.“ - „Ich habe ihn geschmeckt“, verbesserte Wulfiga triumphierend. „Er war in mir.“ - „In dir ...? Hast ihn etwa ...?“ Wulfiga schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Er ist am Leben.“ Mit allen Köpfen beschnupperte er Wulfiga intensiv. Er hatte ihn nicht nur in sich gehabt, er hatte ihn körperlich geführt. Der, den er schon so lange suchte. Dieser Werwolf war ihm begegnet. Er kannte das Herz, das ihm fehlte, und das er begehrte. Das machte ihn wütend, er zischte, grollte und knurrte, während er die Zähne zeigte. „Verschone mich“, sagte Wulfiga abgeklärt und leckte über seine Lefzen. Ânsgar ließ ihn los und betrachtete ihn neidvoll. Er war ihm so nah wie nie zuvor in seinem einsamen Leben. Ausgerechnet als überheblicher Köter zeigte sich die Präsenz dessen, den er suchte. „Du wirst mir alles sagen“, entschied Ânsgar. Wulfiga nickte. „Sicher werde ich das, dafür habe ich dich gesucht.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, hast du nicht. Aber das ist egal.“ Er griff Wulfiga im Nacken und stieß ihn zu Boden. Beinahe wäre er wieder im Sumpf gelandet, fing sich aber und schaute vorwurfsvoll zu Ânsgar hinauf. Der ließ sich auf ihn drauf fallen und begrub ihn unter sich. Wulfiga war groß, Ânsgar größer. „Du hast ihn nicht nur geschmeckt und in dir gehabt. Du hast mit ihm geschlafen. Deshalb muss ich mit dir schlafen, damit ich ihn kennenlerne und weiß, wie er ist und ihn wahrnehme, wenn ich ihn treffe.“ Wulfigas Gesichtsausdruck war kaum zu deuten. Erstaunen, Belustigung, Widerwille. Aber genauso Irritation, Angst und Unwohlsein. „Das ist verrückt“, urteilte der und versuchte, sich Ânsgars zu entledigen, der ihn aber mit seinen Pranken niederdrückte und ihn mit allen drei Augenpaaren arrogant ansah. „Du hast ihn erlebt! Du warst bei ihm! Der wichtigsten Person in meinem Dasein, die ich nicht kenne und nichts von ihr weiß, bis auf die Tatsache, dass sie existiert. Indem ich dich zu ihm mache, werde ich wissen, wie er war, als du ihn genommen hast!“ Ânsgar ließ Wulfiga nicht mehr zu Wort kommen, verschloss sein Maul mit den Lefzen des Ligers, fixierte mit den anderen beiden Köpfen dessen Arme. Dadurch hatte er seine eigenen frei, um Wulfigas Beine zu spreizen und ihn mit dem Gemächt nach kurzer Suche zu erdolchen. Ânsgar verlangte alles, was Wulfiga über den besaß, der zu ihm gehörte. Er hatte keine Witterung. Noch nicht. Wenn er mit dem Werwolf fertig war, da war er sich gewiss, hatte er alles, was er brauchte, um alleine weiterzukommen.

Er war nicht zimperlich. Das durfte er nicht, denn Wulfiga gab das Geheimnis nicht so leicht preis. Ânsgar war genötigt, kreativ zu werden. Er bediente sich aus den Erfahrungen vieler Frauen und Männer, die er in sich aufgenommen hatte. Dazu gehörten ein Werwolf und zwei Werwölfinnen, die er von langer Zeit, als er noch nicht Trismégistos war, gegessen hatte. Ob Wölfin oder Wolf, sie liebten es, in den Nacken gebissen zu werden, da es die Hierarchie klarstellte, wer oben und wer unten war. Wulfiga hatte nach Ânsgars erstem Stechen versucht, sich über ihm zu positionieren und seinerseits das Schwert zu führen. Das ließ Ânsgar zuerst nicht zu, schubste ihn herunter und drückte ihn, mit dem Gesicht nach unten, in den weichen Boden. Mit zwei, drei Krallen der freien Klaue war er sich nicht zu schade, in dessen Anus einzudringen. Er folgte einer Ahnung und biss sich mit allen Köpfen in Wulfigas Rücken fest. Nicht tief, aber tief genug, dass es schmerzte. Dabei drangen die Krallen tiefer, bis seine Finger verschwunden waren. Wulfiga japste und wand hin und her, ohne sich ernsthaft zu wehren. Er hatte den Widerstand aufgegeben und fügte sich. Doch im Innern widersetzte er sich weiterhin, Ânsgar das letzte Stück zu offenbaren, das ihn näher brachte. Den Geschmack hatte er entdeckt, der Geruch war samtener Lilienduft. Wie unerwartet. Aber beides reichte nicht. Er brauchte mehr, damit seine überschöpfliche Nase Witterung aufnahm und ihm eine Richtung zeigte. Das wusste Wulfiga erfolgreich zu verhindern. Ânsgar änderte seine Taktik. Er bearbeitete ihn weiter, bis er es schaffte, die ganze Pranke zu versenken. Das war unerwartet. Aber weil Wulfiga es so wollte, drang er weiter vor. Wenn es sein musste, schob er seinen ganzen Arm hinein, solange es zum Ziel führte. Wulfiga zappelte wild um sich und schlug letztlich Ânsgar die Klauen in den Rücken, sodass der leise aufstöhnte. Ihre Körperlichkeit war wild, sie war ursprünglich und schmutzig. Nichts mit Liebe, nichts mit Begehren. Er brachte Wulfiga mehrmals fast zum Höhepunkt, brach dann ab und ließ ihn nach dem vierten Mal fast verzweifeln. Ânsgar lernte, dass mit ihm nicht zu spaßen war, denn Wulfiga fügte ihnen beiden Verletzungen zu. Ânsgar nur ihm. Zum Beispiel biss er ihm mit dem Ligerkopf ins linke Ohr, als er auf ihm saß. Wer sagte, dass er nicht gestochen werden wollte? In dem Moment entgleiste Wulfiga und flößte ihm alles ein, was er hatte. Ab da fing das leidende Vergnügen an. Ânsgar quälte ihn, weil er nicht mehr bereit war, vergewaltigte ihn und stieß wieder und schneller hart zu. Beide genossen sich gegenseitig, es fühlte sich richtig an. Wulfiga, weil er der Erste war, der ihn nahm, zumindest war das Ânsgars Eindruck. Ânsgar, weil er dem unbekannten Menschen näher rückte, den er suchte. Das war es, was er herausfand. Der, den er um den Untergang der Welt Willen am meisten herbeisehnte, war ein Mensch. Sein – Inua? Mehr gab Wulfiga, bei aller Verruchtheit zwischen ihnen, nicht preis. Er war eine mentale Gewalt, die Ânsgar nicht brach. Deshalb beglückte er sich selbst, als sie sich gegenseitig mit ihren Zungen und Mäulern leckten. Wie eine laute Explosion. Zu spät wurde Ânsgar klar, dass er Wulfiga damit etwas gab, das er ihm nicht hätte geben dürfen. Sein Lebenssaft baute eine Verbindung auf, die er nicht mit ihm teilen wollte, aber jetzt unwiderruflich bestand. Erschöpft lagen sie beieinander und schwiegen, ohne sich anzusehen.

„Ich erzähle dir jetzt etwas“, sagte Wulfiga. Ânsgar hörte zu. „Du wirst bald durch mich sterben. Nur dann kommst du zu ihm.“ Bevor er weitersprach, verbot ich ihm den Mund. Für den Moment war mir egal, was er zu sagen hatte. Er war nichts weiter als ein dämlicher Werwolf, der das Glück hatte, seiner zweiten Hälfte begegnet zu sein, und sich deshalb jetzt in einer Position wähnte, in der er Forderungen stellen würde. Ânsgar hatte das Mysterium nicht aufgelöst. Das war nicht weiter tragisch, er kam noch dahinter. Heute war er einen großen Schritt weitergekommen. Einen großen vorletzten Schritt. Nachdem er so viele Jahre nur Ameisenschritte getan hatte, war er jetzt in der unverhofften Situation, bald am Ziel zu sein. Er ließ von Wulfiga ab und erhob sich, hielt ihn an der Klaue fest und zog ihn mit sich hoch, um ihn dann durch den Sumpf in sein Dorf zu führen.

 

Wulfiga sagte nichts, aber Ânsgar sah durch seine Wendigo-Augen deutlich die streng gerade von ihm wegzeigenden Schwingungen seiner Aura, was in etwa bedeutete, dass er überrascht oder erstaunt war. Ihm gefiel die Verlassenheit des Ortes. Mit entsprechend leuchtenden Augen, deren Farbe wieder himmelblau war, drehte er sich zu ihm und fragte: „Schläfst du in einem der Häuser?“ Ânsgar schüttelte den Lindwurmkopf und antwortete mit dem Ligerkopf: „Die Türen sind zu klein, ich würde die Gebäude zerstören. Aber ich finde sie schön, deshalb schlafe ich draußen. Nur wenn es regnet gehe ich in die verlassene Scheune dort.“ Er zeigte auf ein großes Fachwerkhaus, das aufwendig mit Schindeln abgedeckt war. Die Scheunentür war in Höhe und Breite groß genug, dass er aufrecht hindurchschreiten konnte. Der Innenraum war gemütlich, damals wie heute. Die tragenden Balken waren dunkelrot bemalt und schenkten dem Gebäude sichtbare Wärme. Die ehemaligen Bewohner hatten ihre Tiere geliebt und sie über ihre eigenen Bedürfnisse gestellt, deshalb war die Scheune verzierter als alle anderen Häuser des Dorfes. Ihnen war wichtig gewesen, dass sie ein gutes Leben als Tiere hatten, bevor sie für ihr Fleisch geschlachtet wurden. Das hatte Ânsgar tief beeindruckt, weshalb er danach bei all seinen Opfern ähnlich verfuhr. Es war mehrfach vorgekommen, dass er sie aufgesucht hatte und - wenn sie den ersten Schrecken überwunden hatten - sie eine Weile begleitete, bevor er sie aß. Meist nur wenige Tage, nur einmal fast einen Monat. Von diesen Wenigen hatte er keinem von Anfang an gesagt, was er mit ihnen vorhatte. Entweder ahnten und akzeptierten sie es irgendwann, oder sie dachten nicht darüber nach, bis sie sich in einem unbescholtenen Moment zwischen den Kiefern eines seiner Köpfe wiederfanden. Er versuchte stets, ihnen als Lebewesen Respekt zu zollen, weil ihr Opfer, ob freiwillig oder nicht, für ihn Weiterentwicklung bedeutete. Bis heute, bis jetzt, mit Wulfiga, der mit seiner Schnauze in die Luft gereckt umherschnüffelte. Er fühlte sich leicht und gleichzeitig schwer, weil ihn die Last der Schuld niederdrückte, die er gelernt hatte zu ignorieren.

„Es ist behaglich hier“, urteilte Wulfiga und strahlte Ânsgar an, der ihn misstrauisch beäugte. „Was ist?“, fragte er. „Du bist ein verrückter Werwolf, kommst her und störst mich, läufst mir hinterher und fickst mit mir, wie ein Dämon. Was soll die Spielerei gerade? Willst du mich verspotten?“, fragte Ânsgar. Wollte er nicht, das sah er an Wulfigas veränderter Aura, die sich in Spiralen von ihm wegbewegte und Betroffenheit ausstrahlte. Wulfiga sah ihn missmutig an. „Es tut nicht Not, dass der Mächtige sich zeigt. Ich habe dir gesagt, was unausweichlich war. Dein Schicksal steht fest. Bis es soweit ist, bin ich Wulfiga.“ Ânsgar überlegte einen Moment lang. „Wer ist der Mächtige? Eine andere Seite in dir, ein Wesen, das dich begleitet, ein anderes Ich?“ Wulfiga sah unangenehm berührt in eine andere Richtung. „Ich hätte seinen Namen nicht erwähnen sollen“, murmelte er zu sich selbst. „Er ist der, der ich mal war und wieder sein werde. Aber anders.“ – „Ist er der, mit dem ich bisher zu tun hatte?“, fragte Ânsgar. Wulfiga nickte. „Ich bin nicht das einzige durchgeknallte Lebewesen“, meinte er abschätzig. „Willst du etwas essen?“ Wulfiga spitzte die Ohren, lehnte aber ab. „Viel lieber ausruhen“, sagte er. „Ich bin es gewohnt, nicht viel zu schlafen, aber vier Tage bringen mich an meine Grenzen.“ - „Ach? Wenn ich dich also fertigmachen wollte, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt?“, scherzte er, Wulfiga lachte dumpf und verstand die Anspielung. „Ich weiß nicht, ob ich das ein zweites Mal überstehe. Du warst fordernd und hartnäckig.“ - „Wie lautet sein Name?“, fragte Ânsgar direkt. Wulfiga schüttelte den Kopf. „Nein, so leicht mache ich es dir nicht. Du wirst von mir nichts erfahren.“ Ânsgar raunte. Widerworte waren ihm fast gänzlich unbekannt. Kaum ein Lebewesen wagte es, sich ihm zu widersetzen. Dieser Lümmel tat es und kam ungeschoren davon, weil Ânsgar nichts gegen seine Weigerung ausrichten konnte. Zumindest für den Moment. „Es nützt dir nichts, mich zu bedrohen“, meinte Wulfiga. „Lass uns einander kennenlernen und gegenseitig helfen.“ Ânsgar lachte auf und antwortete: „Wenn du meinst.“ Er deutete auf die Scheune. „Geh dich ausruhen, Hündchen.“ Wulfiga fletschte mit den Zähnen, seine Miene veränderte sich und wurde zur blutrünstigen Fratze. Er grollte in tieferem Ton, als dessen Kehle hätte erreichen dürfen. „Nenn mich nicht Hündchen“, knurrte er und legte verärgert die Ohren an. Ânsgar fackelte nicht lange, fiel ihn an, drückte ihn zu Boden und verbiss sich mit dem Wendigokopf in seiner Kehle. „Das hier ist mein Revier! Du bist nicht einmal ein Gast, verstanden? Ich nenne dich, wie ich will, Hündchen!“, fauchte er mit dem Ligerkopf und zeigte die Zähne des Lindwurms direkt vor Wulfigas Augen. Der reagierte genau so, wie erwartet. Er wehrte sich nicht, sondern drehte instinktiv seinen Bauch nach oben. Die Hierarchie war klargestellt. Doch das reichte Ânsgar nicht, denn der Kleine ging ihm auf die Nerven. Er packte und hievte ihn über seine Schulter, als wäre er ein Sack, trug ihn zur Scheune, wo er ihn auf das Heu warf. Freilich nicht dasselbe, dass die letzten Einwohner vor Jahren hiergelassen hatten. Er erntete es selbst aus den verwilderten Feldern und bereitete sich vor allem für die Wintermonate eine gemütliche Schlafstätte vor. In manchen Jahren hielt er Winterschlaf, wenn er keine Witterung aufnahm. „Du schläfst jetzt! Vor heute Nacht will ich dich nicht mehr sehen“, sagte er zu dem kuschenden Wulfiga, der sich unwillig zusammenrollte und ihn ansah, bis er wegging.

 

Heute Nacht war Mondfinsternis. Das hieß nicht, dass der zweigeteilte Mond nicht zu sehen, sondern die eine Hälfte herzrot und die andere dreckig orange verfärbt war. Der Farbunterschied hing mit der Ausrichtung der beiden Mondhälften zur Sonne und Erde zusammen. Nach alten Sagen, die Ânsgar in seiner Kindheit gehört hatte, wurde in Finsternis-Nächten das Blut vieler Unschuldiger vergossen. Er hatte ein paar seiner Opfer in solchen Nächten konsumiert, weil sie an die Symbolkraft geglaubt hatten. Über Werwölfe hieß es, dass sie durch das rote Zwielicht blutrünstig wurden und ihrem Jagdtrieb nachgaben, um nicht verrückt zu werden. Das war Humbug. Eines aber veränderte sich doch. Nur in Nächten wie diesen zeigte sich, wenn man gute Augen hatte und genau hinsah, der Palast Leu Hyperbor, der knapp über der Silhouette der oberen Mondhälfte schwebte und um den sich seit Jahrtausenden die wildesten Legenden rankten. Die meisten davon sind unsinnig und dem Aberglauben geschuldet. Ein paar hingegen scheren in ihrer Phantasterei so weit aus, dass Ânsgar in ihnen einen wahren Kern vermutete. Sie besagten, dass das der Palast von Menschenhand im Äther hinter dem Himmel erbaut worden war und seit Äonen den Mond begleitete. In einer Erzählung aus dem Süden, die von den Hyena-Stämmen überliefert wurde, hieß es, dass im Palast eine Waffe ruhte, die alle Vorstellungen an Macht übertraf. Sie nannten sie Funkenkralle. Mit ihr sollen die Bewohner Leu Hyperbors den Mond in seine zwei Teile zerschnitten haben. Warum, wusste niemand. Er hatte einmal einen Hyena gegessen, der, wie alle vor- und nachher, in ihm aufgegangen und davon überzeugt gewesen war, dass durch die Zerteilung des Mondes Gut und Böse erst entstanden waren. Vorher soll er eine große, runde Scheibe gewesen sein, die elfenbeinfarben leuchtete. Die Vorstellung fand Ânsgar merkwürdig, da der Mond seit Gedenken aller Lebewesen aus zwei Hälften bestand - zwei nahezu perfekten Halbkreisen, die einander in einem Abstand, etwas so groß wie ihre Breite, alle paar Jahre umkreisten und miteinander jede Nacht auf und untergingen. Er seufzte innerlich. Alles Dinge aus der weiten Vergangenheit. Längst geschehen, nie mehr zurückkehrend, für immer verloren. Trotzdem konnte er in der Zeit zurückreisen, wenn er wollte. Ein anderes seiner Opfer hatte ihm das beigebracht. Er war verrückt gewesen, aber weise. „Jeder von uns ist in der Lage, durch die Zeit zu reisen“, hatte er gesagt. „Durch unsere Erinnerungen in die Vergangenheit und durch unsere Träume in die Zukunft. Nicht wahr?“ Ânsgar hatte seinen Namen vergessen, er war einer der Ersten gewesen, den er konsumiert hatte. O ... Ogg ... Okga? Er wusste es nicht mehr. Aber wenn er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, was für einen Blödsinn dieser Kerl ihm weismachen wollte. Er war der Einzige gewesen, der in ihm aufgegangen, aber seine Erinnerungen nicht geteilt hatte. Damals hatte ihn das nicht skeptisch gestimmt, heute war Ânsgar der Meinung, dass er nur durch ihn einen wichtigen und großen ersten Schritt getan hatte, so wie er durch Wulfiga einen großen letzten Schritt gehen würde.

Wulfiga und der Kerl waren sich ähnlich. Dieselbe verschrobene Art, dasselbe Schauspiel vor anderen. Dieses verrückte Grinsen ... nein, das ... - Nein! Ânsgar sprang von seinem Lieblingsplatz auf, von dem er allabendlich den Himmel oder die Umgebung beobachtete, und jagte auf allen vier Gliedmaßen zur Scheune ans andere Dorfende nur hundert Meter entfernt hin. Er stürmte hinein, doch er war weg! Er reckte alle drei Schnauzen in die Luft, um Wulfigas Fährte aufzunehmen. Zwar hatte er keinen so ausgeprägten Geruchssinn wie er, hätte ihn aber trotzdem überall finden können, solange er nicht zu weit weg war. Im Osten! In den Maisfeldern! Er hechtete los und war ruckzuck bei dem vermaledeiten Werwolf, der mit dem Rücken zu ihm stand und mit ausgestreckten Kopf den Mond so leise anheulte, dass Ânsgar es nicht gehört hatte. Er wartete, bis Wulfiga sich ihm zuwandte und ihn fragend ansah. „Ich reiße dir den Kopf ab!“, grummelte er. „Sag mir, wer du bist!“ Abrupt neigte Wulfiga den Kopf und seine Miene wandelte sich in das verrückte Grinsen. Dabei ließ er die Zunge ungehörig seitlich aus dem Maul hängen und hechelte mit offenen Kiefern. Die Augen wurden weiß und leuchteten. „Antworte!“, brüllte er und spannte alle Muskeln an, um ihn anzufallen. Wie eine zurückschnellende Peitsche verschwand Wulfigas Mundfleisch wieder zwischen seinen Zähnen. „Du hast es herausgefunden. Für was brauchst du da noch eine Antwort?“, entgegnete er. „Du bist der verrückte Kerl von damals, habe ich recht?“, fragte Ânsgar. Wulfiga verbeugte sich, sagte aber: „Ich bin Wulfiga. Der, vom dem du sprichst, ist ein Teil von mir und freut sich gerade sehr, dir wieder zu begegnen.“ Sie sahen einander schweigend an. „Unmöglich“, meinte Ânsgar. „Ich habe dich konsumiert.“ - „Ja, er erinnert sich. Das war eine interessante Erfahrung. Bevor du kamst, hatte ihn noch nie jemand so getötet. Damals sahst du anders aus. Du hattest mehr Hörner.“ Ânsgar hatte schon viele verrückte Sachen erlebt. Das hier war hirnrissig. „Wie hast du überlebt?“, fragte er. Wulfiga zog eine Augenbraue hoch. „Überlebt? Gar nicht. Er ist gestorben. Das ist aber nicht das, was du wissen willst, oder?“ Ânsgar sagte nichts und wartete ab, Wulfigas Grinsen entspannte sich in ein nachsichtiges Lächeln. „Du hast ihn gegessen und er ist nicht in dir aufgegangen. Er hat sich etwas neues gesucht und wollte nicht bei dir bleiben. Mich hingegen fand er interessant genug, damit er zu mir gehören wollte“, sagte er. Ânsgar wurde unwohl zumute. Er hatte Wulfiga sträflich unterschätzt. „Dann waren die anderen Geschmäcker, die ich wahrgenommen habe, von anderen, die in dir aufgegangen sind?“, fragte er, worauf Wulfiga bellend lachte. „Du hast drei Köpfe und von wie vielen Leuten den Verstand gestohlen? Trotzdem fehlt dir die Vorstellungskraft, dass es andere gibt, die dir ähnlich und doch ganz anders sind. Erbärmlich!“ Er stellte sich aufrecht wie eine Säule hin, breitete herrisch die Arme aus und zeigte mit offenen Klauen in den Nachthimmel. Im roten Zwielichtmondschein wirkte er wie ein Dämon aus den tiefsten Ebenen der Unterwelt. Ânsgar sträubte das Fell, er erwartete, jeden Moment angegriffen zu werden. „Ich - “, bebte eine Untertonstimme durch den Boden, in der Luft und auf seinen Ohren, die von Wulfiga ausging. „ - bin ein Drache des Universums, ein Mensch des Zweifels, eine Frau der Entdeckungen, eine Hyena voller Mut, eine Hybridin aus dem Schoß der Unschuld. Das waren die anderen, die du geschmeckt hast. Sie sind zu mir geworden. Fünf Herzen schlagen in mir, neben meinem eigenen. Deins wird das sechste sein.“ Er beugte sich wieder und seine Statur schrumpfte in sich zusammen. Eben war sich Ânsgar sicher gewesen, dass Wulfiga größer geworden war, jetzt war der verrückte Werwolf kleiner und kümmerlicher. Dessen Augen änderten wieder ihre Farbe in das beruhigende himmelblau und leuchteten nicht mehr. Ânsgar hatte etwas gespürt. Eine potenzierte Angst, die weit über alle Grenzen normaler Furcht hinausging. So überwältigend, dass sein Geist sie nicht erfasste - ähnlich wie bei plötzlich auftretenden Schmerzen durch eine tödliche Verletzung, bei der der Körper zunächst nichts oder nur dumpfe Kälte spürte. Er hatte sich stets für das mächtigste Wesen der Welt gehalten, da ihn bisher niemals jemand aufgehalten hatte. Bei Wulfiga war es anders. Sein überzeugter Stolz der Übermacht hatte einen Riss bekommen. Wulfiga rieb sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. „Jetzt hast du ihn doch wieder hervorgeholt“, meinte er. „Du bist krank“, sagte Ânsgar. „Du solltest gehen, sonst nehme ich dich auseinander.“ Wulfiga schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Selbst, wenn ich wollte. Ich brauche dich.“ - „Warum? Um deine durchgeknallten Ziele zu erreichen? Du bist ein Irrer.“ - „Und was ist mit dir? Du frisst Leute, weil du dich einsam im Herzen fühlst und du die Leere darin ausfüllen willst. Ist das nicht genauso verrückt?“, entgegnete Wulfiga und sah ihn kritisch an. Ânsgar schüttelte mit dem Lindwurmkopf. „Es geht hier nicht um mich. Du bist nicht nur irre. Wenn du wirklich der Alte von damals bist - wie auch immer das möglich ist - dann bist du größenwahnsinnig und kennst keine Grenzen. Weißt du, warum ich ihn damals konsumiert habe? Nicht nur, weil er eins meiner Opfer war, sondern weil ich merkte, wie gefährlich er gewesen ist. Du bist auch gefährlich. Entweder du gehst, oder ich werde dich umbringen.“ Wulfiga streckte abwiegelnd die rechte Klaue aus. „Schon gut, ich gehe!“, sagte er. „Aber gib dir selbst Möglichkeit, mich kennenzulernen. Du magst ihm nicht vertrauen, aber ich bin nicht nur er. Ich bin ich, ich bin der Werwolf Wulfiga.“ Ânsgar sah ihn schief an. „Du bist gespalten“, sagte der Wendigokopf. „Wie soll ich dir da vertrauen?“ Wulfiga hob ratlos die Arme. „Gar nicht. Du hast keine andere Wahl.“ Ânsgar schritt auf ihn zu und baute sich auf. Innerlich erschrak er, denn Wulfigas Aura war nicht mehr da. Das war unmöglich. Alles hatte eine Aura! Niemand war in der Lage, sie zu verbergen. Wer keine hatte, war tot. Aber selbst Leichen strahlten eine Pseudo-Aura aus. Keine zu besitzen war, als gehörte jemand nicht zur Welt. „Verschwinde von hier“, grollte er tiefdumpf. „Willst du denn nicht mehr wissen, woher ich dich kenne? Oder wer der Mensch ist, den du suchst?“ Er gab nicht auf. Dann eben mit Gewalt. Wulfiga mochte seltsam und das verrückteste Wesen sein, dem er je begegnet ist. Sonderlich flink war er nicht, Ânsgar erwischte ihn mit beiden Pranken an linker und rechter Schläfe. Eine Taktik, bei der der Angegriffene außer Gefecht gesetzt wurde, weil von beiden Seiten Druck auf den Schädel ausgeübt wurde und man das Bewusstsein verlor. Er setzte nur einen kleinen Teil seiner Kraft ein, was ausreichte, damit Wulfiga strauchelte, etwas sinnloses daher brabbelte und dann ohnmächtig umfiel.

 

Er brachte ihn nicht um. Dazu war Ânsgar die Information, wo sein Inua, sein Herz-Mensch war, zu wichtig. Aber bevor er ihm erlaubte, sich frei im Dorf zu bewegen, musste er die ganze Geschichte gehört haben. Es gab keinen Ort im Dorf, wo er ihn festhalten konnte, deshalb improvisierte er. Oft als Aberglaube verschrien, aber der Wahrheit nahe, hassten Werwölfe Silber. Er hatte nicht viel davon, aber genug, um ihn zu fesseln. Dazu reichten zwei Ketten einer alten Dame. Zum Glück waren sie lang, damit er die eine um dessen Hals, die andere um den rechten Arm befestigen konnte. Ihn festzubinden, war nicht nötig. Mit Silber am Körper war kein Werwolf mehr in der Lage, sich weiter als einen oder zwei Meter zu bewegen, bevor er unter Schmerzen zusammenbrach. Das Metall fühlte sich für sie wie Feuer an. Er hatte ihn zurück zur Scheune gebracht, dort auf das Heu gelegt und wartete jetzt. Er schloss die Augen seines Ligerkopfes und ließ ihn ausruhen. Der Wendigokopf war nachtaktiv und brauchte somit keinen Schlaf. Der Lindwurm schlief normalerweise um diese Nachtzeit, aber Ânsgar fand es zu riskant, mit nur einem Kopf über den Gefangenen zu wachen. Dadurch verringerte sich seine Reaktionszeit um zwei Sekunden, was ihn das Leben kostete, sollte Wulfiga sich doch befreien. Es dauerte eine Stunde, bis Wulfiga die Augen aufschlug, schwer einatmete und wehklagend die Schnauze verzog. Er griff mit der freien Klaue nach der Silberkette um seinen Hals, nur um sie zuckend sofort wieder wegzuziehen. Den anderen Arm konnte er nicht bewegen. Wie in Blei gegossen haftete er am Boden, egal wie er daran zerrte. Schnappatmung, Leid, Qual. Ânsgar genoss es, ihn so zu sehen. Wenn er ihm ähnlich war, und Leben genommen hatte, dann hatte er es verdient. Ânsgar verdiente es selbst, das wusste er. Er dachte an die Worte seines ersten Opfers, das ihm die Weisheit mitgegeben hatte, niemals zurückzusehen, niemals Schuld zu empfinden, niemals zu bereuen, niemals zu verzweifeln, egal welche Verbrechen er beging, solange er ein Ziel hatte, das er mit ganzem Geist, mit voller Seele und leidenschaftlichem Herzen verfolgte. Selbst wenn es die Unschuldigen traf, von denen es in den langen und vielen Jahren einige gegeben hatte. Dadurch hatte er gelernt, seine Schuld auf andere zu übertragen und sie als Stellvertreter für sich selbst zu sehen. So wie Wulfiga, der sich auf dem Boden hin und her wälzte, Geräusche von sich gab, als ob er erstickte und nicht vorstellbare Folter erlitt. Durch das Silber blieben keine Verletzungen zurück, keine physischen jedenfalls. Sein Geist aber würde sich für immer an den Schmerz erinnern, wenn jemand oder etwas die Stellen an Hals und Arm berührte.

Er war verwundert, wie Wulfiga sich aufbäumte, ihn flehend, aber trotzig und mit Schaum vor dem Maul ansah, und forderte: „Nimm sie ab! Nimm sie ab! Nimm sie ab!“ Danach brach er wieder zusammen. Er wäre an seinem eigenen Erbrochenen erstickt, als er auf dem Rücken lag und kotzte, sich aber nicht zur Seite bewegte, weil ihn die Halsketten niederdrückten. Ânsgar schob ihn mit einem Hinterlauf in die Seitenlage, sodass sein Gespeie herauslief und er wieder atmete. Widerlich. Ihn hatte Wulfiga erbärmlich genannt, aber wenigstens war Ânsgar sauber. Denn nachdem er erbrochen hatte, machte er sich nass und schiss sich ein. Er hatte keine Kontrolle mehr darüber. Die Scheune füllte sich mit dem Gestank von Wolfpisse und -scheiße. Unangenehm, aber aushaltbar. Ânsgar fand es übertrieben, wie Wulfigas Körper reagierte, weil er nur seelisch verletzt wurde. Er kniete nieder, sodass Wulfiga ihn sah. Seine himmelblauen Augen waren aufgerissen, die Pupille des einen Auges ganz klein, die des anderen geweitet. Er zitterte, zuckte und krampfte unentwegt. Ânsgar demonstrierte ihm, was es hieß, ihn herauszufordern, egal, wer er war und ob in ihm das Herz des Verrückten schlug, was für Ziele er hatte, oder wie machtvoll Wulfiga war. Er zeigte ihm, wie schwach er in Wahrheit war. So sehr, dass zwei dünne, leichte, zierliche Halskettchen ihn aufhielten. „Ich werde bis zum Äußersten gehen, Werwolf“, sagte er. „Mir egal, was du willst. Ich will zu ihm! Und du hilfst mir dabei.“ Wulfiga nickte unter Anstrengung, krampfte und erbrach erneut, ohne, dass etwas herauskam außer Galle. Ânsgar packte ihn grob, richtete ihn auf und nahm die Kette um seinen Hals ab. Wulfiga atmete sofort auf, hustete gurgelnd und zuckte immer noch. Er streckte ihm den Arm hin. „Bitte!“, sagte er, doch Ânsgar weigerte sich. „Das muss reichen.“ Zwar verkrampfte Wulfiga bei jeder Bewegung, aber die Schmerzen schienen erträglicher zu sein. Seine Lefzen zuckten, als er sagte: „Wir haben dasselbe Ziel. Bist du so blind, dass du das nicht siehst, Krüppelmonster?“ Ânsgar verschränkte die Arme. „So? Du willst ihn auch konsumieren?“, fragte er skeptisch. Wulfiga schüttelte den Kopf. „Nein, du Idiot, ich will zu ihm zurück und ihm helfen, mehr zu werden“, antwortete er, worauf Ânsgar kicherte. „Das ist die tragischste Liebesgeschichte, die ich je gehört habe. Der Held zieht aus, seine große Liebe für sich zu gewinnen. Bin ich in der Geschichte das Monster? Ich muss es sein. Weißt du, warum? Ich will ihn nicht zu mehr machen, denn er wird zu mehr werden, wenn ich ihn gegessen habe. Dann sind wir eins und ergänzen uns. Er wird mein Herz sein, dann werde ich endlich die tiefen Gefühle spüren, die jeder erfährt - selbst du. Und er wird geborgen sein, beschützt sein vor alles und allen, die ihn quälen, so wie ich dich quäle. Verstehst du das nicht? Er gehört zu mir! Wir ziehen uns an und müssen uns begegnen, damit wir endlich vollkommen werden. Daran führt kein Weg vorbei.“ Wulfiga setzte sich schwer atmend auf und achtete gar nicht darauf, dass er in seinem eigenen, stinkenden Unrat saß, der sich auf dem Boden verteilte. „Stimmt, das ist unausweichlich“, sagte Wulfiga und überraschte Ânsgar mit seiner Zustimmung. „Aber der Weg dahin wird anders sein, als du dir vorstellst.“ Ihn nervten die Rätsel, in denen er sprach. Er nahm die Kette wieder hervor, streckte den Arm aus, bis er über Wulfigas Bauch schwebte. Der packte seinen Oberarm mit der freien Klaue und versuchte, ihn wegzudrücken. „Was tust du da?“, fragte Wulfiga mit zusammengezogenen Brauen und panischem Blick. Sein Versuch, Ânsgar aufzuhalten, war armselig. Da war keine Kraft mehr, vor der man Angst haben musste. Er ließ die Halskette mit dem einen Ende herabfallen, sodass sie Wulfiga knapp berührte. Dessen Muskeln zogen sich sofort zusammen, er stöhnte laut und winselte zum Schluss. Ânsgar nahm die Kette wieder fort. „Du redest zu viel und dabei zu wenig. Ich will Antworten, die du mir verwehrst. Außerdem finde ich es sehenswert, wie du dich krümmst.“

Wulfiga atmete schnappend ein und aus. „Ihr seid euch ähnlich“, sagte er stimmlos. „Er ist so wie du. Er liebt es, andere zu opfern, um zu sehen, was passiert. Er versteht die Gefühle anderer nicht und seziert ihre Seele deshalb auf grausame Weise.“ - „Das freut mich zu hören“, meinte Ânsgar, doch Wulfiga schüttelte den Kopf. „Das sollte es nicht. Du bist genauso verzweifelt, wie er. Wenn du nicht mehr weiterweißt, quälst du alle um dich herum. Selbst die, die deine Freunde waren oder dich geliebt haben, nicht wahr?“ Ânsgar legte den Wendigokopf schief. „Erstaunlich, wie viele zutreffende Rückschlüsse du durch ihn auf meinen Charakter schließen kannst. Aber sag mir, was sind die Unterschiede? Wenn er nur mein Ebenbild ist, lohnt es sich für mich nicht, nach ihm zu suchen.“ Als Wulfiga nicht antwortete, lächelte er verschmitzt mit dem Ligerkopf. „Ich hatte gehofft, dass du dich verweigerst.“ Er ließ die Kette erneut sinken. „Warte, wa-ara-a-a-rgh!“ Ânsgar hatte das Ende zwischen zwei Krallen geklemmt, drückte es in Wulfigas Fell hinein und schob sie hin und her. Als der ausholte und nach Ânsgars Lindwurmkopf schlug, öffnete er kurzum das Maul und klemmte dessen Arm zwischen den Kiefern ein. Erst dann nahm er die Kette fort. Das Wölfchen atmete, als ob ein heißes Brenneisen über seine Haut gefahren war. „Er ... er hat viele ... Eigenschaften. Er ist ... tief verletzt, weiß weder, was er ist ... noch was oder wer er sein will“, presste Wulfiga hervor. „Obwohl er grausam ist -“ er krampfte, „ - ist er liebenswürdig. Ich wollte ihm helfen, war aber zu schwach. Ich ging und er blieb zurück in der Einsamkeit. Er weiß nicht, wohin mit seinen Gefühlen. Hier kommst du ins Spiel. Ich brauche dich, aber nicht lebendig, nur dein Herz. So steht es in seinem Traumtagebuch. Auf unserer Ebene wirst du sterben, nur dann begegnest du ihm.“ Ânsgar ließ die Kette los, sie fiel auf Wulfigas Unterschenkel, der bellte, jaulte, wimmerte, zuckte, zu entkommen versuchte. Es ging nicht. Er war gefangen, das Silber hielt ihn zuverlässig auf. „Der Name“, rumorte Ânsgar. „Sag ihn mir, sonst wirst du für immer das Silber tragen.“ Statt zu antworten, fiel Wulfiga zur Seite, wodurch die Halskette herunterrutschte und er erlöst war von der Pein. Seine Augäpfel zuckten unabhängig voneinander in alle Richtungen, was Ânsgar sogar ein wenig ekligerregend fand. Wulfiga versuchte, sich wieder aufzurichten, hatte keine Kraft mehr und fiel zurück, mit der Schnauze voran, sodass er sich dort mehrere Splitter vom Boden einhandelte, die er nicht spürte. Werwölfe waren stolze Wesen, stark, zuverlässig und kaum kleinzukriegen. Ânsgar hatte nicht vorgehabt, ihn so lange zu bearbeiten, aber Wulfiga ließ ihm keine Wahl.

„Damian ...“, murmelte er. Ânsgar horchte auf. „Ist das sein Name?“, fragte er und verglich den Klang und die Aussprache mit dem Geruch und Geschmack, den er verinnerlicht hatte. Sie passten nicht zueinander. Er zuckte verärgert mit den Lefzen. „Du lügst schon wieder“, grollte er. „Das ist ... mein Name“, stöhnte Wulfiga. „Er wird es sein.“ - „Ich habe dich überschätzt. Du hältst nicht so viel aus, wie ich gedacht hatte. Jetzt brabbelst du unsinniges Zeug“, meinte er abwertend. „Es ist nicht ... ich ... es ist mein urtümlicher Name“, sagte Wulfiga, zuckte und winselte. „Jetzt heiße ich noch Agelulf ...“ Ânsgar verzog die Augenbrauen des Ligerkopfes und taxierte ihn mit den Augen des Wendigos. Wulfiga sagte die Wahrheit. Ânsgar hatte einige Personen konsumiert, die im Verlauf ihres Lebens mehrere Namen trugen. Einen als Kind, einen als junge Frau oder junger Mann, einen als Familienoberhaupt, einen als Großvater oder -mutter, einen kurz vor dem Tod. Aber das hier war anders, Er verstand noch nicht, inwiefern. „Agelulf? Dann sind wir einen Schritt weiter. Ich nehme an, Wulfiga ist ein alter Name?“ Wulfiga, der in Wahrheit Agelulf war, nickte schwerfällig. „Warum, denkst du, interessiert mich, wie du jetzt heißt, welchen Namen du tragen wirst oder getragen hast? Mich interessiert nur der eine Name.“ - „Ich verrate dir meine Namen, weil ich dir vertraue“, sagte Wulfiga. Kaum ausgesprochen, reckte Ânsgar alle Köpfe in die Höhe und lachte laut. „Du vertraust mir? Nicht genug, sonst würdest du meine Frage endlich beantworten und dir eine Menge Schmerzen ersparen.“ Er fasste ihn an den Schultern, hob ihn auf und lehnte ihn aufrecht gegen die nächste Scheunenwand. Sein Arm hing trotzdem wie aus Metall gegossen nach unten. Ânsgar stellte fest, dass Wulfiga, oder Agelulf, ihn nicht hasserfüllt ansah. „Niemand kennt alle meine Namen“, erklärte der. „Die, die sie kannten, sind tot.“ Ânsgar verschränkte die Arme. „Aha. Der Kreis schließt sich. Du behauptest, ich werde bald sterben. Jetzt weiß ich, warum. Enttäuschend wegen unbedeutender Namen zu verrecken.“ Wulfiga sah ihn finster an. „Dein Tod ist viel bedeutender, als das“, sagte er, Ânsgar schwieg. Wulfiga krampfte und sog zischend die Luft ein. „Wenn du mir zuhören würdest, erkläre ich es dir.“ - „Nein“, widersprach Ânsgar sofort. „Weißt du, warum? Du scheinst mir etwas mitteilen zu wollen. Etwas, das so wichtig ist, dass ich es, nach deiner irren Logik, hören muss. Aber nur deshalb, weil du dann deinem Ziel näherkommst. Wenn ich mich also weigere, verändere ich etwas in deinem kranken Plan. Sag mir seinen Namen. Dann höre ich dir zu, ... Agelulf.“ Agelulf sah auf, die himmelblauen Augen schimmerten. „Unter einer Bedingung: du darfst ihn nicht aussprechen und nicht nach ihm suchen, sobald du ihn kennst“, sagte er. Ânsgars Schwanz peitschte aufgeregt hin und her. „Das entscheide ich dann, wenn du ihn mir sagst.“ Kurz entstand ein nonverbales Tauziehen zwischen ihnen beiden, indem sie einander, ohne zu blinzeln, ansahen. Aber bei sechs gegen zwei Augen hatte Agelulf keine Chance und sah zu Boden. Er schüttelte bedauernd den Kopf, krampfte leicht und entspannte vorsichtig. Nach einer weiteren verstreichenden Minute sagte er endlich: „Sein Name ist Erlik.“

Eine Explosion vor dem inneren Auge. Der Klang, die Aussprache, die Silben. Alles stimmte mit dem Geruch und dem Geschmack überein. Ânsgar nahm Witterung auf. Aber heute war es sonderbar. Es war kein Ziehen wie bei anderen Opfern, es war ein Schlag auf alle drei Köpfe, die ihre Instinkte neu ausrichteten. Erlik. Ja. Erlik. Das war der, der zu ihm gehörte. Der letzte fehlende und größte Splitter. Sein Geist bewegte sich im Taumel über viele Tagesreisen hinweg zu dem unbekannten Vertrauten. Fort, in ein großes Anwesen neben einer riesigen Stadt, nicht weit entfernt vom Meer der Mitte. Dort war er nicht, aber Ânsgar nahm die deutliche Präsenz wahr, mit der Erlik dort ausgewachsen war. Viele Spuren im Äther, die er hinterlassen hatte. Er verfolgte sie von dessen Kindheit an, bis zu dem Zeitpunkt, als er sein Elternhaus verließ. Er sah all die Episoden, die wichtig waren, alle nötigen und unnötigen Erfahrungen, die ihn geprägt hatten. Er sah Agelulfs schemenhafte Gestalt und wie Erliks Ätherpräsenz immer dann aufleuchtete, wenn sie miteinander zu tun hatten. Das - machte ihn auf merkwürdige Weise eifersüchtig. Der Wolf hatte ihm etwas voraus. Er sah Erliks sonnengleiches Strahlen, als er von Agelulf konsumiert wurde, sowie die finstere Schwärze, in die er stürzte, als er von jenem zurückgelassen worden war. Bald danach verließ er sein Heim. Ânsgar folgte der Spur bis zu einer anderen Stadt. Dort, in einem großen Gebäude, einer Bibliothek, saß er und lernte und grübelte und war in Gedanken versunken. Seine Aura war überaus fein und schlug sanfte Wellen in alle Richtungen, die sich mit denen anderer verbanden und sie beeinflussten. Jeder seiner Herzschläge erfüllte den Raum um ihn herum mit einem sanften Takt, den andere nicht hörten oder spürten, der sie aber dennoch beeinflusste. Ânsgar kannte den Takt. Es war sein eigener, der in derselben Geschwindigkeit, aber ungleich kräftiger schlug. Je länger er sich auf Erlik konzentrierte, desto schärfer wurden seine Umrisse, die wabernd blieben, aber einen kurzen Blick auf ihn gestatteten. Fast berührte er ihn. Mit jeder Sekunde war er sich sicherer und wurde aufgeregter. Das war er! Er war es! Sein Gegenstück, nein, seine Ergänzung. Wenn er ihn konsumierte, waren er und Ânsgar vollkommen. Endlich.

Als er wieder bei klarem Verstand war, beim leidenden Agelulf, der ihn schmerzverzerrt und trotzdem fasziniert betrachtete, hatte er sich mit den Gesichtern nach Osten gewandt. Dort war er. Erlik. Dreißig Tagesreisen entfernt. Wenn er sofort losging und sich beeilte nur fünfundzwanzig. Unbewusst tat er einen Schritt, als Agelulf sich unter größter Anstrengung und Pein vor ihn warf und am Bein festhielt. „Nein!“, prustete er, als ob ihm jemand mit einem Messer den Bauch aufschnitt. „Du darfst nicht zu ihm. Wir hatten eine Abmachung!“ Ânsgar sah mit dem Ligerkopf zu ihm hinab. Seine anderen Köpfe schauten losgelöst weiter in die Himmelsrichtung, in der Erlik wartete. Er trat nach Agelulf, so fest, dass ihm knackend eine Rippe brach. Der bellte jaulend auf und kauerte sich zusammen. „Ich habe nie gesagt, dass ich ihn nicht aufsuchen werde.“ Was bildete sich das Wölfchen ein? Er hatte so lange ausgeharrt, ihn jetzt endlich gefunden und sollte dann nicht zu ihm? „Du wirst alles kaputtmachen“, presste Agelulf hervor. „Du bist so egoistisch wie er, dadurch wirst du alles zerstören.“ - „Was zerstören?“, blaffte Ânsgar mit allen drei Köpfen. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du hier bist? Was willst du von mir?“ Agelulf hielt sich die Brust, er hustete und spuckte Blut. Die gebrochene Rippe war in seine Lunge eingedrungen. Er schien darüber überrascht und starrte das Blut auf der Klaue verwundert an, so als wäre etwas passiert, das in seinen Augen niemals hätte passieren können. Seine Atmung veränderte sich, wurde pfeifend, kraftlos, luftleer. Die verwundete Lunge füllte sich mit Blut. „Du stirbst“, sagte Ânsgar. „Ich habe dich zu fest getreten. Am besten, ich konsumiere dich. Dann bleibst du am Leben und ich weiß, warum du mich aufgesucht hast.“ Er kniete nieder. „Werwölfe schmecken ekelhaft. Euer Fleisch ist zäh und sehnig.“ Agelulf stieß ihn mit einem Hinterlauf an und schüttelte den Kopf. „Du bringst alles durcheinander ... Nimm das Silber ab. Dann werde ich nicht sterben.“

Ânsgar war versucht, ihn liegen zu lassen und zu gehen. Das wäre seine normale Reaktion gewesen. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, dankbar zu sein, weil vermeintlich selbstlose Geschenke, Aufmerksamkeiten oder andere Zuvorkommnisse in Wahrheit eine Verbindung aufbauten, die später zu Verpflichtungen führten. Das hatte er gelernt, als er noch keine drei Köpfe gehabt hatte und nicht als Ungeheuer beschimpft worden war. Die Welt kümmerte sich nicht um einzelne Schicksale. Nur die Starken überlebten. Aber ein Gedanke hielt ihn zurück, brachte ihn dazu, einen quälenden Moment innezuhalten und Agelulf nachdenklich zu betrachten. So verrückt der war, lag ihm etwas an Erlik. Mehr, als es seiner Natur nach sein dürfte. Er behauptete, dasselbe Ziel zu verfolgen wie Ânsgar. Was war dessen Ziel? Vervollkommnung. Und dann? Das wusste er nicht. So ungewöhnlich der Gedanke war, aber war es wichtig, weiterzuleben, wenn er sich Erlik einverleibt und die Vollkommenheit - ihrer beider Vollkommenheit - erreicht hatte? Wenn er das einzige, wichtigste und letzte Ziel seines Lebens verwirklichte, was fing er mit dem Rest der Zeit an? Er schob den Gedanken zur Seite und fragte sich, was Agelulfs Ziel war? Auch die Vervollkommnung? Seine oder Erliks? Er hatte die Echos der Vergangenheit im Äther gesehen. So, wie Erlik ihn scheinbar geliebt hat, liebte Agelulf Erlik. Im Rückschluss war es ihm ein Anliegen, dass es Erlik gut erging. Dass er ihm half. Aber warum so umständlich? Warum war er nicht dortgeblieben und hatte sich den Gefühlen hingegeben, die er so offensichtlich empfand? Gefühle, nach denen Ânsgar seit seinen frühesten Erinnerungen suchte?

Er streckte die linke Pranke aus und nahm die Silberkette von Agelulfs Arm. Er spürte, dass dieser Moment an einem anderen Ort, in einer anderen Welt, anders ausgegangen wäre, und er ihn sterben ließ. Der verrückte Kerl - jetzt erinnerte er sich, sein Name war Okka gewesen - hatte ihm erklärt, dass mit jeder Entscheidung eine Gegenentscheidung getroffen wurde, die woanders verwirklicht wurde. Aber hier entschied er sich, zu bleiben und Agelulf am Leben zu lassen, der mit tiefster Erleichterung aufseufzte. Kaum hatte er das Silber abgenommen, hörte er leises, dumpfes Knacken. „Viel besser“, sagte der. Ânsgar nahm ihn am Arm und zog ihn unnachgiebig hinter sich her. Agelulf zappelte und wehrte sich knurrend und grollend ohne Worte, aber das nützte ihm nichts, Ânsgar schleifte zu einer Stelle, an der einige Felsen aus dem Boden ragten. Er schleudert ihn gegen sie. „Du sagst mir jetzt, warum du hier bist“, forderte er. „Es gibt noch andere Möglichkeiten, jemanden zu brechen.“ Agelulf hob das Haupt und sah ihn triumphierend an. In nur einem Augenblick hatte sich das Gefälle latenter Macht zwischen ihnen umgekehrt. Ânsgar hatte nachgegeben und genau das getan, was Agelulf gewollt hatte. Das war ein Fehler gewesen, den er nicht ändern konnte. „Ich werde dir alles erzählen, damit du endlich verstehst und uns beide nicht in den Abgrund reißt“, sagte er. Das, was Ânsgar heraushörte, war ein niederträchtiges „Jetzt habe ich dich!“ Er hörte zu. Lange. Obwohl Agelulf zu Beginn Blut spuckte, hielt ihn das nicht davon ab, ihm einen Abriss Ânsgars Lebensgeschichte vorzutragen und woher er all seine Kenntnisse darüber hatte. Er zeichnete ihm dessen Werdegang nach, den er unmöglich wissen konnte. „Ânsgar Trismégistos, der dreifach Erhöhte, nachdem er sich die Bestien Shub’ad, Nebukad und Girful einverleibt hat. Den Lindwurm der brennden Berge, den Wendigo der Grauwälder und den Liger-Bastard der Savanne. Die Chimäre warst du aber schon vorher. Du hast viele gefräßige Köpfe in deinem Leben gehabt. Viele Namen, viele Ehrentitel. Von einigen wurdest du als Prophet verehrt, der den Aschenkönig ankündigen soll. Als die Chimäre von Kalle’don. Sie hatten nicht unrecht.“ - „Sie waren Dummköpfe“, meinte Ânsgar abschätzig. Agelulf kicherte stimmlos. „Ja, waren sie. Du hast sie alle gegessen. Aber hast du auch darüber nachgedacht, dass sie genau das wollten, um ihrem Heiligen zu begegnen? Davor warst du die klerikale Bestie des Dorn und hast dich zur Schlampe eines Großbischoffs gemacht, von dem du dich hast ficken lassen, bevor du ihn aufgegessen hast. Aber sei es drum. Das spielt keine Rolle. Alle deine Namen und Titel sind bedeutungslos, bis auf einen. Der Wärter und Wächter der Gruft Dynyols.“

Die Dynyols. Wie lange war das her? Vierhundert Jahre, oder sogar fünfhundert? Mehr? Er hatte aufgehört, sie zu zählen, nachdem er zweihundert Sommer alt geworden war und es niemanden mehr gegeben hatte, der wusste, wie alt er war. Es hatte keine Bedeutung mehr gehabt. Die Dynyols waren machtvoll und gefährlich gewesen. Zu gefährlich für die Welt. In ihnen konzentrierte sich eine seltene Form der Allmacht. Nicht politisch, nicht weltlich. Sie kontrollierten den Geist, den Willen, das Denken aller Personen in ihrem Umfeld. Sie manipulierten, nicht immer zu ihren Gunsten, sondern um einem unbekannten Plan zu folgen, von dem niemand wusste, was dessen Ziel war. Ânsgar war mit ihnen befreundet gewesen, hatte sie kennengelernt, ihnen vertraut und sie dann, als er schon eine Chimäre war, ihren Stammbaum bis in den unbedeutendsten Ast ausgelöscht. Sie hatten ihn benutzt und verraten. Er hatte sie nicht konsumiert, sondern getötet. Sie waren eine zu große Gefahr geworden, die es aufzuhalten galt. Doch ihr Einfluss reichte über ihren Tod hinaus. Deshalb war es seine Aufgabe gewesen, ihre Verehrer und Anhänger von ihrer Gruft fernzuhalten und jeden zu töten, der sie betrat. Sie hatten Ideen in die Welt gebracht, die erst nach ihrem Ableben die größten Früchte trugen und Katastrophen verursachten. Auf ein Jahrhundert des Wohlstands folgte eines der Krisen und des Leids. Solange hatte Ânsgar ihre Gruft bewacht, bis niemand mehr kam und sie in verdiente Vergessenheit gerieten. Damals war er sich sicher, die Dynyols waren im Nebel der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Endlich. Er hatte Schreckliches wegen ihnen erfahren. Warum war sein Titel als Wärter und Wächter ihrer letzten Ruhestätte deshalb so wichtig? „Ich weiß genau, was dir durch den Kopf geht“, sagte Agelulf, Ânsgar horchte auf. Es war erstaunlich, wie schnell er sich erholt hatte. Von seiner gebrochenen Rippe schien er nichts mehr zu spüren. „Ich weiß es, weil Erlik es aufgeschrieben hat. Lange bevor ich wusste, dass wir uns heute begegnen werden. Lange bevor ich wusste, dass es dich gibt und du kein Hirngespinst seiner Phantasie bist.“ Ânsgars Hälse zogen sich zu. Aufgeschrieben? Hatte er nicht von einem Traumtagebuch gesprochen? Er ahnte, was Agelulf verrückt grinsend bestätigte. „Erlik. Wer, denkst du, ist er? Du hast ihn im Äther gesehen, nicht wahr? Wie viele hinterlassen dort sichtbare, prägende Spuren? Ich kenne niemanden. Sein voller Name lautet Erlik oddi Dynyol. Er ist ein Nachfahre. Er wird der Aschenkönig werden, den deine Anhänger verehrten. Ich werde ihn dazu machen. Deshalb sammle ich Herzen, wie deines.“ Ânsgar war nicht halb so schockiert, wie er dachte. Im Gegenteil war er - froh? Er hatte die Dynyols zuerst geliebt, dann verachtet. Sie waren die einzigen gewesen, mit denen er sich nicht unvollkommen und leer gefühlt hatte. Sie waren lange gut zu ihm, als er bei ihnen gelebt hatte. Nachdem er sie umgebracht hatte, bedauerte er, nicht wenigstens eins ihrer Mitglieder verschont zu haben. Das war freilich unmöglich gewesen. Sie hätten die Welt in Finsternis gestürzt. Er zweifelte nicht eine Sekunde an Agelulfs Worten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er es gewusst, als der ihm Erliks Namen genannt hatte. Trotzdem fragte er sich, wie einer von ihnen überlebt hatte? Ihr Geruch war markant und unverwechselbar überall auf der Welt. Er war damals durch alle Lande gezogen, um jeden Einzelnen zu finden. Die Witterung, die er aufnahm, ließ ihn nie im Stich. Wen hatte er vergessen? Zwar stichelte ihn die Frage, aber im Grunde war das egal. Sie waren wieder da. Erlik, sein fehlendes Herz, war einer von ihnen. Damals hatte er die Gefahr gespürt und gehandelt. Heute war sie ihm gleichgültig. Das Schicksal hatte ihn zu oft betrogen, er wollte nur komplett werden. Außerdem vernichtete er den Stammbaum erneut, wenn er ihn konsumierte. Problem gelöst, wenn da nicht Agelulf wäre. Sie belauerten sich gegenseitig. Trotz aller Selbstsicherheit, wusste er scheinbar nicht, wie Ânsgar reagierte. Der legte den Wendigokopf schief. „Erzähl mir mehr“, sagte er, worauf Agelulf sich entspannte.

 

*25. Nacht des 10. Mondes im Jahr 3785 n. d. Aufbruch 

Ich träume seit Wochen von einem Gequälten. Einem, der sucht, aber nicht findet. Er ist mir ähnlich. Ich fühle mich verbunden, obwohl wir durch die Zeit und durch Welten voneinander getrennt sind. In keinem einzigen Traum begegne ich ihm selbst, ich bin nur ein Beobachter. Nicht einmal eine Randfigur. Nur ein Geist, der nicht fassbar ist. Er hat drei Köpfe, die sich nicht deutlich zeigen. Einer ein Drache, einer ein Löwe (?), der letzte ein Schädelwesen. Sie sind Masken oder Zusätze, die ihm nicht gehören. In einem weiteren Traum erhasche ich für einen kurzen Moment seine ursprüngliche Gestalt. Leider ist es mir unmöglich, sie zu beschreiben. Die Erinnerung daran ist ausgelöscht oder versteckt, so als will mein Unterbewusstsein verhindern, dass ich zu viel erfahre. Sein Weg beginnt mit Schwierigkeiten, sein Ende ist Erlösung. Als Kind ist er ein Rüpel und ärgert oft andere, dabei ist er liebenswürdig und geht nie zu weit. Er beschützt die, die er sonst neckt, mit verbissener Härte. Es gibt nur eine Sache, die ihn von anderen unterscheidet: Er hat ständig Hunger. Zuerst wird er deshalb Vielfraß genannt und dass er fett würde. Später, als er größer wird, bekommen die Leute - Familie, Verwandte, Freunde - Angst vor ihm und ziehen sich zurück. Zum Schluss schließen sie ihn aus, aber da ist es zu spät, denn er hat einen von ihnen gegessen. Einen Menschen. Keinen aus seiner Familie, sondern einen, den er begehrt, den er unbedingt bei sich zu haben trachtete, für immer. Das verwandelt ihn in ein Monstrum, sein Hunger wird größer. Er wird zur Bestie, wird davongejagt und überlebt alleine in der Wildnis, auf sich gestellt. Ich weiß noch, dass er jemanden findet, der ihn so annimmt, wie er ist. Oder waren es mehrere? Sie nehmen ihn auf, geben ihm ein Zuhause, füttern ihn. Im Traum von vorletzter Nacht war ich eines seiner Opfer. Ich erinnere mich nicht an viel. Nur daran, dass ich durch die Dunkelheit in der Nähe eines Schlosses laufe - ein Garten? Ein Heckenlabyrinth? Der Gequälte jagt mich, brüllt, zischt, kreischt hinter mir her. Als ich mich umdrehe, weil ich glaube, dass er bei mir ist, ist er fort. Doch sobald ich weiterrenne, rempele ich gegen ihn. Er starrt mich mit violetten Augen an. Ich sehe seine blitzenden Zahnreihen im Zwielicht, die sich nach oben und unten voneinander entfernen. Dann wache ich auf.*

 

„Hast du das Buch auswendig gelernt?“, fragte Ânsgar skeptisch. Agelulf stützte sich ab und erhob sich, trotz seiner Verletzungen. Zwar strauchelte er nach vorne, hielt sich aber an Ânsgars Arm fest, den er ihm hinhielt. Beiden waren überrascht von der Geste. „Danke“, sagte Agelulf leise und nickte. „Ich kenne jedes Wort des Traumtagebuchs. Ich kann nicht lesen, deshalb musste ich es lernen.“ - „Hast du es verloren?“, fragte Ânsgar, er hätte es gerne mit eigenen Augen gelesen. Agelulf verneinte. „Jemand bewahrt es für mich auf. Es wäre ein Fehler, es mit hierher zu bringen. Du weißt, warum.“ Er hatte recht. Ânsgar hätte es ihm weggenommen und ihm dann doch umgebracht. So hatte er ein Druckmittel und Geheimnisse, die er wohldosiert einsetzte. Er schob seinen Arm unter Agelulfs Achseln hindurch, stützte ihn und torkelte mit ihm in Richtung Brunnen in der Dorfmitte. Dabei achtete er vor allem mit dem Wendigokopf auf Veränderungen, die ihn vorwarnten. Bisher ging keine Gefahr von ihm aus, er hatte keine Rachegelüste. Wenn doch, versteckte er sie perfekt, was unmöglich war. „Wie viel weiß er über mich?“, fragte er, während er mit ihm quälend langsam voran humpelte. Agelulf lachte lautlos auf. „Er weiß alles über dich, aber gleichzeitig nichts, denn er glaubt, dass es nur Träume waren. Er kann sich nicht vorstellen, dass alles, was er erträumt hat, in dem Moment unausweichlich wird, sobald er es niederschreibt.“ Ânsgar überlegte einen Moment. Nach Agelulfs Worten war Erlik ein Schicksalsbote. „Solange er es also nicht aufschreibt, bleibt alles veränderlich? Das ist profan.“ Agelulf schüttelte den Kopf. „Seine Träume erschaffen, aber erst, wenn er sie aufschreibt, verhaftet er sie in unserer Welt und unseren Leben.“ Ânsgar spuckte mit dem Ligerkopf aus und entgegnete verächtlich: „Trotzdem hast du Angst, dass ich alles kaputtmache. Wie billig!“ Darauf krallte Agelulf sich in seinem Fell fest und starrte ihn an. „Ja, habe ich. Einmal bin ich mir trotz allem, was ich gesehen habe, nie sicher, ob es wirklich so passiert, wie angekündigt. Und dann sind seine Einträge oft nicht eindeutig.“ - „Sie bedeuten also alles und nichts. Merkst du eigentlich, dass du dich selbst belügst?“, fragte er und erntete geringschätzige Blicke. „Das sagt das Ungeheuer, das glaubt, sein Herz in ihm gefunden zu haben.“ Agelulf lächelte süffisant. „Es ist erbärmlich, dass gerade du meine Worte als Humbug abtust. Du hast viel länger gelebt als ich und Merkwürdigeres gesehen. Trotzdem weigerst du dich, die Wahrheit anzunehmen. Aber ich verstehe das. Wenn du meine Wahrheit anerkennst, erkennst du an, dass du in deiner jetzigen Form Erlik niemals begegnen wirst. Du denkst, dass du die Wahl haben wirst, solange du nur zuhörst. Doch das bringt dir nichts.“ Ânsgar ließ ihn los. Er regenerierte schnell, aber nicht schnell genug, damit er wieder bei Kräften war. Agelulf fiel zu Boden und verhinderte gerade noch, mit dem Kopf gegen den Steinbrunnen zu stoßen. Dabei kam er mit der Brust auf dem Boden auf. Er zischte schmerzvoll, grollte und knurrte und warf Ânsgar boshafte Blicke zu. „Für heute bleibst du hier. Der Brunnen ist gefüllt mit Wasser“, sagte der tonlos.

Er blieb bei ihm. Sein Misstrauen war nur größer geworden, nicht weniger. Agelulf war eingeschlafen. Zwar hatte er erst genächtigt, aber er war erschöpft von den Folterqualen. Sie hatten nicht mehr miteinander gesprochen. Jetzt sah er diesem hinterlistigen Werwolf beim Pennen zu und spürte das seltsame Gefühl, ihn unbedingt beschützen zu müssen. Er sah friedlich aus, wie er zusammengerollt neben dem Brunnen lag, die Augen geschlossen, alles entspannt. Agelulf atmete durch die Schnauze ein und sein Maul wieder aus. Weil es aber geschlossen war, schlabberten die Lefzen und machten ein komisches Geräusch. Ânsgar wollte es nicht, schmunzelte aber in sich hinein. Er fühlte Emotionen, das war neu. Es war anders. Aber es war widersprüchlich, dass er sie für ihn fühlte. Er erklärte sich das damit, dass er mehrere Jahre bei Erlik gelebt hatte, wodurch sich dessen Wesen zum Teil auf ihn übertragen hat. Ja, so war es. Er weigerte sich, zu glauben, für Agelulf etwas zu empfinden. Zumindest nicht mehr als Körperlichkeiten. Das allein war für ihn schon unter seiner Würde gewesen, obgleich es eine Wohltat war. Er hatte das viele Jahre nicht mehr getan, weil er Ekel vor anderen empfand. Er fragte sich, ob er dieselben Gelüste bei Erlik hatte, sobald er ihm begegnete? Sollte er ihn sofort konsumieren, oder sich an und mit ihm befriedigen? Aber er war ein kleiner Mensch, Ânsgar mehrfach so massig. Von seinem Geschlechtsteil gar nicht zu reden. Eher nicht, aber die Vorstellung war ... anregend. Abgesehen davon stellte er sich vor, wie eine erste Begegnung mit ihm aussah. Mit dem Wesen, das zu ihm gehörte und nur für ihn von der Welt geboren wurde - um sein Inua, sein Seelenherz zu werden. In seiner Vorstellung folgte er Erliks Fährte bis in die Stadt, in der er war. Er wartete dann bis zur Nacht, um ungesehen in das Gebäude einzudringen, in dem er lebte. Dort suchte er ihn auf. Wenn er schlief, setzte er sich neben ihn, um ihn still zu betrachten, bis er die Augen aufschlug. Wenn er wach war, sprach er ihn an und stellte sich als der vor, der er war. Ânsgar war sich sicher, dass Erlik nicht schreien würde. Erschrecken, ja, aber nicht um Hilfe rufen. Ab hier war es schwer, sich den Verlauf weiter vorzustellen, da er sich selbst nicht darüber klar war, wie er reagierte. Am liebsten würde er mit ihm sprechen und ihn kennenlernen, obwohl das überflüssig war, da er ohnehin alles über ihn erfuhr, sobald er ihn konsumierte. Aber darum ging es ihm nicht, sondern um das Vertrauen. Er wollte sicher sein, dass er der war, den er letztlich gesucht hatte. Es war genauso möglich, dass er ihn sofort auffraß, wenn er ihm in die Augen sah, oder ihn ihm Schlaf vorfand, weil seine Instinkte es ihm geboten. Er wusste es nicht. Was er sich wünschte, war eine Umarmung von einem, der ihn bis in die kleinste Faser von Körper und Geist verstand. Den Schmerz, die Furcht, die Hoffnung, die Enttäuschung, die Sehnsucht, die Erlösung. Alles. Eine Umarmung würde beweisen, dass sie zueinander gehörten, wenn sie nicht mehr voneinander abließen. Sie wäre der erste Schritt zu ihrer neuen Existenz. Wenn er ihn nicht sofort aufnahm und sein Verlangen unter Kontrolle behielt, wünschte sich Ânsgar, ihn eine Weile zu begleiten, um zu sehen, wie er lebte und erlebte, wer er war - und welchen Einfluss er als ein Nachfahre der Dynyols hatte.

 

All das beschäftigte ihn bis in die Morgenstunden des nächsten Tages hinein. Er schlief abwechselnd mit je zwei Köpfen und blieb mit einem wach. Als die ersten Sonnenstrahlen seine Gesichter berührten und er die Augen aufschlug, platzte Agelulfs Kopf auf. Ânsgar erschrak, sprang auf. Was war passiert? Hatte jemand auf sie geschossen? Er fuhr herum, zischte, knurrte, grollte. Kein fremder Geruch, keine Aura, die sich versteckte, keine verräterischen Geräusche. Trotzdem eilte er auf allen vieren durch das Dorf. Um sicherzugehen, überprüfte er die Barriere am Dorfeingang und sogar seinen Geheimpfad durch den Sumpf. Es war niemand da, er war alleine. Agelulfs Kopf war ohne Fremdeinwirkung geplatzt. Er kehrte zurück zum Brunnen. Der Werwolf lag da, als schliefe er. Was immer passiert war, er hatte nichts gespürt. Ânsgar näherte sich dem Leichnam und betrachtete den Kopf genauer. Sein Gesicht war fast unversehrt, nur ein Auge war aus der Augenhöhle gedrückt worden und hing schlaff herab. Die Schädeldecke war völlig zertrümmert, genauso das Gehirn. Das meiste davon war über einen Meter rundherum verstreut. Er fragte sich, ob etwas in seinem Kopf gewesen war und sich befreit hatte. Es gab Parasiten, die das Gehirn befielen, die aber zu klein waren, um so einen großen Druck von innen aufzubauen. Telekinese? Hatte jemand ihn aus der Ferne getötet? Ânsgar hatte bisher nicht an sowas geglaubt. Was es auch gewesen war, hatte ihn von innen umgebracht. Das erleichterte ihm einiges, denn jetzt konnte er Erlik aufsuchen, ohne von ihm verfolgt zu werden. Praktisch. Obwohl es ein neues Rätsel war, mit dem er erneut konfrontiert wurde. Agelulfs Leiche hatte keine Aura mehr. Jedes Ding und Wesen hatte eine. Warum er nicht? Das machte keinen Sinn.

„Tut mir leid, das passiert manchmal“, sagte eine vertraute Stimme neben ihm. Ein Schatten fiel auf ihn, der die Morgensonne zurückhielt. Ânsgars Herz pochte mehrere Takte schneller und er stierte mit allen Köpfen auf den Ursprung der Worte. Dort stand Agelulf. Leicht gebeugt, lebendig und unversehrt. Was - ? Er sah zurück zu seinem Leichnam, der weg war. Verschwunden. Aber dort, wo er eben gelegen hatte, war trotzdem ein Loch, in dem keine Aura strahlte. Er hatte sich das nicht eingebildet, Agelulfs Kopf war geplatzt und er war gestorben. Was war er, wenn weder lebendig noch tot? Ânsgar spannte seine Muskeln an und grollte. „Erklär mir das!“, forderte er dunkel. Agelulf schien ratlos deswegen und beschwichtigte gestikulierend: „Ich - ! Weiß nicht wie! Es ist schwer, zu erklären.“

Ânsgar öffnete alle Mäuler und zeigte ihm seine Zähne, die er einsetzte, wenn er keine Antwort erhielt.

 

*12. Nacht des 12. Mondes im Jahr **83 n. d. Aufbruch 

Ich hatte Kontakt mit etwas, das ich nicht verstehe. Es fällt mir schwer, die Sätze zu schreiben, weil es keine Worte für das gibt, was ich im Traum erlebt habe. War es denn einer? Oder war es eine Ahnung? Es war eine Verbindung, ich bin mir sicher. Darüber hinaus gibt es nur Gleichnisse und Metaphern, mit denen ich beschreiben kann, was bei mir gewesen ist. Oder ich dort.

Ich stelle mir einen Käfer vor, dem ich versuche zu erklären, wo er ist und was ich mit ihm vorhabe, zum Beispiel ihn zu zerquetschen. Der Käfer versteht mich nicht. Warum? Weil sein Geist nie die Fähigkeit entwickelt hat, über mehr nachzudenken als fressen, ruhen und überleben. Selbst wenn ich die einfachste Art der Kommunikation über profane Worte oder Laute wähle, versteht er mich nicht, weil er nicht weiß, was das ist und kein Muster in beidem erkennt, da er nichts von jenem Muster je gelernt hat zu durchschauen. Aus seiner Sicht hätte er nicht einmal Kenntnis darüber, wie viel höher ich entwickelt bin. Er nimmt es schlicht nicht wahr.

So erging es mir mit dem Wesen, mit dem ich eine Verbindung aufgebaut habe. Den Vergleich heranziehend war ich der Käfer und das Wesen so hoch entwickelt, dass - ich weiß es auch nicht - die Zeit für es ein Berg oder ein Tal oder eine Höhle, ein Tunnel, ein Haus, irgendetwas war. Ich glaube, dass es mich wahrgenommen hat, so wie ich einen Käfer bemerke, wenn er über meine Hand krabbelt. Es hat mich gesehen und betrachtet und versucht, mit mir zu sprechen. Aber ich verstand nicht. Mein Geist und meine Seele sind nicht weit genug aufgestiegen, nicht hoch genug entwickelt. Ich denke, es wollte mir etwas Wichtiges sagen. Wenn nicht, hätte es mich zerquetscht, wie ich einen Käfer. Aber es ließ mich am Leben und krabbeln. Für uns gibt es vor und zurück, rechts und links, oben und unten. Zum Schluss die Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wahrgenommen als Geburt, Leben und Tod. Aber das Wesen erlebt mehr als das. Lebt in mehr als das. Die Zeit ist für es sichtbar, wie für uns ein Weg durch ein Getreidefeld. Es kann ihm folgen, oder neue Wege durch das Feld mit einer Sense schlagen. Die Halme des Getreides sind Welten, die es zerstört, um sich einen Pfad zu schaffen. Leben wir in einer jener Welten, die in diesem Augenblick mit einer Sense zerschnitten wird? Ich hoffe nicht. Ich glaube es nicht, weil ich mich nicht bedroht fühlte. Zwar kann ich nicht wissen, wie und ob eine solche Wesenheit Gefühle verspürt, wie ich sie erfahre. Andererseits hat ein Käfer mit Sicherheit Angst, wenn er einem Fressfeind begegnet - das heißt, er fühlt, wenn auch nur rudimentär. Meine Gefühle sind für das Wesen womöglich ebenso einfach, aber trotzdem verständlich. Vielleicht ist das die Sprache, über die ich gesprochen habe. Da war unendliche Wärme, die mich umhüllte und die Angst hinfort fegte, bevor es mich zurück in meinen unbedeutenden Körper katapultierte, in dem ich tränenüberströmt aufwachte und mir einsam und zurückgelassen vorkam.*

 

„Manchmal kommt es vor, dass sich zwei Weltenlinien überschneiden“, sagte Agelulf ungelenk. „Alternative Realitäten?“, fragte Ânsgar und belauerte ihn. „Ja und nein. Es ist nicht in Worte zu fassen. In jeder von ihnen existiert eine Version von uns. Normalerweise wissen wir nichts voneinander und berühren uns nicht. Aber ich schon. Dann versuchen beide Alternativen, denselben Platz einzunehmen. Das lässt das Universum aber nicht zu und sorgt für einen Ausgleich. Was dann passiert, hast du gesehen.“ Ânsgar agierte schnell und packte ihn an Hals. Er würgte ihn und hob ihn an. Einen Meter über dem Boden baumelte Agelulf, röchelte, gurgelte und schlug auf Ânsgar ein, damit er ihn losließ. „Komm auf den Punkt, sonst werde ich dich endgültig töten - hier in unserer Welt“, zischte er mit dem Lindwurmkopf und ließ Agelulf fallen. Der hielt sich schmerzvoll den Hals und hätte geknurrt. Heraus kam nur ein kratzendes Ziehen. „Ich bin gestorben, weil ich mir selbst zu nahe kam“, antwortete er. „Wenn zwei Alternativen von mir miteinander agieren, ziehen sie sich an und verschmelzen. Aber das ist ein übler Trick, den das Sein verhindert, indem es einen von beiden umbringt.“ - „Was für eine gequirlte Scheiße“, sagte Ânsgar geringschätzig. „Es ist die Wahrheit“, erwiderte Agelulf und stand auf. „Ich glaube dir“, sagte Ânsgar mit dem Wendigokopf und bemerkte dabei, wie verwirrt Agelulf war, da er nicht wusste, welchen seiner drei Köpfe er ansehen sollte. „Trotzdem ist es gequirlte Scheiße.“ Nachdem sich der Schreck gelegt hatte, entspannte er sich. „Dir ist das schon öfter passiert?“ Agelulf zuckte mit den Schultern. „Vorher schon zweimal. Es ist zwar schwer zu erklären, aber nicht so kompliziert. Eine meiner Alternativen stirbt und der Überlebende nimmt dessen Platz ein.“ Ânsgar dachte darüber nach. „Und in der Alternative? Dort bist du dann tot?“, fragte er, doch Agelulf schüttelte den Kopf. „Nein, dort existiert er auch noch. Aber wir sind wieder voneinander getrennt, so wie es sein muss. Nur die verschmolzene Form ist tot.“ Ânsgar atmete tief durch. „Klingt immer noch bescheuert“, sagte er. „Nur so erreichen wir, was wir wollen.“ - „Was du willst. Ich soll ja sterben.“ - „Das ist unausweichlich“, sagte Agelulf und nickte. Er war genervt davon, dass Agelulfs das ständig wiederholte. „Wir werden sehen“, entgegnete er und blieb misstrauisch. Ânsgar spürte, dass er etwas verbarg. Er spielte offen und verständig, dabei war dieser Wolf hinterlistig. Dass er ihn brauchte, wenn er tot war, mochte der Wahrheit entsprechen. Aber nicht für das, was er ihm gesagt hatte. „Du bist ihm so ähnlich“, sagte Agelulf, sodass er aufhorchte. „Du meinst Er-“ - „Schnauze!“, bellte Agelulf. Er grollte ihn an. „Ich habe dir gesagt, dass du seinen Namen nicht aussprechen darfst! Das verändert zu viel.“ Für die Frechheit, ihn zu unterbrechen, hätte Ânsgar ihm die Nase neu ausgerichtet. Andererseits hatte er das Silber, das er sich für einen späteren Zeitpunkt aufhob. „Du sagst ständig, dass ich ihm ähnlich bin. Weshalb diesmal?“, fragte er und überging seinen Ärger. „Weil er hinter allem etwas erwartet, das gegen ihn ist. Du denkst genauso. Je länger ich mit dir zu tun habe, desto deutlicher wird es. Weißt du eigentlich, wie es ist, jemandem gegenüberzustehen, der enger mit ihm verbunden ist, als man selbst, obwohl ich ihn bis zur Erschöpfung liebe?“ Ânsgar zuckte mit dem Ligerkopf zurück. „Liebe? Du willst mir erzählen, du liebst ihn? Schwachsinn.“ Er hatte einen wunden Punkt erwischt. Agelulf ging sofort in Angriffsstellung und fletschte die Zähne. „Du! Hast überhaupt keine Ahnung! Was willst du mir weismachen, Krüppel?“ - „Was ist denn Liebe“, fragte Ânsgar und drängte ihn in eine rhetorische Ecke, da Agelulf nichts zu antworten wusste. „Liebe ist alles und nichts und Körper und Blut und Fleisch!“, antwortete der energisch. „Und so viel mehr noch! Sie ist Hass, sie ist Sehn- und Eifersucht, sie ist Erfüllung!“ Ânsgar lachte ihn aus. „Du belügst dich doch selbst. Wenn du so denkst, liebst du niemanden.“ Agelulf spitzte die Ohren und sah ihn überrascht an. „Verspottest du mich?“, fragte er und geiferte: „Du hast keine Ahnung!“ - „Mehr als du.“ Es war aufschlussreich zu sehen, wie schnell sich Agelulfs Charakter erneut veränderte. Seine Augen wurden wieder weiß. Er hatte es mit der anderen Persönlichkeit zu tun, die das Wölfchen regelmäßig überwältigte. Agelulf verschränkte die Arme und stand aufrecht und arrogant vor ihm. „Ach? Dann erkläre es mir. Was ist sie denn sonst?“, fragte er und forderte ihn heraus. Ânsgar antwortete: „Ein Wort. Was sonst? In anderen Ländern haben sie andere Worte für dasselbe, das niemand beschreiben kann. Wie willst du etwas erklären, das keinen Körper hat? Wir körperlichen Wesen sind dazu nicht in der Lage. Also macht es auch keinen sinn, den Dingen Namen zu geben und so zu tun, als verstehen wir, was damit gemeint ist. Das, was du Liebe nennst, ist ein windiger Hauch dessen, was sie wirklich ist.“ Er erwartete, dass Agelulf ihn aus Ärger angriff, dann hätte er ihn endlich fertiggemacht. Aber er beruhigte sich, sah ihn betroffen an und meinte: „Dasselbe habe ich vor einiger Zeit jemand anderem gesagt.“ Ânsgar legte den Lindwurmkopf schief, der Wendigokopf nahm eine Veränderung wahr. Agelulfs Aura schlug wirbelnde Wellen, eben waren sie Zacken gewesen. Er war aufgeregt. „Ja, und?“, sagte er. „Das bedeutet, dass du bereits anfängst, zu mir - zu uns - zu gehören. Das war bei keinem anderen so deutlich.“ Jetzt wurde er schon wieder schizophren, langsam nervte ihn das. „Von wie vielen sprechen wir eigentlich? Wie viele sind in dir? Der echte Agelulf, der verrückte Okka, und wer noch?“ Agelulf schüttelte den Kopf, wodurch sein aufgestelltes Nackenfell in Wallung geriet. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich bin immer ich gewesen in den letzten Tagen und Stunden.“ Ânsgar sah ihn skeptisch an, da gab er dann zu: „Aber unrecht hast du nicht. Ich verliere die Kontrolle über mich, je mehr es sind. Deshalb ist es umso wichtiger, dass ich bald komplett werde. Denn dann wird sich alles in mir neu ausrichten und fügen. Erst wenn ich komplett bin, kann ich Erlik komplett machen. Dich dadurch auch. Aber das habe ich dir schon erklärt. Du glaubst es nicht. Das wirst du erst, wenn es sich fügt.“ - „Langsam weiß ich nicht mehr, was ich mit dir anfangen soll. Sobald ich denke, dass dein Geschiss Sinn macht, kommst du mit noch mehr verrücktem Zeug“, sagte Ânsgar, worauf Agelulf den Kopf schief legte. „Nichts. Es wird alles kommen, wie es muss. Ich werde hier in deiner Nähe bleiben.“ - „Ja, ja, wie auch immer. Hast du eigentlich keinen Hunger?“, fragte er. Agelulf leckte wie auf Kommando seine Lefzen. „Ich habe seit einer Woche nichts gegessen.“ Ânsgar wandte sich ab und hieß ihm, ihm zu folgen. „Komm, ich zeige dir, wo du jagen kannst“, sagte er. Zwar mochte er ihn nicht leiden und nicht hier haben, aber verhungern lassen, das wollte er ihn nicht. Wäre er ein beliebiger Werwolf gewesen, wäre ihm das egal, aber er war Erliks Werwolf. Das schloss aus, dass er ihn tötete, obwohl er es ihm mehrfach angedroht hatte. Denn wenn Erlik erfuhr, dass er seinen Agelulf auf dem Gewissen hatte, sobald sie aufeinandertrafen - nein, das wäre nicht in Ordnung. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, ihm wehzutun.

 

Es war aufschlussreich zu beobachten, wie stümperhaft Werwölfe jagten. Während Ânsgar mit seinen Fähigkeiten Fressopfer mental manipulierte, damit sie freiwillig zu ihm kamen, rannte Agelulf der Beute wie ein Blöder hinterher. Er hatte ihm angeboten, sie zum Stehen zu bringen, aber Agelulf hatte angelehnt, weil er richtig jagen wollte. „Wenn die Beute schlau und ausdauernd genug ist, mir zu entkommen, wäre es unehrenhaft, dass du sie aufhältst. Ich gestehe ihr ihren Lebenswillen zu und den Sieg des Überlebens“, hatte er erklärt. Seit einer Stunde sah Ânsgar ihn durch hohes Gras hinter Karnickeln herhechten, die sich perfekt in der Umgebung auskannten und darauf spezialisiert hatten, schnell zu entkommen. Er rollte die Augen, weil es so dämlich aussah, wenn er ihn ab und an aufspringen und dann im Grasmeer verschwinden sah. Andererseits wirkte es unbeschwert in einer beschwerenden Situation. Ein sanfter Wind blies über die Wiesen mit hochgewachsenem Gras hinweg, wodurch sie in Bewegung gerieten und es aussah, als schlugen sie Wellen wie auf dem Meer. Er war nur einmal in mehreren Jahrhunderten an den großen Gewässern gewesen, seitdem nicht mehr. Er mied die Meere und Ozeane. Nicht, weil er sie nicht mochte, sondern weil sie in ihm eine andere Art von Sehnsucht weckten, die losgelöst war von jedwedem Begehren und aller Schmutzigkeit der Welt. Er plante, erst dann dorthin zurückzukehren und sich der Sehnsucht und des Fernwehs hinzugeben, wenn er komplett war. Er dachte gerne daran zurück, wie überwältigt er gewesen war, als er das intensive Blau mit eigenen Augen gesehen hatte. Nicht mehr nur eine Phantasie, um Bilder in seinem Geist zu erzeugen, die ihm nur Lug und Trug gezeigt hatten, da sie nicht im entferntesten an die Realität heranreichten. Es war lange her, dass Ânsgar das Gefühl hatte, die Wunder der Welt zu entdecken. Vieles hatte er gesehen, einiges war eine Enttäuschung gewesen, von anderem hatte er keine Kenntnis. Das Wunder, das er seit seiner Erweckung am meisten verfolgte, war das der Vollkommenheit.

Der Wind brachte etwas mit sich, das er lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Ein Geruch, kräftig, mutig, dominant. Er richtete den Lindwurmkopf danach aus. Er wurde stärker. Das Geschöpf, dem er gehörte, kam näher. Agelulf unterbrach seine Jagd, stellte sich mit blutverschmierter Schnauze auf, streckte die Arme von sich und spreizte gezückt die Krallen. Seine Lefzen zuckten und er knurrte dumpf. Zuerst war es nur ein kleiner Punkt, der allmählich größer wurde, bis er zu einem sich bewegenden Berg aus Fell und Fleisch und Muskeln und Knochen heranwuchs. Etwa zwei Dutzend Meter vor ihnen blieb es stehen, erhob sich auf seine Hinterbeine, machte sich groß und röhrte Ânsgar und Agelulf dröhnend an. Letzterer fletschte mit den Zähnen und schlug zur Abschreckung mit den Klauen in der Luft umher und den ungebetenen Gast zu verjagen. Er war kurz davor, anzugreifen. „Bleib ruhig“, hieß ihm Ânsgar, sodass Agelulf ihn skeptisch betrachtete, dann wieder den Eindringling. Ungebeten ja, wenn auch nicht unerwartet, obwohl er nicht erwartet hatte, ihn wiederzusehen. Vor ihnen stand ein ausgewachsener Bär, der sie offen und aggressiv anbrüllte. Das war normal, er machte das immer, um sich zu profilieren. Ânsgar wandte sich dem Bären zu, der trotz seiner enormen Größe kleiner war als er. Kaum eine Kreatur war so groß und maß sich mit ihm. Er schritt langsam zu ihm hin. „Was tust du da?“, fragte Agelulf hinter ihm, er sah nicht erfreut aus. „Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten“, sagte Ânsgar. Er hielt sich knurrend zurück und blieb angespannt. Der Bär war unschlüssig und taxierte Ânsgar, röhrte ihn warnend an, ohne, dass das eine Wirkung zeigte. Dann stob er auf ihn zu. „Pass auf!“, rief Agelulf und wollte losstürmen, da wandte Ânsgar den Wendigokopf zu ihm um und kreischte in einem hohen Ton, den nur Agelulf hörte, der sofort die Ohren anlegte und die Miene verzerrte. „Hör auf, zu nerven und bleib ruhig, verdammt nochmal!“, fuhr Ânsgar ihn an. Einen Moment später war der gewaltige Bär bei ihm und - drückte seinen Kopf gegen Ânsgars Hüfte. Dann stellte er sich wieder auf, machte ein fragendes Geräusch und sah ihn mit dunklen Knopfaugen an. „Ich habe nicht geglaubt, dich wiederzusehen“, sagte er und hielt ihm seinen Daumen hin, den der Bär mit dem Maul schnappte und darauf sanft herumkaute. Er sah sich den Bären genauer an. Hier und da waren ein paar Narben und Verletzungen hinzugekommen, aber insgesamt sah er unversehrt und genährt aus. Er hatte etwas aus sich gemacht. Das machte Ânsgar ein wenig stolz. „Schick das Vieh weg“, knurrte Agelulf aus dem Hintergrund, sodass er sich umsah. Was war mit ihm? „Meinst du mit Vieh dich selbst?“, entgegnete er provozierend. „Warum bist du nervös?“ - „Er gehört nicht hierher! Wir sollten alleine und ungestört sein!“, sagte er und drängte. „Schick ihn endlich weg!“ Ânsgar peitschte mit dem Schwanz hin und her. „Ich habe ihn nicht gerufen. Es ist seine Entscheidung, ob er geht, oder bleibt.“ Agelulf hörte nicht zu, sondern griff an. Er erwischte ihn, aber zum Glück nur an der Schulter, weil Ânsgar das überraschte Tier von sich stieß und es umfiel, wie ein Berg. Es röhrte schmerzhaft auf. Agelulf drehte sich fast schon kunstvoll um und holte zu einem Hieb aus, den er verhinderte und den Arm ergriff. Mit dem Wendigokopf biss er in seine Schulter. Agelulf war so fixiert auf den Bären, dass er das nicht merkte. „Es reicht!“, brüllte er ihn mit dem Ligerkopf an und kreischte ein zweites Mal mit dem Wendigo. Agelulf verzog das Gesicht, legte die Ohren zuckend an und schüttelte den Kopf, so als versuchte er, etwas abzuschütteln. „Kommst her und willst den Einzigen töten, der mir was wert ist. Lass ihn gehen, sonst versenke ich dich im Sumpf. Dann ist dein Plan dahin.“ Das beruhigte Agelulf etwas. Der Bär rappelte sich auf und rannte weg, dorthin, woher er hergekommen war. „Verurteil mich nicht zu schnell“, sagte Agelulf. „Ich wollte ihn nicht töten. Nur verschrecken. Er wird nie wieder kommen.“ Dafür haute Ânsgar ihm eine rein, sodass seine Schnauze danach schief saß. Sie war gebrochen, Blut lief sofort daraus hervor. Aber bei seinen Selbstheilungsfähigkeiten glaubte Ânsgar nicht, dass das so blieb. „Ich gebe dir recht, er wird nie mehr wiederkommen. Das hast du geschafft“, sagte er und schlug nochmal zu, bevor er von Agelulf abließ, der zu Boden ging, prustete und Blut spuckte. Er ließ ihn spucken und schlenderte zurück ins Dorf.

Dort suchte er ein verfallenes Gehöft etwas außerhalb auf. Er setzte sich neben die letzte Wand des alten Hofes, die noch stand, und ging in sich. Im Äther sah er überall Schimmer und Schatten der Momente, in denen er dem Bären als erstes genau hier begegnet war. Er hatte keine Ahnung, wie es damals hierhergefunden hatte. In seiner Verfassung hätte Ânsgar den Bären fast getötet, der ein Junges gewesen war. Es hatte keine Angst vor ihm, sondern dessen Nähe gesucht, obwohl Ânsgar hochgefährlich war. Das war eine Zeit ohne Verstand und Geist, in der Instinkte die Vormacht über ihn hatten und er keine klaren Gedanken fasste, weshalb er nur wenig Erinnerungen an diese Jahre besaß. Aber die Begegnung mit dem Bärenjungen änderte das. Das Junge war ein Führer gewesen, der ihn den Weg zu sich selbst gezeigt hatte. Er wusste, dass er den kleinen Bären damals mehrmals angegriffen und verletzt hatte. Aber trotzdem war der bei ihm geblieben und baute eine widersprüchlich enge Bindung zu ihm auf. Die meisten Narben, die der Bär besaß, stammten von Ânsgar. Aus irgendeinem Grund, den er nicht in der Lage war zu erfassen, hatte sich der Bär zu einem Opfer gemacht, um ihn in die Welt zurückzuholen, in die er gehörte. Oder gehören sollte. Das war fast zwanzig Sommer her. Zuletzt hatte er ihn vor fünf gesehen.

Agelulf näherte sich, blieb aber in angemessener Entfernung stehen und hockte sich nieder. Seine Schnauze war immer noch schief. Obwohl sie gerichtet aussah, blutete sie nicht mehr. Ânsgar beachtete ihn nicht. „Ich bin eifersüchtig“, sagte er, sodass er ihn anschielte. Seine Aura war abwechselnd zackig und rund, was Unentschlossenheit signalisierte. „Du hast ein Vertrauensband zu diesem dummen Bär. Das hat mich eifersüchtig gemacht.“ Ânsgar wusste, dass er die Frage bereute, stellte sie aber trotzdem: „Warum solltest du das sein? Wegen eines Tieres?“ Agelulf grummelte verlegen. „Das muss nichts gutes für dich heißen“, schränkte Ânsgar ein. „Vielleicht werde ich dich in den nächsten Tagen mehr quälen, als du aushältst.“ Agelulf schüttelte den Kopf. „Ist egal“, sagte er knapp. „Es hat mich eifersüchtig gemacht, als der Bär herkam und ich euer Band bemerkt habe. Das wollte ich nicht sehen. Ich wollte an seiner Stelle sein.“ Ânsgar sah ihn mit allen drei Köpfen offen an. „Du wirst niemals so eng mit mir verbunden sein, wie mit dem Bären oder Erlik. Das werde ich nicht zulassen. Allein schon wegen deiner Unberechenbarkeit. Ich weiß nicht, ob dein Verhalten nur zu einer weiteren Seite deines dämlichen Plans gehört. Am Ende manipulierst du mich. Ich vertraue dir nicht.“ Agelulf wandte betreten das Gesicht ab und murmelte: „Ich wusste, dass du das sagst, aber es zu hören ist bitter.“ - „Warum versteifst du dich so sehr auf das Geschreibsel? Es sind nur Seiten aus Papier.“ - „Es ist mehr als das. Ich habe schon versucht, dir das zu erklären, aber du glaubst mir nicht, obwohl du den Beweis bekommen hast.“ - „Es fällt mir schwer, so einen Müll zu glauben, egal von wem er kommt. Aber das alleine erklärt nicht deine Besessenheit. Du verfolgst mich und bleibst bei mir, obwohl ich dir wehtue. Das macht keinen Sinn, selbst mit dem, was in dem Buch steht. Sieh dir den Bären an. Der ist schlau und abgehauen, nachdem du ihm einen Kratzer zugefügt hast. Warum du nicht?“, fragte er, wofür er kritische Blicke erntete. „Spürst du es etwa nicht?“, erwiderte Agelulf. Ânsgar wusste sofort, was er meinte. Unter der Oberfläche aller Ablehnung verbarg sich eine latente Hingezogenheit. Ob sie Agelulf galt oder - was er eher vermutete - Erlik, wusste er nicht. Die Frage außen vor genommen, war sie da und wurde größer. Er nickte wahrheitsgemäß. „Wehr dich nicht dagegen, Ânsgar“, sagte er. „Lass es zu, dann bekommst du einen Vorgeschmack dessen, was dich mit Erlik erwartet.“ Ein Teil von ihm war nicht abgeneigt, ein zweiter sehnte sich nach Nähe, aber der dritte, der am stärksten war, war angeekelt. „Mit dir? Bild dir nichts ein, nur weil du meine Faust im Arsch hattest.“ Agelulf grinste anrüchig. „Genau darauf bilde ich mir das meiste ein“, erwiderte er. „Um des Friedens willen, lass uns die nächsten Wochen miteinander auskommen.“ Ânsgar zögerte, legte den Ligerkopf leicht schief und fragte: „Nur die nächsten Wochen? Warum?“ - „Das habe ich dir schon erklärt. Weil du nur noch solange am Leben bist“, antwortete Agelulf. „Du meinst, weil du mich dann umbringen willst? Das wirst du nicht schaffen, ich bin dir weit überlegen“, meinte er, worauf er ein breites, gefährliches Grinsen erntete und sich Agelulfs Augen wieder weiß verfärbten. „Dann hast du ja nichts zu befürchten, oder?“

 

Ânsgar ließ sich darauf ein, obwohl alle Vernunft und alle Argumente dagegen sprachen. Er behielt Agelulf. Er behielt ihn nicht bei sich, sondern als Besitz. Er war in seinem Dorf und nach Werwolflogik in Ânsgars Revier. Unter Werwölfen gab es keine mehrtägigen Besuche fremder Rudel, oder ihrer Mitglieder. Dadurch war er jetzt Teil seines Besitzes, mit dem er machen konnte, was er wollte. Er arrangierte sich damit, dass er da war. In den ersten zwei Tagen war er genervt. Dann ließ er sich an ihm aus. Jahrhunderte des Frustes entluden sich im Verlauf mehrerer Tage. Es war nicht so, dass er das mit Absicht tat, vielmehr provozierte Agelulf ihn dazu. Der beschwor etwas herauf. Einen maximalen Hass, einen tief eingegrabenen Zorn, was auch immer. Letztlich war dessen Ansinnen körperlicher Natur, er lockte ihn hervor. Und Agelulf? Der ertrug, was Ânsgar ihm antat und wie er ihn misshandelte. Er gab ihm, was er wollte. Er hatte schon zu oft nachgegeben. Was nützte es, sich zu wehren? So unwohl es ihm zu Beginn war, genoss er ab dem sechsten Tag seine Anwesenheit. Jemand war da, er war nicht mehr alleine. Er war immer alleine gewesen, seit zweihundert Sommern.

Ânsgar lag in der Scheune auf seinem Schlafplatz angelehnt an eine tragende Holzsäule, die glattgetrieben war, da er sich seit Jahrzehnten dagegen lehnte. Agelulf schielte von draußen herein. Freilich entdeckte er ihn. Doch was bis dahin weitere Qualen bedeutet hätten, war heute eine Einladung. Sein Wendigo und Lindwurm schliefen. Nur der Liger war wach. Als er eins seiner Ohren bemerkte, erwachten die anderen beiden und schauten in die Richtung. Erst dann lugte Agelulf herein, versteckte sich aber sofort wieder, als er bemerkte, dass Ânsgar ihn sah. Der blinzelte erstaunt, als er dessen Aura betrachtete. Sie strahlte die reinste Unschuld aus. Es war paradox, Agelulf verhielt sich wie ein Kind. „Komm herein“, brummte Ânsgar zwar leise, aber trotzdem deutlich zu hören. Die letzten Sonnenstrahlen färbten die Scheune in abendrotes Licht, welches das Alter des Jahr für Jahr weiter verfallenden Gebäudes betonte. Dann dachte Ânsgar daran, dass er älter als die Scheune war. Agelulf streckte den Kopf vor, seine Augen strahlten im Sonnenlicht himmelblau, was er gerne sah, da es der friedliche Agelulf war, mit dem er zu tun hatte. In den letzten Tagen waren sie weiß und sein Verhalten verrückt gewesen. Er streckte den Arm aus und öffnete die linke Tatze nach ihm auf. „Komm zu mir“, sagte er. Agelulf zögerte, wagte sich dann vor und in die Scheune hinein. Er schlich herum und mied direkten Augenkontakt, bis er am Ende bei Ânsgar in einer weit gezogenen Spirale angekommen war. Letzterer wies ohne Worte auf den Platz neben sich, an dem sich Agelulf niederließ, indem er zuerst in die Hocke, dann auf die Knie ging und sich in letzter Bewegung vorsichtig neben ihn einrollte, den Kopf vom ihm abgewandt, was Vertrauen bedeutete. Ânsgar legte ihm in seltener Selbstverständlichkeit eine Tatze auf das Fell und strich mit ihr darüber hinweg, streichelte ihn. Agelulf zuckte zusammen, sprang auf und flüchtete aufjaulend ein paar Meter von ihm fort. Nicht ungewöhnlich, wenn man bedachte, dass jede Berührung der letzten Tage für ihn Qualen bedeutet hatten. Ob provoziert oder nicht. Ânsgar ließ ihm Zeit. Misstrauisch und mit angelegtem Kopf trippelte Agelulf von rechts nach links, wagte aber doch erneut den Vorstoß und legte sich neben ihn. Diesmal eng. In Zeitlupe ließ er die Tatze auf ihn niedersinken, verharrte auf dem Rücken, bis Agelulf nicht mehr zitterte, und wagte einen nächsten Versuch. Diesmal floh er nicht. Wie oft hatte er sich in den vielen Jahren, seit er zur Chimäre geworden war, dasselbe gewünscht? Heute schenkte er es jemand anderem und hoffte eigennützig, das Agelulf sich dafür später revanchierte. Es dauerte bloß eine Viertelstunde, bis sich dessen Atmung beruhigte. Ânsgar verfiel in einen Dämmerschlaf, als er sich auf die sich hebende und senkende Brust sowie Agelulfs Herzschlags konzentrierte, den er feinsinnig als leichte Vibration wahrnahm. Ein gleichmäßiger Dreitakt. Es war das erste Mal, dass er mit allen drei Köpfen einschlief. Er sank tiefer und tiefer in den unkontrollierten Zustand des vollkommenen Schlafes. Abrupt riss ihn etwas daraus hervor und er war hellwach. Für einen Moment war er desorientiert und sah sich um, bis er feststellte, dass Agelulf schnarchte. Laut schnarchte. War er vorher eine Fellkugel, hatte er sich gedreht und lag mit dem Bauch nach oben, Arme und Beine von sich fortgestreckt, dabei aber trotzdem Körperkontakt zu ihm haltend. Das hatte zur Folge, dass sein Maul sich leicht öffnete und er da durchatmete. Schlimmer als jede Säge und jeder Specht im Wald. Ânsgar sah ihm dabei zu und hoffte, dass er sich wieder drehte, damit er aufhörte - vergebens. Mit der streichelnden Tatze drückte er deshalb Agelulfs Ober- und Unterkiefer zusammen, was kurzfristig Abhilfe verschaffte. Doch sie öffneten sich wieder und das Geratter setzte nochmal ein. Nach dem zweiten Versuch rutschte Agelulfs Zunge seitlich heraus, Ânsgar verdrehte die Augen. Er wandte sich langsam, um ihn nicht zu wecken, und versuchte mit der anderen Tatze die Zunge zurück zwischen seine Kiefer zu schieben und sie zu schließen. Das verbesserte die Situation nicht. Sie klafften nur Sekunden später auf und - klatsch - der Lappen hing wieder draußen, sogar weiter als vorher. Bisweilen glaubte Ânsgar, Agelulf ärgerte ihn mit Absicht. Ein kurzer Blick mit dem Wendigo und er wusste, dass das nicht der Fall war. Er schlief tief und fest und friedlich. Ânsgar wagte nicht, ihn zu wecken. Es war wie bei den Menschen mit ihren Katzenviechern. Keiner von ihnen weckte eine Katze, wenn sie, zum Beispiel, auf dem Seidenkleid einer Frau schlief, die im Gras saß. Eher zerschnitt jene Dame das Kleid. So, oder so ähnlich, ging es ihm. Es wäre eine Schande, den Moment aus Bequemlichkeit zu zerstören. Er atmete tief durch alle Nasen und sah sich um in der Hoffnung, sich abzulenken. An Schlaf war nicht mehr zu denken, obwohl er müde war. Nur wo sollte er hinsehen? Er kannte jede Ecke. Er sah zu Agelulf. Dessen Körper durch harte Jahre gestählt und ästhetisch war, jeder Muskel war beansprucht worden, jede kleine Bewegung presste Äderchen unter der Haut hervor. Die große Narbe am Bauch erregte die meiste Aufmerksamkeit. Sie war kreuzförmig und dort wuchs kein Fell mehr. Sie sah aus, als hätte jemand seinen Bauch mit Absicht aufgeschnitten, während Agelulf sich nicht wehren konnte. Ânsgar hatte ihn gequält, aber nicht daran gedacht, ihn aufzuschlitzen. Was er wohl durchgemacht hatte? Er verscheuchte die Frage aus seinem Geist. Dieser Werwolf wickelte ihn um den Finger! Das war nicht gut! Er fing an, ihn zu mögen, obwohl er ihn umbringen sollte, weil er ihn mit Ankündigung umzubringen plante. Warum ließ er ihn so nahe an sich heran? Die vielen Fragen vermischten sich zu einem gleichmäßigen Rauschen in seinem Kopf, die selbst das Schnarchen verklingen ließen. Es führte dazu, dass er den Schlaf letztlich wiederfand und in ihn eintauchte. Mit allen drei Köpfen. Dadurch passierte ihm etwas erstaunliches. Ânsgar träumte.

 

Sobald er in den frühen Morgenstunden aufwachte, als sich erst ein zarter Schimmer des Sonnenlichts am Horizont zeigte, saß Agelulf direkt vor ihm. Ânsgar erschrak gehörig und zuckte zusammen. Er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand so nahe kam, schon gar nicht nachdem er geschlafen hatte. Gleich darauf lehnte Agelulf sich vor und leckte über die Wange seines Ligerkopfes. Ânsgar sah ihn skeptisch an. „Guten Morgen“, sagte Agelulf. „Du hast im Schlaf geweint.“ Geweint? Er rieb über die Wangen an allen Köpfen. Der Lindwurmkopf hatte keine Tränendrüsen, aber die Gesichter des Liger- und Wendigokopfes waren feucht. Er hatte geweint ... Warum das? „Der Traum“, deutete Agelulf an. „Du bist darin ihm begegnet und hast mit ihm gesprochen.“ Ânsgar hielt den Atem an, betrachtete ihn und grollte. „Dringst du schon in meinen Geist ein?“, fragte er. Agelulf schüttelte den Kopf. „Viel zu umständlich, nein. Ich weiß, was du geträumt hast, weil Erlik vor Jahren dasselbe geträumt hat. Er hat es mir erzählt, weil er, genau wie du, tränenüberströmt aufgewacht ist.“ Er senkte den Kopf. „Ich erinnere mich daran, wie aufgebracht er war und wie verletzt im Herzen. Er sagte mir, dass er für einen kurzen Moment berührt hatte, was er suchte. Seine Erlösung, die ihm dann wieder weggenommen wurde. Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was es damit auf sich hatte. Erst als ich anfing, aufzusteigen, wurde es mir klar. Seitdem bin ich eifersüchtig auf dich.“ - „Auf mich?“, wiederholte Ânsgar. „Du hast eine Verbindung zu ihm, die weit über das hinausgeht, was ich mit Erlik erlebt habe“, sagte Agelulf und wirkte ehrlich bedrückt. „Du meinst“, begann Ânsgat langsam, „weil wir durch die Zeit miteinander kommunizierten?“ Agelulf nickte aufgeregt und fasste ihn an den Schultern und starrte ihn ein bisschen verrückt an, ohne dass seine Augen weiß wurden. „Genau! Du verstehst es, oder? Du hast letzte Nacht einen Traum erlebt, den er vor Jahren geträumt hat! Du musst es verstanden haben!“ Ânsgar schüttelte ihn ab, gähnte herzhaft und erhob sich mit knackenden Gelenken. Alle Knochen in seinem Körper waren steif. „Kann ich nicht behaupten, nein. Aber ich fange langsam an.“ Agelulf sah zu ihm auf, er hielt ihm die Tatze hin, die er ergriff und ihm aufhalf. Ânsgar ließ ihn nicht los, sondern zog ihn an sich heran und grollte tief. „Was hat er geträumt?“, fragte er. „Du hast nur das Gefühl zurückbehalten, oder? Wie ein tiefer Fall. Vorher hattest du alles, jetzt nichts mehr.“ - „Hör auf abzulenken und sag es mir“, forderte er energisch. „Sonst erwartet dich das Silber.“ Allein die Erwähnung weckte die Erinnerung an die Schmerzen. „Ich hatte nicht vor, es dir vorzuenthalten. Du musst es wissen.“

 

*7. Nacht des 13. Mondes im Jahr **87 n. d. Aufbruch

 

Wulfiga, so sehr ich dich mag, erfüllst du mich nicht mit der Ruhe und dem Verständnis und der Zugehörigkeit, die ich brauche und der ich vergangene Nacht begegnet bin. Ich traf den, der mir alles das schenkte in einem kleinen Dorf inmitten eines Sumpfes. Verlassen oder zurückgelassen von ihren Bewohnern rotteten die weit auseinanderstehenden Höfe dahin und waren überwachsen mit Efeu und anderen Kletterpflanzen, die ihnen eine anmutende Vergänglichkeit verliehen. Am Ende des Dorfes stand eine Scheune, die sechs Stockwerke hoch gebaut war - zweifellos eine Übertreibung der Traumbilder. Ich hatte Angst, hineinzugehen und zu entdecken, was sich in ihr verbarg, aber gleichzeitig keine andere Wahl, denn was immer dort wartete, rief mich zu sich. Ein gutturaler Gesang, der meinen Geist und Körper betörte. Ich betrat die Scheune, die von innen größer war, als sie von außen aussah und hatte sein dürfen. Überall lag frisches Heu verteilt. Das, was mich hierher mit schlafwandlerischer Kette anzog, lebte hier. Ich trat ein und rief einen Namen, den ich vergessenen habe, obwohl er wichtig ist. Jedes Mal, sobald ich rief, schritt ich vorwärts. Ein Schatten wuchs und wuchs, bis er mich einschloss, sodass ich nicht mehr flüchten konnte. Gefangen in der Scheune, die größer wurde, je weiter ich mich hineinwagte, rief ich immer wieder den Namen. Nur der Klang liegt mir in Erinnerung. Der Gesang, der mich herlockte, erstarb und jemand sprach mit so dunkler Stimme zu mir, dass ich die Worte zuerst nicht verstand. Weiter hinten, im Schatten, lauerte das, was zu mir sprach. Aber erst, als ich näherkam, wurde deutlich, was es sagte: „Du bist der, den ich suche.“ Es erhob sich, mir stockte der Atem, es war riesig! „Du gehörst zu mir. Du gehörst mir.“ Es streckte den Arm aus und eine riesige Tatze, fast so groß wie ich, schimmerte in dem wenigen übriggebliebenen Licht. „Komm. Weise mich nicht ab.“ Ich war sprachlos, angsterfüllt und misstrauisch. Aber gleichzeitig ... ich weiß es nicht zu beschreiben. Zögerlich hob ich den Arm, mein Herz pochte in der Brust, mein Körper zitterte, mein Geist schrie. Dann legte ich meine zum Vergleich winzige Hand in die zu große, aber sanft-warme Tatze hinein, deren Krallen alleine so lang wie meine Hand waren, und Licht überflutete den Raum. Geblendet schloss ich die Augen, bis sie sich daran gewöhnten, oder das Licht abebbte und schummeriger wurde. Sobald ich die Lider aufschlug, entdeckte ich mein zweites Ich. So wundervoll und vollkommen! Drei Köpfe mit drei Augenpaaren, die mich gütig und zufrieden betrachteten. Sie waren ein Geist, jeder sprach abwechselnd ein Wort zu mir. „Du brauchst mich“, sagte es. „Ich brauche dich“, sagte ich. Langsam zog es mich an sich heran und beugte sich tief nieder, sodass ich bald in einer lebendigen Höhle war, die mich mit Armen und Beinen umfing und nicht mehr gehen ließ. Das Wesen – eine Chimäre. Leider lässt mich die Erinnerung im Stich, mehr weiß ich nicht zu beschreiben. Nur, dass ich schon oft von ihm geträumt habe. Sie nahm mich mit ihrem Körper gefangen und strahlte alles aus, wonach ich suche. Ich wurde ihr Herz, die mich brauchte und mich genauso herbeisehnte, wie ich sie. Ich war ... endlich geworden. Gesamt. Zusammen. So war das Leben in seinem Ursprung. Alles war da, was man brauchte. Es existierten keine Unterschiede. Harmonie. Doch der Traum endete und riss mich fort von der Wesenheit, die genauso verzweifelt darüber war, wie ich, zu verlieren, was nicht verloren gehen durfte. Wir wurden beide zurückgeschleudert in unsere realen, aufwachenden Körper.

Du kannst mir nicht helfen, Wulfiga. Du wirst nie genug sein, egal wie hart es ist, das zu erkennen. In dieser Welt existiert nichts, das jemals genug sein wird für meinen gebrochenen Geist.*

 

Das, was er fühlte, war nur ein schwindender Schatten im Zwielicht. Doch eines hatte die Beschreibung ausgelöst. Agelulf wagte sich an Ânsgar heran und leckte ihm beide Wangen an Wendigo- und Ligerkopf ab. Er hatte wieder geweint. Mehr denn je zog es ihn zu seinem Inua, um ihn endlich aufzunehmen und ihrer beider Qualen zu beenden. Aber so leicht war es nicht mehr, das wusste er. Er betrachtete Agelulf, der ihn, scheinbar selbst den Tränen nahe, mit zusammengezogenen Augenbrauen und feuchten Augen festhielt. Er war es, durch den er Erlik erst gefunden hatte, und er war der, der ihn unter allen Umständen aufhielt, wenn Ânsgar sich doch dazu entscheiden, zu gehen. Fast unbemerkt hatte Agelulf eine Klaue auf seiner Hüfte aufgelegt, sodass er nur zustechen musste, um ihn tödlich zu verletzen. „Du bist grausam“, sagte Ânsgar, worauf sich Agelulfs Ohren aufstellten und er einen großen Schritt zurückzog. Sein Wendigoblick sah die Erschrockenheit. „Dasselbe hat er auch zu dir gesagt?“, fragte Ânsgar, Agelulf schüttelte den Kopf. „Nein, ich zu ihm.“ - „Tja, am Ende sind wir alle grausam.“ - „Ja, vielleicht.“ Er räusperte sich und schob ihn zur Seite. „Ich habe Hunger“, sagte er und stampfte an ihm vorbei. Er hatte Hunger, ja, aber nicht auf Beute, sondern nur auf den einen, der ihm fehlte.

 

In den nächsten Tagen versuchte Ânsgar mehrfach, sich davonzustehlen und Agelulf zurückzulassen. Aber der Werwolf merkte es jedes Mal. Einmal dachte er nur daran, schon war er bei ihm und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Die Nächte waren arg, da sich der Drang verstärkte, zu gehen und Erlik aufzusuchen. In der dritten Nacht nach dem Traum äußerte sich das in körperlichen Schmerzen aller Nerven. Er war nicht mehr in der Lage, klar zu denken, und verfiel in ein Instinktmuster, dass er vor vielen Jahren überwunden geglaubt hatte. Was das bedeutete, zeigte sich ihm erst am nächsten Mittag, als er wieder klar dachte. Agelulf fehlten zwei Finger. „Das ist ein kleiner Preis dafür, was ich beschützt habe und du zerstört hättest, wenn du entkommen wärst“, sagte er, seine Augen waren weiß. „Trotzdem hoffe ich, nie wieder mit dir zu ringen, wenn du so bist. Meine Finger waren nur der Anfang. Hätte ich mich nicht genug gewehrt, wäre ich Chimärenbeute geworden.“ Dass Ânsgar sich das nicht vorstellen konnte, wäre gelogen. Er hatte oft Personen gegessen und sie vorher auseinandergenommen. Aber zu denen hatte er keinen Bezug gehabt. Agelulf aber war mittlerweile ein Teil seiner Welt geworden, dem er nichts anhaben wollte. Ohne Worte nahm er dessen Arm und sah sich an, was er angerichtet hatte. Der kleine und der Ringfinger seiner linken Klaue fehlten, die Stümpfe sahen grob abgerissen aus, kein gerader Biss. „Wachsen sie dir nach?“, fragte er, was ihm skeptische Blicke einbrachte. „Nein, wieso sollten sie?“, antwortete Agelulf und entwand sich. „Nachdem du beim letzten Mal wiedergekommen bist, obwohl dir der Kopf geplatzt war, hätte mich das nicht gewundert.“ Agelulf seufzte unglücklich. „Nein, so einfach ist das nicht. Meine Finger bekomme ich nicht zurück.“ - „Warum?“ - „Du hast sie abgebissen und gegessen.“ Ânsgar überlegte. „Und wenn du sie wieder hättest?“ Agelulf betrachtete ihn schief, was durch seine weißen Augen gefährlicher aussah, als er war. „Dann hätte ich eine Chance, sie zu retten“, antwortete er. „Hm“, machte Ânsgar. „Woran denkst du?“, fragte Agelulf. „Willst du sie auskotzen?“ Ânsgar schüttelte den Kopf und sagte: „Das bringt nichts. Zumal ich nicht denke, dass sie in meinen Magen sind.“ Agelulf schnalzte. „Wo sollen sie sonst sein?“ - „In meinem Vormagen“, antwortete er. „Dort landet so ziemlich alles, bevor ich es verdaue.“ - „Wie soll uns das helfen?“, fragte Agelulf, der sich nicht vorstellen konnte, worauf Ânsgar hinaus wollte. Er war selbst nicht begeistert von seiner Idee, aber es war der einzige Weg, Agelulfs Finger zurückzubekommen.

Kurz darauf kniete er vor ihm. Dabei versuchte er nicht darüber nachzudenken, welche Bedeutungen ein Kniefall hatte und wie erniedrigend es war, ausgerechnet vor Agelulf zu knien. Ihn tröstete die Tatsache, dass der davon nichts wusste. Er dachte vielmehr an die Unversehrtheit seines rechten Armes. „Bist du dir sicher?“, fragte Agelulf skeptisch. Ânsgar schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich kann es nicht selbst machen.“ Agelulf zweifelte. „Willst du deine Finger wiederhaben, oder ein Krüppel bleiben?“, fragte er genervt, Agelulf nickte schweigend. „Dann hast du keine andere Wahl. Also, los!“ - „Hoffentlich geht das gut“, meinte Agelulf und entnervte Ânsgar. Warum war ihm bange? Er war der Verrücktere von ihnen beiden und hatte sogar schon Erfahrung genau damit gemacht, wenn auch aus anderer Perspektive. „Mach endlich“, war das einzige, was er erwiderte, bevor er den Ligerkopf überdehnte und das Maul so weit klaffend öffnete, wie er konnte. Er streckte die Zunge hinaus, nahm sie mit der linken Tatze und zog sie zur Seite, damit sie nicht störte. Agelulf trat hinzu und wollte schon anfangen. „Warte“, sagte Ânsgar mit dem Lindwurmkopf und hielt ihn auf. „Zuerst anfeuchten.“ Er grabbelte nach dessen rechter Klaue und führte sie ins Wendigomaul ein, das von allen am meisten speichelte, weil es keine Lippen hatte und sonst ständig trocken wäre. Nachdem ausreichend befeuchtet, ließ er ihn los. Agelulf verzog angeekelt das Gesicht, sobald er die Krallen spreizte und sich Ânsgars Geifer und Speichel zwischen ihnen langzog. Der zischte ihn mit dem Lindwurmkopf an, anstatt ihn erneut zur Aufgabe aufzufordern. Seufzend wandte der sich dem Ligerkopf zu, sah hinein und schüttelte den Kopf. „Wenn du wüsstest, wie sehr mich das an Augenblicke mit Erlik erinnert“, sagte er und griff hinein. Ânsgar kannte das Gefühl, wenn jemand in einem seiner Rachen verschwand - die meisten davon nicht in einem Stück. Es war für ihn deshalb nichts Unerwartetes, dass sein Hals und seine Speiseröhre extrem gedehnt wurden. Dennoch war es merkwürdig, als Agelulf über den Zungenrücken fuhr und die flache Klaue in den Ligerschlund hineindrückte. Es entstand ein Kampf zwischen Schluck- und Würgereiz. Normalerweise ließ er seinem Schluckreiz freien Lauf, aber hier war das nicht machbar. Er musste Agelulf alleine weiter vordringen lassen, sonst hätte er ihm den Arm abgebissen. Dadurch kam der Würgereiz, der den Arm hinauswerfen wollte, und den Ânsgar genauso unterdrückte. Sie waren in einer unmöglich absurden Situation, die die einzige Möglichkeit darstellte, Agelulfs abgebissene Klauenfinger zurückzubekommen. Die waren in Ânsgars Vormagen und weil dieser etwas oberhalb seines Magens lag, war es möglich, hineinzugreifen und sie wieder herauszuholen. Das erforderte großes Vertrauen auf beiden Seiten. Agelulf vertraute darauf, dass er seinen Arm nicht verlor, und Ânsgar, dass Agelulf ihn nicht von innen aufschlitzte, was ein schmerzvoller Tod geworden wäre.

Letzterer drückte zuerst seine flache Klaue in Ânsgars Schlund hinein, dessen Zunge aus Reflex sofort zurückschnellte und den weiteren Weg verschloss. Agelulf knurrte deswegen, bis Ânsgar sich unter Kontrolle hatte, die Zunge nahm, festhielt und wieder zur Seite herauszog. Dabei spreizte er die Kiefer ein paar Zentimeter bis sie in einem übermäßig weiten Winkel offen waren, in der Hoffnung, dass es ihre Aktion erleichterte. Am Ende konnte er sich nicht zurückhalten und schluckte zweimal hart, sodass er Agelulfs Arm bis zum Ellenbogen im Hals hatte. „Nicht so schnell!“, rief der und wollte schon seinen Arm wieder zurückziehen, was Ânsgar verhinderte, indem er mit dem Wendigo kreischte und drängte: „Nicht rausnehmen!“ Es fiel Agelulf sichtlich schwer, es nicht zu tun. Er atmete grollend ein und drang weiter vor. „Das fühlt sich komisch an“, meinte er. „Hör auf zu jammern und mach weiter“, sagte Ânsgar angestrengt. Er lenkte seine volle Konzentration darauf, nicht nochmal versehentlich zu schlucken. Mit dem Wendigo und Lindwurm sah er zu wie Agelulfs Arm tiefer in seinen röchelnden und gurgelnden Hals eindrang. Er spürte, wie er hinabglitt. So paradox es klang, es wurde mit jeder Sekunde leichter. Was ihn allein störte, waren die Fellhaare, die ihn im gesamten Rachen und Hals kitzelten. „Ich glaube, ich bin da“, sagte Agelulf. „Da ist ein Widerstand.“ Kurzes Schweigen. „Wie ein Verschluss.“ Âmsgar war genervt. „Dann drück durch!“, zischte er mit dem Lindwurm. Kaum gesagt, war Agelulf in seinem Vormagen. Es war so überraschend für ihn, dass er zuerst starr blieb. Sobald Ânsgar ihn ans Bein trat, fuhr er fort, in ihm zu tasten. „Wie groß der ist ...“, sagte Agelulf und streckte den Arm ein paar weitere Zentimeter hinein, um den tiefsten Winkel zu erreichen. Ânsgar spürte ihn. Nicht jede Bewegung im Detail, aber zumindest, wie er über die Magenwand fuhr. Er sagte nichts mehr, weil er sich voll und ganz auf seine Körperreaktionen fixierte, damit sie nicht überhandnahmen. Es wäre angenehm, wenn der dämliche Wolf etwas schneller vorankäme, denn er ließ sich Zeit. „Ich spüre sie nicht“, sagte der und tastete weiter. Dabei schien es Ânsgar, als ob Agelulf völlig vergessen hatte, wo er im Moment drinsteckte. Nach einer weiteren Minute sah er Ânsgar an und meinte: „Sie sind nicht da. Sie müssen in Magen sein.“ Er fragte nicht, sondern deutete nur an, dass er weiter hineinzugreifen gedachte. Das bedeutete aber, dass Agelulf bis zur Schulter in Ânsgar Maul, Schlund, Hals und Bauch steckte. Langsam zweifelte er selbst an seiner bescheuerten Idee. Anstatt zu antworten, nickte er mit dem Lindwurm- und Wendigokopf. Agelulf lehnte sich in gerader Linie über seinen Kopf, suchte den Eingang in den echten Magen, fand ihn und drang vor. Ânsgar schluckte leicht, Agelulfs Arm verschwand, wie gedacht, bis zum Schulteransatz - sogar weiter. Er lag mit Achsel- und Nackenbereich auf den Maukwinkeln auf, hatte den Kopf leicht nach oben verdreht und stocherte mit der Klaue herum. Ânsgar war das unangenehm, er atmete langsam über seine anderen Köpfe ein und aus und dachte daran, dass Erlik bald anstelle des Werwolfarmes wäre. In diesem denkbar unpassendsten Moment sagte Agelulf: „Ich komme nicht weiter hinein, du musst entspannter werden.“ - „Und ... wie ... ?“, fragte er angestrengt und stierte ihn an. Agelulf überlegte einen Moment, Ânsgars Inneres gurgelte. „Ich erzähle dir etwas aus dem Tagebuch“, entschied er und wartete nicht ab, ob es überhaupt erwünscht war, sondern zitierte:

 

*19. Nacht des 5. Mondes im Jahr **88 n. d. Aufbruch

 

Wie fühlt sich Verlust an? Zuerst ist es ein flaues Gefühl im Bauch, von dem man weiß, dass man es nicht erfassen oder ergründen kann. Wenn der Moment der Klarheit da ist, verändert es sich in Leere, die betäubt und zum Schutz der Seele keine Gefühle zulässt. An ihre Stelle tritt dir Hoffnung, das Verlorene wiederzufinden, aber das muss nicht zwingend sein. Tröpfchenweise durchdringt die Erkenntnis den Geist, dass verloren ist, was verloren ist, und niemand etwas daran ändern kann. Doch das ist ein langsamer Prozess, der entweder nur wenige Tage oder Wochen, manchmal Jahre braucht. Im schlimmsten Fall wird er nie vollendet und der, der zurückbleibt und sich an die Hoffnung klammert, schließt nicht ab und erkrankt. Das Herz blutet. Mein Herz blutet. Jeden Tag schleicht sich die Erwartung ein, nur um die Ecke zu sehen und dich zu finden. Manchmal höre ich die Stimme gleich neben mein Ohr flüstern, mit der du zu mir gesprochen hast. Dann sehe ich mich um und - nichts. Du bist nicht da. Warum bist du nicht da? Ich habe dich einmal getroffen und unerwartet wieder verloren. Die Hoffnung schlägt nicht kräftig in meiner Brust, die vermeintliche Gewissheit hat dafür schon einen Großteil der Gedanken im Griff. Du bist fort, obwohl du nie hier warst. Ich werde dich nie wiedersehen, obgleich ich dich nie mit eigenen Augen gesehen habe. Nur im Traum. Und in dem, werte Chimäre, bist du gestorben und nie wieder gekommen. Ich fühle mich, als hätte ich meinen Gegenpart verloren. Meine Gedanken kreisen, aber keine erleuchtende Idee stellt sich ein, die mir zeigt, wo ich dich antreffe. Leblos gehe ich durch die Flure unseres Hauses, denke nichts mehr, erledige meine Aufgaben ohne Bewusstsein wie von selbst. Mein Kopf ist voll und leer zugleich, zu nichts zu gebrauchen, will er nichts wissen, die Ohren wollen nichts hören, meine Augen nichts sehen, was mich an dich erinnert. Ich werde mich erholen von deiner Anwesenheit, der Zuneigung, deiner Erscheinung, bis du nur Nebel ohne Details bist, die ich leicht zur Seite dränge. Aber heute Nacht werde ich nicht schlafen, sondern wachen und um dich weinen, bis ich - irgendwann - aus Erschöpfung einschlafe und dich im Traum weitersuche.*

 

„Einen habe ich“, sagte Agelulf angestrengt und presste sich zwischen seinen Ober- und Unterkiefer, die beide schon taub waren. Wie war das mit der anfänglichen Skepsis gewesen? Lange hielt Ânsgar das nicht mehr aus, dann spie er. Ein Finger war besser als gar keiner. Außerdem war er hungrig geworden. Nachdem Agelulf seine Finger wiederhatte, plante er ein Festmahl. Plötzlich erstarb jede Bewegung und Agelulf starrte ins Leere. „Ich - habe den anderen!“ Kaum gesagt, zischte Ânsgar röchelnd: „Dann hol den Arm raus!“ Zuerst zog der blöde Wolf viel schnell, was in einer Katastrophe geendet wäre. Seine Speiseröhre hatte sich um dessen Arm gelegt und der Form angepasst. Wenn er ihn jetzt in einer Sekunde fortriss, lagen Ânsgars halbe Innereien gleich neben ihm und er krepierte elendig. Obwohl es ihm lieb gewesen wäre, mahnte er sich selbst zu Geduld und hielt Agelulf davon ab, ihn umzubringen. Der verstand schnell und zog sich in quälender Langsamkeit zurück. Es brauchte nicht so lange, wie hineinzugelangen, aber trotzdem dauerte es eine ekelhafte Minute, bis er die Werwolfklaue auf seinem Zungenrücken spürte, aufstieß und sie beide endlich voneinander loskamen. Ânsgar sprang auf, rannte ein dutzend Meter weg, schmiss sich zu Boden und würgte mit dem Ligerkopf alles hervor, was in seinem Bauch war, was nicht viel war. Hauptsächlich Geifer und Magensud. Dem Wendigokopf war schwindelig, dem Lindwurmkopf war genauso zum Kotzen zumute. Mit dem sah er zurück zu Agelulf, der leicht angeekelt die Schnauze verzerrte und seine beiden Finger betrachtete. Sein Arm war feucht und mit Ânsgars Speichel und anderen Flüssigkeiten durchnässt. Ohne ihn zu beachten, wandte er sich ab und hielt zu in Richtung Brunnen. Recht so, Ânsgar wollte ihn nicht mehr sehen. Schon gar nicht, während er erbärmlich ausspie. Sein Körper vergolt ihm, wie er mit ihm umging, indem der Würgereiz mehrfach in Wellen zurückkehrte und ihn quälte. Ein mulmiges Gefühl, das wuchs und wuchs und in seine Hälse kletterte, die sich zusammenzogen, er sich vorlehnte und die Mäuler krampfhaft öffnete, in der Erwartung, dass doch etwas rauskam. Als er nach zehn Minuten endlich den letzten Rest von nichts erbrochen hatte, beruhigte sich sein Inneres. Er stand langsam und bedächtig auf, um kein Risiko einzugehen. Dann knackte mit dem Nacken des Ligerkopfes, dessen Unterkiefer völlig versteift war, nahm jenen mit der rechten Pranke und bewegte ihn leicht in alle Richtungen, um die Muskeln zu lockern, streckte die Zunge hervor und fuhr mit ihr über die Lefzen. Mit dem Lindwurmkopf sah er nach und stellte fest, dass ein Maulwinkel leicht blutete. Dort hatte Agelulf sich angelehnt. Besser, er redete erstmal nicht mehr mit dem Ligerkopf. Im Moment hatte er keine Lust, überhaupt zu sprechen, nach dem, was Agelulf ihm aus dem Tagebuch zitiert hatte. Seit er von Erlik wusste, und davon, was er durchmachte, entdeckte er eine Emotion nach der anderen in einer Intensität, die ihresgleichen suchte. Trotzdem vermutete er, dass das nur ein seichter Abklatsch dessen war, was Erlik empfand. Ânsgar machte sich auf in den Sumpf, durchschritt ihn und wanderte ein paar Stunden umher. Die Landschaft veränderte sich kaum, weite Ebenen bedeckt mit fruchtbar saftigem Gras, hier und da waren Weiher und feuchte Stellen. An einer davon sprudelte aus dem Boden eine kleine Quelle von einem Meter Durchmesser hervor, aus der er des Öfteren trank. Ihr Wasser schmeckte frisch und lecker, da es durch Stein und Erde an die Oberfläche gepresst wurde und nährstoffreich war. Im Hochsommer versiegte sie, was aber nur bis zum frühen Herbst anhielt, wenn das Land von Schauern überzogen wurde. Dann schoss das Nass wieder hervor. Das lag vor allem an dem hohen Grundwasserspiegel der Region. Er kniete nieder, streckte ausnahmsweise den Ligerkopf hinab und trank mit hervorschnellender Zunge. Normalerweise war er mit dem Lindwurm schneller und schluckte mehr Wasser auf einmal, aber der Hals seines Ligers war gereizt und brauchte die kühle Linderung. Dabei betrachtete er die unzähligen Kaulquappen, die sich an Steinen im Wasser festhielten, um nicht fortgespült zu werden. Die meisten von ihnen überlebten nicht. Nur ein Bruchteil erreichte das Alter, in denen sie zu echten Fröschen wurden. Dafür sorgten allerlei Tiere, auf dessen Speiseplan sie standen. Und er, Ânsgar. Er zog den Ligerkopf zurück, beugte den Lindwurm vor und fuhr in der Quelle mit dem Arm über das glitschige Gestein, wodurch sich ein Großteil der Quappen nicht mehr halten konnte und hinaufgespült wurden. Ânsgar trank in kräftigen Zügen und erwischte fast alle der kleinen Kreaturen. Sie beruhigten seinen Magen. Es war nicht das erste Mal, dass er sie mittrank. Sein Bauch war gefüllt, aber Hunger hatte er trotzdem. Griesgrämig verließ er die Quelle und schritt fort in eine trockenere Gegend, bis er eine potenzielle Beute ausmachte. Ein Lamm. Die Mutterkuh war nirgends zu sehen. Anhand des Geruchs stellte er fest, dass es einem Bauer in der Nähe gehörte, dessen Hof fast eine halbe Tagesreise entfernt war. Das Tier musste ausgebüchst und seitdem umhergeirrt sein. Es war nicht mehr klein und hatte gestreckt die Maße eines Menschen. Auffällig war, dass es keine Angst zu haben schien, obwohl es ihn längst bemerkt hatte. Somit war es ein leichtes, sich zu nähern. Schritt für Schritt, nah heran, bis er vor der unbedarften Seele stand, die ihn bittend betrachtete. Es war erst ein paar Wochen alt und somit abhängig von Muttermilch. Hier draußen aber fand es nicht zurück. Blinde Unschuld machte das Lamm unfähig, die Gefahr zu erkennen, in der es schwebte. Ânsgar kniete nieder und das Lamm überwand sogleich die letzten Meter, die sie trennten. Er fing an zu sabbern, denn er stellte sich vor, dass Erlik genauso groß war und er in dem Lamm den perfekten Ersatz für den Moment gefunden hatte. Er war ein Prädator. Obwohl er unzählige Leben beendet, in sich aufgenommen und größte Weisheit und Wissen dadurch erlangt hatte, waren seine Instinkte die Kraft, die letztlich sein Handeln vorgaben. Das galt für die Suche nach Erlik, das galt für das Lamm, das er nahm und sich unbarmherzig einverleibte.

 

Als er ins Dorf zurückkehrte, war sein Magen gefüllt und der Hunger vorerst gestillt. Agelulf wartete auf ihn. Nur, warum? Er präsentierte ihm verschmitzt lächelnd die Finger seiner linken Klaue. Ânsgar nahm sein Handgelenk und betrachtete sie erstaunt. Wie, um einen Beweis zu erbringen, dass es seine Finger waren, bewegte er sie und ballte die Klaue zur Faust. „Erstaunlich“, sagte Ânsgar und ein angenehmes Kribbeln breitete sich in seiner Brust aus, das er irritiert zur Kenntnis nahm, weil es Freude darüber war, dass Agelulfs Finger gerettet waren. Dabei hasste er ihn doch - oder? Nein, im Grunde nicht mehr. Er hatte sich an dessen Anwesenheit und Charaktere gewöhnt und fühlte sich - es war unerhört, dass er sich das eingestand - zu dem verrückten Werwolf hingezogen. Anders war es nicht zu erklären, dass er ihn umarmte. Agelulf war mindestens verdattert über die Liebkosung, ließ es eine Weile zu und entwand sich dann. „Du hast dich schnell anders entschieden“, sagte er. „Das finde ich erwärmend.“ Ânsgar sah mit den Köpfen weg, es war ihm unangenehm. Er wusste nicht zu agieren oder zu reagieren auf seine Worte. Seit er denken konnte, war er nie mit Gesten und Ausdrücken konfrontiert, wie sie ihm jetzt ununterbrochen unterliefen. Das war alles neu für ihn, er war wie ein Kleinkind, das lernte. Das Peinlichste daran war, dass er das wusste, deshalb wandte er sich ab. „Warte“, sagte Agelulf, aber Ânsgar blieb nicht stehen, sondern machte sich davon, was ihm nichts nützte, da Agelulf ihm hinterherging, was ihn nervte. Er blieb stehen, wirbelte herum und kreischte ihn mit dem Wendigokopf an, sodass er für einen Moment betäubt war, was Ânsgar nutzte und ihn mit der flachen Tatze niederschlug. Schon lag Agelulf bewusstlos vor ihm. Er atmete genervt von sich selbst ein und aus, bückte sich nach dem armen Unbedarften, nahm ihn hoch und über die Schulter, um dann ziellos irgendwo hinzugehen.

Heraus kam er bei der alten Windmühle des Dorfes, deren Räder aus Stoffbahnen schon lange vom Wetter zerrissen worden waren. Sie hatte einen achteckigen Grundriss, wobei die hölzerne Wand erst ab einer Höhe von zweieinhalb Metern begann, sodass er sich darunter hindurchbücken konnte. Dabei stieß er versehentlich Agelulf mit dem Kopf gegen das stabile Holz. Ups. Das rief mit Sicherheit eine Beule hervor. Er stellte sich vor, wie es aussähe, wenn er Agelulf zwischen die großen Mahlsteine legte und die Mühle in Betrieb nahm. Er würde in einem blutspritzenden Fontänenwerk zermalmt werden. Als Ânsgar hergekommen war, war das eine Strafe für einige Dorfbewohner gewesen, die sich gegen ihn aufgelehnt hatten. Er erinnerte sich genau daran, wie sie ihn anflehten, sie stattdessen zu konsumieren - was er ursprünglich vorgehabt hatte. Es klebte immer noch altes Blut an den Steinen, das sie verfärbt hatte. Er schüttelte den Gedanken ab. Er wusste nicht, warum er ausgerechnet hierhergekommen war oder was er mit Agelulf machen sollte. Schlafend sah der Werwolf unschuldig aus, fast schützenswert. Es war diese Unschuld, die ihn, hm, schmackhaft machte. Zweifellos ein Überbleibsel des Zusammenlebens mit Erlik. Ja, er empfand Agelulf als schmackhaft, wodurch vieles für ihn mehr Sinn ergab. Er legte ihn vor den Mahlsteinen auf den kahlen Boden ab. Das war der beste Moment. Ânsgar kniete und lehnte sich vor, um mit der Tatze durch Agelulfs Fell zu fahren. Er wollte sich die Narben ansehen, die es nur unzureichend verdeckte. Einige davon, die er ihm zugefügt hatte, waren verkrustet und rissen auf, sobald er an ihnen kratzte. Die interessierten ihn nicht. Die älteren aber, die mit neuer Haut aber ohne Fell verwachsen waren, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Er schnupperte mit der Ligerschnauze und betrachtete sie mit dem Wendigokopf. Ihre Aura war verändert. Bei manchen dunkler, bei anderen heller, während Agelulfs Aura dazwischenlag. So als hätte jemand etwas genommen, ihn aufgeschnitten und es dort hineingelegt. Das Fleisch war wieder zusammengewachsen, blieb aber verändert, weil ein Fremdkörper darin verharrte. Mit den Augen des Lindwurms wanderte er weiter und sah sich alles genau an. Werwölfe waren eitel. Narben galten zwar als Zeichen dafür, Kämpfe auszufechten, zu überleben und Erfahrung zu haben. Zu viele davon waren hingegen abschreckend. Entweder weil ein Werwolf nur einsteckte, oder er bewusst unnötig Konflikte suchte. Bei anderen ihrer Art galten sie deshalb ab einer gewissen Menge als entstellend. Agelulf war über jene ästhetische Grenze weit hinaus. Ihn sah keine Werwölfin mehr an. Ânsgar sah sich dessen Augen an, indem er die Lider öffnete. Sie hatten keine Farbe. Wie erwartet. Er hatte schon geahnt, dass selbst der friedliche Agelulf ein Schauspiel war, um ihn gefügig zu machen. Andererseits brauchte Ânsgar genau das. Die Aufmerksamkeit, von der er sich einbildete, sie komme derjenigen Erliks nahe. Er hegte keinen Groll gegen Agelulf, da er genau das gab, was er verlangte. Die kleine Untersuchung war aufschlussreich. Zweifellos wusste Agelulf sogar später von ihr. Entweder weil es in Erliks Traumtagebuch stand und er wahrnahm, was geschah, oder weil er nicht bewusstlos oder nur halbbewusstlos war. Letztlich war es egal, denn Ânsgars Ziel war ein anderes. Er trachtete danach, Erliks Geschmack erneut zu kosten. Diesmal, ohne dass ihm etwas im Weg stand, sprich, das Agelulf sich wehrte. Er hatte ihm erzählt, dass Erlik in ihm gewesen war. Dort war nunmehr der intensivste Rückstand. Er wollte alles haben, was möglich war. Ânsgar nahm Agelulf und zog ihn auf seinen Schoß. Mit den Klauen fasste er dessen Ober- und Unterkiefer ein und zog das Maul auf. Er beugte sich vor und bedeckte mit dem Lindwurmmaul Agelulfs Schnauze, um dann mit der Zunge in ihn hineinzufahren bis in seinen Magen, in dem Erlik gelegen hatte. Er musste es tun, es wissen. Die Lindwurmzunge war die längste seiner Köpfe und zwei Drittel so lang, wie er groß war, wenn er sie komplett hervorstreckte - etwa zweieinhalb Meter. Mit ihr gelangte er spielend tief hinein in Agelulfs Körper. Da! Erliks Geschmack. Er wurde intensiver. Ânsgar beeilte sich. Ersticken wollte er den Werwolf nicht. In gewisser Weise vergolt er ihm, dass er mit seinem Arm in Ânsgar gefuchtelt hatte, obwohl es dessen Idee gewesen war. Kaum hatte er die letzte Barriere durchdrungen, schmeckte er, was er gesucht hatte. Es brachte ihn nicht weiter, als er schon war. Keine neuen Erkenntnisse, keine Visionen, keine Inspirationen. Nur der Geschmack, nach dem er süchtig war. Alsbald zog er sich zurück, als er merkte, dass Agelulf keine Luft mehr bekam. Er hatte erwartet, dass er aufwachte, aber sein Bewusstsein kehrte nicht wieder. Er ließ ihn dort, wo er war, und zog sich in die Scheune zurück. Sobald er erwachte, kam der Köter ohnehin angerannt und ließ ihn nicht aus den Augen. In seiner Behausung dachte er nach. Über alles und nichts. Am meisten darüber, dass seine Suche bald endete. Er ließ die vergangenen Jahrhunderte Revue passieren. Erlik oddi Dynyol. Er musste sterben, damit die Linie endlich ausgelöscht war. Ânsgar nahm sich vor, ihm alles über seine Familie zu erzählen. Was sie getan hatten und was er, Erlik, in der Lage war, anzurichten. Er war sich sicher, dass er nichts dagegen hatte, von ihm konsumierte zu werden. Seine Familienvergangenheit wäre ihm egal, Macht war ihm egal, sobald er fand, wonach er sich sehnte. Über den grübelnden Gedanken döste Ânsgar ein und hielt seinen Körper nicht mehr davon ab, das Lamm zu verdauen, das bisher in im Vormagen gewartet, gestrampelt und geblökt hatte. Jetzt war es Zeit, es sterben zu lassen und ihm die Angst zu nehmen. Nur eine halbe Stunde später war jede Bewegung erstorben.

 

*25. Nacht des 1. Mondes im Jahr **84 n. d. Aufbruch

 

Die Wilde ist los. Frei und selbstbestimmt rennt sie davon. Ich sehe sie durch Gassen und Straßen stürmen, Lust nach Flucht erleben, mit Verfolgern im Rücken. Sie ist die einzige bisher, deren Namen ich im Traum erfahren habe. Drimba. Sie weiß, was sie will, obwohl das alles Dinge sind, die sie nicht bekommt. Ich habe nur von ihren letzten Tagen geträumt, bevor sie stirbt. Sie trifft einen Wolf, der sie verführt, mit ihr zu gehen, um etwas zu suchen. Dabei durchforsten sie eine ganze Stadt von vorne nach hinten. Was sie suchen, weiß ich nicht, aber es ist dem Wolf wichtig, denn er drängt sie, immer weiter und weiter zu gehen, obwohl es aussichtslos ist. Sie begegnet auf der Suche einem Onkel, der ihr Geliebter ist, tötet ihn aber und verstreut sein Blut überall auf dem Boden. Warum, weiß ich nicht. Danach sucht sie einen Valken auf, von dem sie entführt wird, weil er sie von einer Frau zum Mann machen will. Am Ende ist sie weder das eine noch das andere. Sie befreit sich aus dessen Gefangenschaft und flieht mit Hilfe des Wolfes zu Fröschen, von denen sie welche essen, um wieder zu Kräften zu gelangen. Aber nicht lange, dann sind sie erschöpft und ruhen aus in einem Schlachthaus, in dem Drimba zur Bank geführt wird, auf der der Wolf ihr Herz stiehlt und sie gebrochen zurücklässt.

Leider hatte ich heute Morgen keine Möglichkeit, sofort alles aufzuschreiben, da ich verschlief und zum Unterricht musste. Die meisten Details und der genaue Ablauf sind verschwommen und kaum fassbar. Ich glaubte aber, Wulfigas Gesicht in dem Wolf gesehen zu haben. Mein Verstand spielt mir Streiche, da ich in letzter Zeit so oft an ihn denke. Ich hoffe ich, dass er mir irgendwann das Herz stiehlt, was er vielleicht sogar schon geschafft hat, da ich ihm vollkommen verfallen bin. Mein Herz, mein Herz! Du schmerzt! Du schmerzt!*