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Neunter Abschnitt "Kalanthe V"


Kalanthe V

„Warum hörst du auf?“, fragte ich. Ich war darauf aus, mehr zu hören. Agelulf schüttelte den Kopf und antwortete: „Es macht keinen Sinn, weiterzuerzählen. Das, was am Ende passiert, habe ich dir schon am Anfang erzählt. Er stirbt. Alles, was ich jetzt noch kommt, ist unnötige Verliebtheit, die mich blind macht.“ Also doch. Es war kaum zu überhören gewesen, dass Agelulf zu Ânsgar Zuneigung empfunden hatte, obwohl ich nicht dahinter blickte, wieso. Die Chimäre war leicht als verfluchte Geißel abzutun, die nichts anderes als Hunger kannte. Das hatte ich am Anfang gedacht. Dabei war er auf der Suche seines Lebens gewesen und entdeckte dadurch sich selbst. Ich bedauerte, dass Ânsgar den Herzensmenschen nie getroffen hatte. „Warum er?“, fragte ich knapp, doch er wusste, wie ich es meinte. „Erlik“, sagte er. „Der Teil in mir, der mit ihm verbunden ist, verliebt sich in Ânsgar. Das ist unausweichlich nötig, sonst kann ich sein Vertrauen nicht gewinnen. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert, denn ich verletze mich selbst. Es wird schmerzvoll sein.“ Zwischen uns entstand ein unangenehmes Schweigen. Mich störte etwas an seiner Aussage, das ich zuerst nicht erfasste, bis ein Blitz durch meine Gedanken zuckte, den ich nicht herauszulassen wagte. „Sei mutig“, forderte Agelulf auf, der merkte, dass etwas in mir vorging. „Stell die Frage, die du stellen musst.“ Mein Mund wurde trocken, als meine Lippen die Worte formten. „Es wird schmerzvoll?“, fragte ich verdattert. „Nicht, es war...?“ Er schüttelte traurig den Kopf, seine wundervollen Augen waren so klarsichtig und unbescholten. „Ânsgar ist der sechste Geist. Ich habe ihn noch nicht kennengelernt.“ Meine Beine gaben nach, ich ging in die Knie. Vieles von dem, was er in den letzten Monaten nur angedeutet hatte, erhielt einen schrecklichen Sinn. „Nicht kennengelernt? Aber, wie ... ?“ Ich schaffte es kaum, meine Gedanken sinnvoll zu ordnen. „Das Traumtagebuch?“ Agelulf schüttelte den Kopf. „Es ist nicht nur das. Das Tagebuch ist ein Artefakt, das Einsicht ermöglicht. Durch Okka weiß ich, wie ich sie erreiche. Du hingegen, oder Ibor, ihr seid dazu nicht in der Lage. Dadurch kenne ich Details und Abläufe, die nicht einmal Erlik erträumt und aufgeschrieben hat.“ Die Zukunft. Was mit Ânsgar passierte, geschah erst noch! Die drei wabernden Wesenheiten, die mir begegnet waren, waren Schemen der Tage, die kommen, nicht vergangen sind. Mir wurde übel. „Hast du nicht gesagt, Okka war der erste Geist?“, fragte ich. Er nickte. „Du wolltest mir nicht sagen, wer der zweite und dritte Geist ist. Drimba war der vierte, oder?“ Er nickte wieder. „Dann Shakún’tala. Und jetzt ... Ânsgar?“ Nicken. „Vlooriean ist auch einer dieser Geister gewesen, aber er kann nicht der Letzte sein, weil du Ânsgar noch nicht getroffen hast, oder?“, fragte ich. Keine Antwort, stattdessen wurden seine Augen gelb. Ich fuhr fort: „Und ich - ich gehöre auch zu ihnen, nicht wahr? Das bedeutet es, wenn du sagst, das ich zu dir gehöre und ein Teil von dir bin.“ Schweigen. Agelulfs Blick verdüsterte. Ich hatte das bisher nie verstanden, obwohl ich es im Innern meines Herzens doch gewusst hatte. „Aber ich kann nicht die Letzte sein. Okka war der Erste, Vlooriean war der Zweite, oder? Und weil ich bei Drimba, Shakún’tala und Ânsgar nicht dabei war ... “ - „Du bist die Dritte“, unterbrach er mich. „Genau wie Ânsgar habe ich Shakún’tala und Drimba noch nicht kennengelernt. Sie noch nie gesehen, noch kein einziges Mal getroffen. Ihnen zu begegnen, liegt noch vor mir - auch die Schmerzen und die Schuld, die damit verbunden sind.“ Mein Kopf schwirrte und ich erbrach. Das war zu viel. Das war einfach zu viel. Es kam nichts raus, weil ich schon eine Weile nichts gegessen hatte, nur Galle und Geifer. Agelulf wartete geduldig. Als ich fertig war, hatte ich keine Kraft mehr, weiterzulaufen. Mein Kopf pochte unangenehm. Gerne hätte ich etwas Wasser gehabt, wie sehr wünschte ich mich im Moment zu Ibor zurück. Agelulf beugte sich herab und streckte eine Klaue nach mir, aber ich zuckte bei der Berührung zurück und starrte ihn an. „Ich will noch nicht sterben!“, sagte ich entschieden. Er reagierte überrascht und entgegnete: „Das wirst du nicht.“ - „Doch! Du wirst mir das Herz nehmen!“ Warum klammerte ich mich plötzlich so an mein Leben? Ich hatte bisher geglaubt, meinen Tod ertragen zu können. Ich hatte ihn doch schon geahnt! Warum also? Warum war ich so weich? „Ja, das werde ich“, murmelte Agelulf. „Aber nicht jetzt, und nicht morgen oder übermorgen. Du bist noch nicht bereit.“ Tränen stiegen in meine Augen. „Wann bin ich es denn? Und was, wenn ich es gar nicht mehr sein will?“, fragte ich. So viele Gefühle überwältigten mich. Eben erst hatte ich rausgefunden, dass ich eine Manticora bin und dann war bald alles vorbei? „Das ist unausweichlich, das solltest du begriffen haben“, antwortete er hart. „Ich kenne den Moment und weiß, wie es passiert. Aber wann es geschieht, weiß ich nicht. Vielleicht in einem Monat, vielleicht erst in einem Jahr.“ Er nahm mich, hob mich auf seinen Arm und streichelte mit der freien Klaue pathetisch über meine Brust. Die Berührung war unerträglich und beruhigend zugleich. „Es wird schmerzfrei sein, weil du es nicht erwartest.“ Er trug mich weiter hinein ins Herz der Waldfinsternis.

Nach etwa einer Stunde setzte er mich auf meine Bitte hin wieder ab. Er schlug vor, zu bleiben, wo wir waren und die Nacht hier zu verbringen. Ich nickte wortlos. Nachdem ich einigermaßen verdaut, was Agelulf mir offenbart hatte, kamen die sinnvollen Gedanken zurück, die eine Reihe von Fragen stellten. Zum Beispiel, ob er mich belog? Je länger ich über seine Worte nachdachte, und die Reihenfolge, in der er den Geistern begegnete und begegnen wird, desto unlogischer erschienen mir einige wichtige Details. Ich entschied mich, ihn direkt zu konfrontieren und sprach an, was mich am meisten beschäftigte: „Du hast Vlooriean bereits zu einem Teil von dir gemacht.“ Er spitzte die Ohren und sah mich offen an. „Wie ist es möglich, dass du mit ihm Drimba begegnest, wenn er tot ist? Als du mir von ihr erzähltest, war er bei dir.“ Ich saß an eine Fichte gelehnt, er setzte sich ein wenig entfernt vor eine Tanne und fing an, sich sauber zu lecken, anstatt mir zu antworten. Nachdem er mit der Fellpflege fertig war, betrachtete er mich. Mir war überhaupt nicht der Sinn danach, aber als ich meine Nase an die Achseln heranführte, stellte ich fest, wie unangenehm ich schon wieder roch. Ibor und er hatten es da leichter. Ich atmete schwer ein und aus, rappelte mich auf und zog mich an Ort und Stelle aus, um zu ihm zu watscheln und mich baden zu lassen. Das war genau das, was ich brauchte. Mein aufgeregtes, verschrecktes Herz schlug sofort ein paar Takte gemächlicher, während er mit der Zunge über meinen Rücken fuhr, dann die Schultern, Arme, Brust, und so weiter. Am Ende war ich so entspannt, dass mich die Frage nicht mehr aus der Fassung brachte und meine Gedankenwelt zu einem seichten See geworden war. Ich atmete gleichmäßig und nahm die Gerüche um mich herum auf, die Fichte, die Tanne, unter der wir waren. Dieser friedliebende Moment in einer unwirklichen Situation, in der ich etwas erfahren hatte, dass mich völlig aus der Fassung brachte, war willkürlich und ohne Sinn. Wenn ich auf die Monate mit Agelulf und Ibor zurücksah, kam mir vieles durcheinander vor. Ihr Verhalten, mein Verhalten, was wir taten und warum. Sogar der Moment, ab dem vieles aus den Fugen geriet, war für mich deutlich auszumachen. Nachdem ich Ibor von der Verzückung erklärt und das Gefühl gehabt hatte, ihm und Agelulf etwas verraten zu haben. Danach war die sich in sanften Kurven schlängelnde Linie meines Lebens im Zickzack verlaufen. Oder als würde eine Sängerin ab einem gewissen Punkt im Lied schief singen, ohne dass es ihr auffiel. Es war, als würde eine Stimme in mir, die fremd war, sagen, dass ich gefälligst meinen Verstand einsetzen solle, um zu durchschauen, was um mich herum geschah. Als wollte sie mir vorwerfen, dass ich doch nicht so blöde war.

So unerwartet der Gedanke kam, verschwand er wieder, als Agelulf mich ansah und darauf wartete, meine Aufmerksamkeit zu erhalten. Seine Augen waren wieder gelb geworden. War das der Moment, in dem er mich - ? Nein, er hieß mich, aufzustehen und anzukleiden. Fertig angezogen, streckte er eine Klaue nach mir aus, in die ich meine Hand legte und wieder an ihn herantrat. „Nichts geschieht genau so, wie es im Traumtagebuch steht“, sagte er. „Der Rahmen bleibt, aber die Details haben sich verändert. Eine Alternative hat sich gebildet, in der Vlooriean nicht mehr nötig ist.“ Das machte für mich keinen Sinn. „Soll das heißen, dass das, was in dem Buch steht, doch nicht den Ablauf der Ereignisse festlegt?“, fragte ich. Agelulf schüttelte ungeduldig den Kopf. „Das heißt, dass es das festlegt, was wichtig ist. Vlooriean ist nur ein kleines Detail. Wann ich ihn aufnahm, war egal. Aber das ist nicht die Essenz. Was ich sagen will, ist, dass sich alleine schon durch Erliks niedergeschriebene Träume die Realität soweit veränderte, dass Vlooriean Drimba nicht mehr kennenlernt. Wäre es nie entstanden, wäre der Ablauf so passiert, wie ich es dir berichtete. Es ist schwer zu begreifen. Mein Erlik hat die Realität in dem Moment bereits beeinflusst, in dem er das erste Wort über seine Träume auf Papier brachte.“ Ich schüttelte den Kopf darüber. „Das verstehe ich nicht. Es ist so verwirrend und klingt, als ob Vlooriean hier sein sollte, es aber nicht ist, und umgekehrt ich nicht da sein sollte.“ Er schüttelte den Kopf. „Mach dir über all das nicht zu viele Gedanken. Ich brauchte lange, um zu verstehen, was hinter den Schleiern vor sich geht. Du bist noch am Anfang und wirst das Ende nie in deiner jetzigen Form erreichen.“ Kaum hatte ich das vergessen, haute er mir diese Tatsache direkt wieder an den Kopf.

Gerade als ich darum bitten wollte, nicht mehr darüber zu sprechen, zog er mich abrupt an sich heran und bedeckte mit einer Klaue meinen Mund. Er reckte den Kopf in die Höhe und zog geräuschvoll die Luft ein, bis sich sein Rückenfell aufstellte. „Wir sind nicht mehr allein“, grollte er. Ich lauschte, hörte aber nichts. Stattdessen nahm ich mehrere ausgeprägte Gerüche wahr. Unter ihnen war Ibors Zimtgeruch, die anderen kannte ich nicht. Sie kamen aus allen Richtungen. Wir waren umzingelt. Agelulf stand auf und hob mich auf die Tanne. „Kletter, so hoch du kannst“, sagte er und setzte mich auf einen der niedrigeren Äste. Entsetzt sah ich zu ihm hinab. „Ich bin keine Katze!“, erwiderte ich. „Du darfst nicht in ihre Gewalt geraten. Du bist eine Manticora, eine Mutter, sie wissen es bereits.“ Ich hatte keine Zeit mehr zu fragen, was er mit Mutter meinte, da knackte das Unterholz in der direkten Umgebung. Sie waren nah. Aber wer waren sie? Warum war Ibors Geruch dabei? Es blieb keine Zeit, ich kletterte hinauf, so wie Agelulf gedrängt hatte. Je näher sie kamen, desto deutlicher spürte ich die Gefahr. Er wiederum stob davon in eine andere Richtung. Nicht weit weg. Er wollte etwas Abstand gewinnen, damit niemand auf mich aufmerksam wurde. Doch das hätte er sich sparen können. Die Tanne, auf der ich kauerte, wurde durchgeschüttelt, als etwas dagegen sprang und ich mehr überrascht denn erschrocken einen weißen Werwolf unter mir sah, der zu mir herauf starrte, mich mit offenem Maul gierig angrinste und die Klaue nach mir ausstreckte. Ich zog meinen Fuß weg, sodass er mich nicht erwischte und vom Baum zerrte. Dafür versuchte er, ihn hochzuklettern. Ich schrie auf. Seit wann kletterten Werwölfe?! Ich hievte mich den nächsten Ast hinauf, wobei das problematisch war, da selbst Muralge-Tannen als die größeren Verwandten normaler Tannen mit zunehmender Höhe nur dünne Äste hatten, die mich nicht mehr trugen. Ich schaffte es kaum sieben Meter hoch, bis ich keine anderen Wege mehr sah, weiter hinaufzugelangen. Von unten vernahm ich wildes Gebell und Grollen, Jaulen und Knurren. Kurz sah ich zurück, doch das Astwerk und der tollwütige Verfolger verwehrten mir einem genauen Blick auf das, was da unten vor sich ging. Indes war der weiße Werwolf, dessen Augen rosa strahlten und mich stechend fixierten, abgerutscht, was ihn aber nicht davon abhielt, es sofort noch einmal zu versuchen und mit einem gewagten Sprung den Baumstamm zu knutschen. Zwar sah er gefährlich aus - etwas Gutes führte er mit Sicherheit nicht im Schilde - aber ich sah keine zügellose Wildheit in seinen Augen. Im Gegenteil wirkten sie bittend, sobald sich unsere Blicke trafen. Er biss sich im Stamm fest, um nicht gleich wieder abzurutschen und die Klauen frei zu haben, damit er den nächsten Ast erreichte, der direkt unter mir war! Weil ich keine andere Möglichkeit sah, stellte ich mich, anstatt zu fliehen. Sollte er kommen! Ich trat ihm die Schnauze ein! Der erste Tritt saß direkt, als der Weiße bei mir angelangte, nach mir schnappte und meinen Fuß zu schmecken bekam. Ich war nicht zimperlich, doch es störte ihn kaum. Er leckte mit der Zunge über seine Lefzen, als ob ihm ein langes Haar im Maul hing, das ihn störte. „Lass das!“, grollte er. Ich hatte nicht erwartet, dass er mit mir sprach, und hatte nicht vor, etwas zu erwidern. Oft genug war ein Gespräch in Kämpfen und Streitigkeiten eine Verwicklungstaktik, um Zeit zu gewinnen. Er streckte seine linke Klaue nach mir. Ich zog mich ein Stück am Stamm empor und trat wieder nach ihm. Diesmal erwischte er mich und zerrte mich sofort hinab. Ich hielt mich am Ast fest und ließ selbst dann nicht los, als er an mir rüttelte. „Lass los!“, knurrte er. Stattdessen wehrte ich mich, indem ich hin und her zappelte. Das war ein Fehler, da ich mich dadurch weniger darauf konzentrierte, mich festzuhalten. Er nutzte das aus und zerrte im richtigen Moment, sodass du ich mich nicht mehr hielt und schreiend kopfüber herabhing. „Ich hab sie!“, bellte er, sprang herunter und landete rumpelnd auf dem Waldboden. Ha! Er hatte mich nicht lange! Agelulf war schon da und klatschte ihm die flache Klaue gegen den Schädel. Der weiße Werwolf jaulte auf, ließ mich aber nicht los. Erst als Agelulf ihn in den Arm bis, zuckte dessen Klaue auf. Ich fiel mit dem Kopf zuerst zu Boden, war aber geistesgegenwärtig und rollte mich ab. „Renn weg!“, grollte er, ich sah ihn an und fragte: „Aber was ist mit Ibor? Er ist doch -?“ - „Ibor ist der, der uns verfolgt! Renn weg!“ Ich rappelte mich auf und rannte. Hetzte davon, so flink mich meine Beine trugen. Das war nicht genug. Sie waren schneller. Immer. Denn ich hatte nur einen menschlichen Körper. Obwohl ich eine Manticora war. Ich floh. Schon wieder. Warum so oft? Weil ich schwach war? Warum war ich schwächlich? Weil ich Angst hatte? Nein. Weil man es mir oft gesagt hatte. Und weil man mir sagte - wie Agelulf eben - ich solle wegrennen. Dabei hatte ich überhaupt keine Angst. Nicht vor ihnen, nicht vor Werwölfen. Meine Schritte erlahmten. Der alte Verstand von Kalanthe warnte mich, nicht stehen zu bleiben. Der neue gewann Selbstbewusstsein und überlegte in Sekundenbruchteilen, zog andere Schlüsse und stellte fest, dass Angst fehl am Platz war. Was sie wollten, bekamen sie nur von mir. Somit war ich die Herrin der Situation. Ich wandte mich um und sah, was ich ohnehin erwartet hatte. Sie hatten mich längst eingeholt, mich aber nicht angefallen. Drei. Der weiße Werwolf, der mich vom Baum geholt hatte - sie war eine Werwölfin, ich hatte es nicht bemerkt - einer, dessen Fell ähnlich aussah wie das einer Glückskatze, weiß, schwarz und orange, und einer, der sich als Ibor herausstellte. Nacheinander begegnete ich ihren Blicken. Während die Werwölfin und der Glückswolf nach ein paar Sekunden winselnd die Augen abwandten und sich ein paar Meter zurückzogen, hielt Ibor meinem stand. Er und ich waren auf derselben Stufe. Wobei, nein, das stimmte nicht mehr. Soeben war ich eine weiter aufgestiegen. Ich war ihm überlegen, das wusste er, er grinste mich breit und monströs an. „Wo ist Agelulf?“, fragte ich dunkel. „Nicht tot“, antwortete er. „Wo?“, wiederholte ich energisch und laut. Der Schall wurde vom Wald verschluckt. „Da, wo du ihn zuletzt gesehen hast. Es geht ihm gut, er ist bewusstlos.“ Dann hatten sie ihm ordentlich zugesetzt. „Warum?“, fragte ich. „Weil du eine Mutter bist“, antwortete er. „Was bedeutet das?“ Ibor legte den Kopf schief. „Er hat dir nicht ein Wort gesagt, oder? Obwohl er schon lange weiß, was passiert und wer du bist, hat er geschwiegen. Das ist typisch für ihn.“ - „Du bist nicht besser, du beantwortest meine Frage nicht.“ Ibor schnaufte. „Ich bin hundertmal besser als er! Ich kümmere mich um meine Leute!“, bellte er. Ich sah sie mir die beiden anderen an. Sie waren über und über mit Narben versehen, so wie Agelulf und Ibor. „Ausgestoßene?“, fragte ich. „Geschwister!“, entgegnete er entschieden. „Sie sind wie viele von uns, die kein Rudel mehr haben. Ich habe sie gefunden und sie folgten mir. Ich wollte sie zuerst nicht, aber sie ließen sich nicht abwimmeln.“ Ich taxierte ihn sorgfältig. Er war höchst angespannt, ich machte ihn nervös. „Warum hast du sie versteckt?“, fragte ich. Ibor zuckte mit den Achseln. „Habe ich nicht. Es war ihre Entscheidung, zu warten, damit sie dich im richtigen Moment kennenlernen.“

Der richtige Moment? Meinte er, als ich erkannte, was ich bin? Eine Manticora. Aber was war das genau? Ich hatte keine Vorstellungen davon. Es war riskant, ich wagte einen abrupten Schritt auf ihn zu. Er machte einen schnellen Schritt zurück, seine Mimik entgleiste einen Moment, bevor er sich besann und in sich hinein lachte. „Du hast Macht, Kalanthe, obwohl ich es bin, der dich mit einem Hieb zerfetzen kann.“ - „Warum tust du es dann nicht?“, forderte ich ihn heraus, in dem sicheren Wissen, dass er das niemals wagte. Er legte die Ohren an und fixierte mich, fletschte dich Zähne. „Weil du eine Mutter bist“, wiederholte er, was mir gegen den Strich ging. „Ich habe keine Kinder, ich bin niemandes Mutter.“ - „Du bist unser aller Mutter!“, keifte die weiße Werwölfin und erntete dafür einen Hieb des Glückswolfs neben ihr. Statt etwas zu sagen, sah ich Ibor an. „Klärst du mich bald auf?“, fragte ich sarkastisch.

„Du kennst die Sage, wie Werwölfe entstanden sind?“, entgegnete er stattdessen. Was hatte das mit mir zu tun? Ich nickte stumm. „Sie ist falsch“, sagte er. Ich hob die Augenbrauen an und meinte: „Es ist nur eine Sage, Ibor.“ Er schüttelte den Kopf. „Ist egal. Jede ist im Kern wahr. Aber bei unserer stimmt ein wichtiges Detail nicht.“ - „Und was?“, fragte ich. Mit wurde mulmig zumute, ich wollte nach Agelulf sehen. „Unser Urvater war ein Wolf, das stimmt, aber unsere Mutter keine Menschenfrau. Zumindest keine reinrassige. Sie war eine Manticora, so wie du.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Deswegen nennt ihr mich Mutter? Weil ich eine Manticora bin? Ibor, woher weißt du überhaupt davon? Es ist mir erst vor ein paar Stunden klargeworden. Wie kannst du das wissen?“, bedrängte ich ihn und näherte mich. Während die anderen beiden Werwölfe zurückwichen, blieb er diesmal standhaft und kniete sogar vor mir, damit ich sein Gesicht erreichte und ich mit dem Handrücken über seine Wangen fuhr. „Warum verfolgst du deinen Bruder und mich?“, stellte ich die Schlüsselfrage, die er ignorierte und auf die anderen Fragen antwortete: „Ich weiß davon, seit ihr den Wald betreten habt. Sogar schon davor. Agelulf hat euch drei Tage vorher angekündigt, erinnerst du dich?“ Ich überlegte kurz, was er meinte. „Moment, du meinst, euer Geheul?“, wunderte ich mich, er nickte. „Ich habe eine Mutter gefunden. Das war seine Nachricht.“ Agelulf hatte schon gewusst, wer und was ich war? Warum hatte er es nicht - ? Hm ... Verstehe. Das durfte er nicht, sonst hätte ich mich nicht weiterentwickelt. „Ich sehe nicht, was das ändern soll. Was wird jetzt? Was habt ihr mit mir vor?“, fragte ich. „Wir - !“, wollte die Werwölfin das Wort an sich reißen, verstummte, als Ibor in ihre Richtung grollte. „Sprich!“, bestimmte ich und überging ihn. Sie sah zwischen uns hin und her und antwortete dann kleinlaut: „Die Verbindung zwischen einem Wolf und einer Manticora hat uns hervorgebracht. Wölfe gibt es überall, aber eine echte Mutter hat keiner von uns kennengelernt. Wir wollen wissen, wer du bist.“ Das entsprach der Wahrheit, ihr Blick log nicht. Ich sah herausfordernd zu Ibor. „Was verbergt ihr vor mir? Mich nur deshalb Agelulf wegnehmen, ist übertrieben, oder nicht?“ Er sah mich schief an. „Nur deshalb? Reicht das nicht? Hier noch ein Grund: Ich will nicht, dass er dich mitnimmt. Du bist mein!“ Ich seufzte. „Ich auch nicht“, sagte ich leichtfertig, worauf er sprachlos reagierte und mich anstarrte. „Aber es geht nicht anders! Sein und mein Schicksal sind miteinander verwoben. So fest, dass es vieles zerstört, wenn ich nicht mit ihm gehe“, erklärte ich. Er schnaufte. „Ich würde gern sagen, aus dir spricht mein Bruder, aber das bist du selbst. Die Manticora.“ Er sah betreten weg. „Wir wussten beide, dass es nicht von Dauer ist“, sagte ich, worauf er mich fortstieß, über mich stülpte und anknurrte. „Jetzt spricht mein Bruder aus dir.“ Ich hatte keine Angst um mich, eher um ihn. Ich wusste, wohin mein Weg führte und wie er endete. Nicht hier und heute. Seiner war ungewiss. „Es gibt noch einen Grund, weshalb das alles“, grollte er. „Aus der Verbindung Wolf und Manticora sind wir entstanden. Aber wir sind nicht genug. Wir wollen etwas mächtigeres werden, das aus einem Werwolf und einer Manticora entsteht. Ein neues Rudel, eine neue Rasse.“ Ich wusste darauf nichts zu sagen, weil ich es als absurd betrachtete. „Ich werde gehen“, sagte ich, krabbelte unter ihm hervor und rappelte mich auf. Er hielt mich nicht zurück. „Ich weiß nicht, warum du das machst, Ibor, aber ich werde mit deinem Bruder mitgehen, obwohl es mir das Herz bricht, weil ich dich aufrichtig liebe.“ Die weiße Werwölfin knurrte, der bisher schweigsame Glückswolf ebenso. Als ich sie ansah, wandten sie den Blick ab, grummelten aber weiter. „Ich werde dich nicht aufhalten“, sagte Ibor. „Aber sie werden es. An das, was zwischen uns ist, sind sie nicht gebunden. Selbst wenn sie Respekt vor dir haben, werden sie dich nicht gehen lassen. Kalanthe, mach es nicht kompliziert.“ Ich ohrfeigte ihn, was er stumm hinnahm, ohne aufzujaulen oder mich aufzuhalten. „Ich werde mich nicht fügen. Agelulf und ich sind bereits auf dem Weg zu einem anderen Ort. Was erwartest du von mir? Dass ich mich von dir schwängern lasse?“ - „Du bist bereits schwanger!“, mischte sich der Glückswolf krächzend ein. Er hatte eine alte Narbe am Kehlkopf, durch die Verletzung waren seine Stimmbänder verletzt. Ibor wirbelte herum und verpasste ihm einen Schlag mit dem Rücken seiner linken Klaue. Er jaulte auf und versteckte sich dann mit eingezogenem Schwanz hinter der weißen Werwölfin, die Ibor mit gefletschten Zähnen anknurrte. Er bellte sie beide wortlos an und wandte sich wieder mit zu.

Schwanger? Ich? Seit wann? Das war nicht möglich. Ich spürte nichts! „Du wusstest das nicht?“, fragte er und wirkte überrascht. „Du riechst aus jeder Pore nach einer tragenden Mutter.“ Ich sah ihn entgeistert an. „Es ist dein Kind, nicht wahr?“ Er antwortete nicht. Nein, das war nicht möglich. „Es kann auf keinen Fall Agelulfs Kind sein!“, rief ich entsetzt. „Ich habe nur einmal mit ihm geschlafen!“ Ibor wiegelte ab. „Ja, das weiß ich. Aber bei uns funktioniert vieles anders. Als er dich glücklich gemacht hat, hat das etwas hinterlassen. Weil Werwölfinnen nicht ganzjährig fruchtbar sind, bleibt der Samen von Werwölfen eine lange Zeit in ihnen, sodass sie trächtig werden, wenn sie zeugungsfähig sind. Das ist bei dir passiert.“ – „Das glaube ich dir nicht“, widersprach ich. „Habe ich dich belogen, seit wir uns kennen?“ - „Nein, Ibor, so nicht“, zischte ich verärgert. „Weder Agelulf noch du, keiner hat mir gesagt, wer und was ich bin, obwohl ihr es wusstet.“ Er fuhr auf und haute seine Klauen in den Waldboden. „Wir wussten es doch nicht!“, bellte er. „Agelulf vermutete, dass du eine Mutter bist. Aber wir wussten es erst seit kurzem. Sei nicht so engstirnig und glaube mir! Du bist meine Frau!“ - „Deine Frau?“, lachte ich sarkastisch. „Oder in Wahrheit nur eine Geburtsmaschine für euren dämlichen Plan? Seit wann hast du die Hoheit darüber, was ich glauben soll, nur weil ich deine Frau bin? Ich habe einen eigenen Verstand!“ Seine Lefzen zuckten, die Augen veränderten ihre Farbe. Es war schon wieder passiert, ohne dass ich es bemerkt hatte. Männer stülpten ihre Vorstellungen über mich. Wie ich das hasste. Jetzt sah er mich sogar schon an, als wäre ich ungehobelt und müsste ihm gehorchen. Ich schüttelte den Kopf. Wie hatte ich mich nur so täuschen lassen? Die vergrabene Wut über verfälschte Dominanz schlug in mir hoch, meine Wangen zuckten. Ich weiß nicht, was sie sahen, aber Ibor und seine beiden Lakaien wichen vor mir zurück. In dem Moment platzte ich, holte Luft und schrie meinen Ärger hinaus. Es war kein Schrei, den ich verursachte, es war Gebrüll. Kein Bellen oder Grollen, wie bei Agelulf und Ibor. Aus der Tiefe meiner Lunge äußerte sich die freigelassene Manticora mit ihrer wahren, unverfälschten Stimme. Die weiße Werwölfin und der Glückswolf zuckten und sackten in sich zusammen. Selbst Ibor hielt mir nicht stand, senkte den Blick, legte die Ohren an und neigte den Kopf weg. Im Wald erstarben alle Geräusche, von denen es nur wenige gab, so als hielte er den Atem angespannt an. Ich glaube, ich war danach diejenige, die am meisten überrascht war. Ich erschrak über mich selbst und floh ein paar Schritte rückwärts vor ihnen davon. Keiner der drei machte Anstalten mich aufzuhalten. Wäre ich getürmt, hätten sie mich nicht verfolgt. So groß war die Macht, dass ich sie nur durch meine Stimme anhielt. Die Wut hatte ich hinaus gebrüllt, jetzt war ich verwundert über mich selbst. Mir wurde warm, beide Wangen glühten. „Das war die Stimme einer Mutter“, murmelte Ibor, seine hörte sich dumpf an, so als spreche er durch ein Kissen zu mir. Zuerst glaubte ich, mein Wutgebrüll hatte mich taub gemacht, aber als die spärlichen Geräusche wieder einsetzten, wurde mir klar, dass sich Luft um uns herum verändert hatte. Sie war - wie soll ich sagen? - dicker geworden, sodass sich die Laute der Umgebung und die Stimmen verschränkt anhörten. Ich sah zu Ibor. „Das war deine und die Stimme deines Ungeborenen.“

 

Eine Weile später warteten wir schweigend bei Agelulf, der bis in die Nacht hinein bewusstlos war. Meine Entscheidung stand fest. Ich blieb bei ihm, aber weder Ibor noch die beiden anderen Werwölfe - sie hieß Inanna, er Rakkarkattan - wollten mich ziehen lassen. Wortlos kam die Vereinbarung zustande, dass sie uns begleiteten, bis ich das Kind gebar. Das freute mich, weil ich Ibor dadurch eine Weile in der Nähe hatte, bevor der endgültige Abschied anstand. Während die Stunden verstrichen, lernte ich meine Sinne neu kennen. Die Nacht brach herein, hier im Wald früher als außerhalb. Anstatt dass alles dunkler, verschwommener und undurchsichtiger wurde, veränderten sich die Farben des Waldes und wechselten in unnatürlich leuchtendes Lila und blasses Grün. Das war nur die geringste Veränderung. Ich sah überall kleine Fäden, die sich entweder schnurgerade, verschlungen und durcheinander oder gar eckig über die Pflanzen und Bäume zogen. An ihrem Ende entdeckte ich ein Insekt, das Käfern auflauerte, die in aller Ruhe die Blätter eines nahen Maulbeerstrauches fraßen. Dann war da eine Spinne, die in ihrem Netz wie ein Stern im Baum aussah. Eine unglückliche Fliege, die einen langen, dicken leuchtenden Faden hinter sich herzog, flog in das Netz hinein. Schon eilte die Spinne her und verwebte die Fliege, um sie später zu fressen. Die Fäden waren Wärmespuren, die nach einiger Zeit verblassten. Der Wald war übersät von ihnen. Als ich mich umsah, um die eigene zu suchen, sah ich die Spuren meiner Fußabdrücke. Ich hörte gefühlt hundertmal besser, was sich schon vorher eingestellt hatte. Doch während ich zuvor weit entfernte Geräusche wahrgenommen hatte, hörte ich jetzt sogar welche, die ein normales Gehör, die Ohren der Werwölfe um mich herum eingeschlossen, nicht auszumachen in der Lage waren. Aus dem Unterholz drang von überall her leises Getöse, Knacken und Schmatzen von Insekten und Tieren, die in der Unterwelt des Waldbodens lebten. Meine Nase, vorher stumpf und kaum zu gebrauchen, roch Gerüche so intensiv, dass sie mir Rückschlüsse auf die Gedanken anderer erlaubte. Inanna zum Beispiel war eingeschüchtert von mir und fragte sich, ob ich ihre neue Rudelführerin werden könnte. Rakkarkattan wollte gerne weg von hier. Ihm war ich im Grunde völlig egal. Ibor überlegte tief, sodass ich nicht direkt verstand, an was er genau dachte. Es hatte, wenig überraschend, mit Agelulf und mir zu tun. Das Schmecken war eine Sache für sich. Ich schmeckte den Atem der anderen, wenn sie ausatmeten, oder im Ganzen den Atem des Waldes, der mich überraschte und demütig werden ließ. Der Wald - er begrüßte meine Ankunft und Anwesenheit. Er flüsterte, dass es ihm eine Freude war, mich wiederzusehen, als ob wir alte Bekannte waren, die sich zu lange nicht gesehen hatten. Zum Schluss das Gefühl meiner Haut. Umwerfend! Ich fühlte Schwingungen über sie hinwegbranden wie Wellen im Wasser. Jeder Baum und jedes Lebewesen strahlte sie aus. Sie waren wie ein Herzschlag des Geistes. Daraus ergab sich ein feingemaltes Bild meines Umkreises aus Farben, Formen und Geräuschen. Die Welt war voll von ihnen und keiner nahm alles wahr, konnte alles sehen oder hören, nur einen Bruchteil.

Ich hatte mich weiterbewegt - zum dritten Mal. Meine Bewusstseinsschranken waren gefallen und ich erhielt Zugang zu Bereichen eines unentdeckten Geistes, der trotz allem ich war. Doch bisher betraf das allein meine Sinne, nicht den Verstand. Ich wusste, dass mehr auf mich wartete und dass es Agelulfs Ansinnen war, mir erst das Herz zu nehmen, wenn ich den Punkt der vollen Entwicklung erreichte. Erst dann geschah, was geschehen musste. Ibor war ein Werkzeug. Ich ging davon aus, dass er keine Ahnung hatte, wie er seinem Bruder half. Das war nicht nötig, solange er in den Bahnen handelte, die vorgesehen waren. Bei dem Gedanken blieb ein bitterer Beigeschmack zurück, weil ich ihm das weder sagen noch erklären durfte. Ihm fehlte das Verständnis für das große Ganze. Ich hingegen verstand dafür einiges mehr.

Beide verfolgten ihr Ziele. Während Ibor erst vor kurzem die Idee und den Entschluss dazu gefasst hatte, war Agelulfs Ziel lange angestrebt. Was sie beide verband, war, etwas zu erschaffen, das weiter entwickelt war als sie selbst. Ich trug den ersten einer neuen Spezies in meinem Leib, der die Grenzen der Werwölfe und Manticorae nicht kennenlernte. Aber, und das war es, was mich besorgte, die Möglichkeit bestand, dass das Kind nicht als das zur Welt kam, was Ibor, Inanna und Rakkarkattan erwarteten. Was, wenn es als Krüppel geboren wurde? Oder schon bei der Geburt starb, weil es ohne mich nicht lebensfähig war? Sie erwarteten einen Messias der Werwölfe, obwohl niemand wusste, ob er einen Körper erhielt, der ihn eines Heilands würdig machte. Agelulf ging einen anderen Weg, dessen vollen Umfang ich nicht erfasste, aber mittlerweile eine Idee davon hatte. Das erschreckte mich. Er versuchte, einen bereits Geborenen, Erlik, zu erhöhen und auf eine geistige Ebene zu heben, auf der er ... ja, was eigentlich? Was passierte, sobald Agelulf erreichte, was er verfolgte? Hoffte er, selbst erhöht zu werden, eine Belohnung zu erhalten? Nein. Es war das, was er zu Beginn unserer Reise unzureichend erklärt hatte. Er tat es aus Liebe. Die ursprüngliche, chaotische Form davon, die es schaffte, alles zu zerstören und alles zu erschaffen. Allein deswegen. Nur, um eine einzige Seele zu retten - oder sie zu vollenden. Eine, die, so hatte ich es verstanden, nicht gerettet werden wollte. Dafür opferte er die ganze Welt, wenn nötig. Während Ibor auf einen Erneuerer hoffte, strebte Agelulf egoistisch nach jemand, der vielleicht alles zerstörte. Unterschiedlicher konnten ihre Gegensätze kaum sein. Und ich war mittendrin. Gerade erwacht, mit Weisheit geboren, aber im falschen Körper. Meine Sinne ordneten sich neu, was dazu führte, dass ich mich eingeschränkt fühlte. Ich sollte Tatzen und Hinterläufe besitzen, einen langen Schwanz, wie den eines Löwen, ein Maul mit zwei parallelen spitzen Zahnreihen, um Fleisch zu reißen. Nein, die die ich jetzt war, war falsch. Ein kümmerlicher Körper im Vergleich zu dem, was ich hätte sein sollen.

„Warum eine Manticora?“, fragte ich und zog ihre Aufmerksamkeit auf mich. Sie verstanden die Frage sofort. Warum hatte sich eine Manticora mit einem Wolf gepaart und den ersten Werwolf geboren? Warum war sie menschlich gewesen und nicht in ihrer natürlichen Gestalt? Ibor betrachtete mich und verwies dann auf Inanna und Rakkarkattan. „Davon haben die beiden mehr Ahnung, als ich“, sagte er und erteilte ihnen das Wort. Erwartungsvoll sah ich die beiden an. Inanna wich meinem Blick aus, Rakkarkattan hielt ihm stand. „Hm“, zögerte er. „Das ist schwer zu erklären und wird dauern.“ Ich legte die Stirn in Falten und entgegnete tonlos: „Ich habe Zeit. Bis Agelulf wieder aufwacht, braucht es ja scheinbar noch, so wie er aussieht.“ An seinem Kopf hatten sich zwei dicke Beulen gebildet. Mit was hatten sie ihm eins übergezogen? Mit einem Hammer? Das Bild von wildgewordenen Werwölfen, die mit Werkzeugen um sich schlugen und zusammenhanglos brabbelten und bellten, drängte sich mit auf. Er genierte sich und druckste herum, taxierte mich, inwieweit er sich mir verweigern durfte. „Ihr habt Angst vor mir, oder?“ Keine Antwort, fragender Blick. „Das heißt, dass ich gefährliche Fähigkeiten haben muss“, schlussfolgerte ich. „Wenn du mich noch länger baumeln lässt, überlege ich mir, ob ich herausfinden will, welche das sind.“ Rakkarkattan starrte, Inanna zwar auch, aber mit leicht erhobenen Maukwinkeln. Ibor lachte auf und sagte: „Gut so! Du musst dir Respekt verschaffen vor den beiden. Bei mir waren sie genauso, bis ich es ihnen ...“ Er verstummte, sobald ich ihn ansah. Auf seine Kommentare verzichtete ich. Ibors Ohren zuckten und senkten sich ein paar Zentimeter ab. Er räusperte sich und schwieg. Ich wandte mich wieder Rakkarkattan und Inanna zu. „Also?“, fragte ich auffordernd.

Letztere schluckte und fing an: „Muralge ist unsere Heimat, das weißt du, oder?“ Ich nickte. „Hier ist der erste von uns geboren worden. Aber der Wald ist genauso die Heimat vieler anderer.“ Sie zeigte auf mich. „Manticorae lebten lange vorher hier.“ Das machte Sinn, so kam es zur Begegnung zwischen dem Wolf und der Manticora aus der Sage. „Aber etwas verstehe ich nicht“, hob ich an, wobei Inanna die Frage aussprach. „Du fragst dich, warum du aussiehst, wie eine Menschenfrau und die Frau aus der Legende eine gewesen sein soll?“ Ich nickte. Das war ein Detail, das mir widersprüchlich vorkam. „Du musst anders denken“, mischte sich Rakkarkattan ungehobelt ein. „In der Sage wird mit keinem Wort erwähnt, dass der Wolf, der die Frau schwängerte, sich in irgendwas verwandelte.“ Ich dachte kurz darüber nach. Sie mussten nicht weitersprechen, als es mir klar wurde. „Seit heute fühle ich mich falsch in meinem Körper“, sagte ich langsam. „Liegt das daran, dass ich mich verändere?“ Inanna schüttelte den Kopf und antwortete: „Das wissen wir nicht. Du bist die erste deiner Art, der wir begegnen. Was mein Bruder sagen will, ist, dass unsere Fähigkeit, sich in menschliche Gestalt und zurückzuverwandeln, nicht von unserem Urvater stammt, sondern von unserer Urmutter, der Manticora. Sie hat ihn in menschlicher Gestalt getroffen, obwohl ihr wahrer Körper anders aussah. So wie deiner, wenn es stimmt, was du sagst.“ So war das also. Mein Volk - sie waren Gestaltwandler. „Du sagtest, sie leben schon länger in Muralge. Etwa im Zentrum des Waldes?“, fragte ich beiläufig. „Das wissen wir auch nicht“, antwortete Rakkarkattan anstatt Inanna ausreden zu lassen, die ihn darauf anknurrte, wovon er sich nicht beirren ließ. „Der erste von uns war zugleich der letzte Werwolf, der das dunkle Herz unserer Heimat je gesehen hat. Seitdem war niemand mehr dort, keiner ging hinein, niemand kam heraus. Nichts kommt von dort zurück, wenn man es doch wagt. Bis du herkamst, waren wir der Meinung, dass euch gar nicht mehr gibt, oder nie gegeben hat.“ Er schnaufte. „Aber jetzt ist es anders.“

Bevor ich weitere Fragen stellte, ächzte Agelulf neben mir. Ich zuckte mit der Hand weg, die ich auf seiner Brust abgelegt hatte, als er das volle Bewusstsein wiedererlangte. Ich hatte die Gedanken der anderen drei gerochen. Seine ebenfalls. Aber es waren nicht die Gedanken nur einer Person, sondern mehrerer. Sie dachten nicht deutlich, da sie erst wieder zu sich kamen. Der Moment hatte mich zurückschrecken lassen. Ich hatte nur ihn erwartet und sah mich mit drei Persönlichkeiten konfrontiert. Aber nur für einen Augenblick, dann vereinigten sich die drei Gedankenströme zu einem. Ich war die Erste, die er ansah. Sein Blick haftete lange an mir. „Deine Augen“, war das einzige, was er sagte, dann sah er zu den anderen. Ibor näherte sich, kniete neben ihm und packte Agelulf am Hals. „Einfach verschwinden, hm? So wie damals, als Hacke dich mitgenommen hat? Nicht mit mir! Sie gehört dir, aber trotzdem auch zu mir.“ Er ließ ihn los, stand auf und grummelte: „Bin bald zurück.“ Dann jagte er davon. Ich blieb verdutzt mit Rakkarkattan und Inanna bei Agelulf zurück und atmete durch die Nase ein. Ibor roch nach Zorn. Keinem oberflächlichen, sondern dem tiefgehenden Zorn, der sich über Jahre hinweg in jemanden hinein grub und das Denken und die Gefühle vergiftete. Agelulf war Ibors Schwäche. Der hatte ihn zurückgelassen, als sie jung waren, und ihn jetzt erneut verlassen. Die Art der Verletztheit kannte ich nicht, was mich dazu bewog, etwas zu tun. Anstatt bei Agelulf zu bleiben, wollte ich hinter Ibor her. Rakkarkattan und Inanna begehrten auf. Letztere hielt mich zurück. „Lass mich gehen!“, fauchte ich. „Er kommt klar“, entgegnete sie. „Er braucht mich!“, erwiderte ich und versuchte, mich ohne Erfolg loszureißen. „Ja, aber nicht jetzt“, sagte sie geduldig und zeigte mütterliche Nachsicht. „Agelulf schon.“ Ich sah ihn an, wie er verwirrt in der Gegend umher sah. Er war nicht bei sich. Ich blieb um seinetwillen. Ich setzte mich neben ihn, er legte sofort den Kopf im Schoß und vergrub seine Schnauze in meinen Händen. „Schwindelig ...“, murmelte er. Aber ich glaubte eher, dass sein Gewissen ihn plagte. Wobei, wegen mir weniger. Ich streichelte ihn, sah zu Rakkarkattan und fragte: „Holst du ihm bitte Wasser?“ Er betrachtete mich für einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Nein, denn er ist nicht unser Freund. Er hat Ibor schlimme Dinge angetan und es nicht verdient, dass ich ihm helfe.“ Inanna schlug Rakkarkattan auf den Hinterkopf und knurrte: „Glaubst du, er bedankt sich bei uns, wenn wir ihn verdursten lassen?“ Sie wandte sich an mich und fuhr fort: „Wasser ist in der Nähe, aber wir können es nicht holen. Wir haben nichts, um es herzubringen.“ - „Oh ... Dann helft mir bitte, ihn dorthinzubringen“, bat ich. Inanna verzog das Gesicht und erwiderte: „Ich helfe dir, obwohl es ein  komisches Gefühl ist. Er hat mir vor ein paar Stunden fast den Schädel eingeschlagen.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Er wollte mich vor euch beschützen.“ Darauf lachte sie auf. „Es wird sich zeigen, wer von uns dich beschützt“, meinte sie falsch grinsend, erhob sich und hievte den grummelnden Agelulf hoch, um ihn zu stützen. Ein seltsamer Anblick, ihn so zu sehen.

Dort am Weiher wuchs das Schilf hoch und auf der Wasseroberfläche schwammen einige Pflanzen. Wasserspinnen und Stechmücken schwirrten hin und her. Nicht der beste Ort, vor allem für mich, da ich kein Fell hatte, was die Mücken abgehalten hätte. So fielen sie über mich her. Wovon lebten sie sonst, wenn sie mich nicht hatten? Auf dem kurzen Weg hin erholte sich Agelulf bei jedem Schritt, sodass er kurz vor dem Weiher wieder ohne Inannas Hilfe lief, obwohl er weiter schwankte. Eins seiner Augen war zugeschwollen, die Beulen am Kopf deutlich sichtbar geworden. Wir kämpften uns durch das rundherum wachsende Schilf, bis wir an einer Stelle mir klarem Wasser waren. Ich schöpfte es mit meinen Händen und hielt es ihm hin, obwohl er das zweifelsohne selbst geschafft hätte. Damit zeigte ich ihm meine Dankbarkeit. Er lehnte sich vor und schlabberte geräuschvoll auf. Inanna sah interessiert zu, sagte aber nichts. Ich schöpfte das Wasser solange, bis er meine Hände mit seinem Klauen einfasste. „Es geht mir gut.“ Er sah zu Inanna, stellte sich vor sie, was die vielen Mücken, die sich erst beruhigt hatten, wieder aufscheuchte und knurrte sie tief an. Ich hielt ihn nicht auf. „Freiläuferin“, grollte er. Inanna wiederum fletschte die Zähne und grinste. „Passe ich dir nicht? Ist mir egal. Ich folge deinem Bruder.“ Sie sah zu mir. „Und ihr.“ Agelulfs linkes Ohr zuckte und er sah sich kurz nach mir um, bevor er sich ihr wieder zuwandte. „Wo ist er?“, fragte er, fasste Inanna am Hals und würgte sie. Sie schubste ihn mit Leichtigkeit fort, sodass er strauchelte und ich ihn wieder stützte. Scheinbar ging es ihm doch nicht so gut, wie ich gedacht hatte. „Er kommt früh genug zurück“, antwortete sie kurz angebunden, schritt durch das Schilf ans Ufer und ließ uns alleine.

„Du bist mehr geworden“, sagte Agelulf nach einer angemessenen Zeit, nach der er sicherging, dass niemand zuhörte. „Und du bist ein Idiot“, sagte ich. „Ich sollte dich verlassen und mit Ibor gehen.“ - „Aber das wirst du nicht“, stellte er fest. „Nein, ich bleibe bei dir. Doch dein Bruder - und auch seine zwei Anhängsel - werden uns begleiten.“ Agelulfs Ohren wanderten nach unten. „Mindestens, bis ich nicht mehr schwanger bin.“ Seine Augen wurden groß. „Schwanger?“, wunderte er sich. „Spiel nicht den Dummen“, zischte ich. „Ibor weiß es schon eine Weile. Du musst es auch bemerkt haben.“ Er sah beschämt weg. „Bitte verzeih mir, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll.“ - „Und das Nächste, was du mir vorschreiben wirst, ist, dass wir nicht mit Freiläufern reisen können.“ Er starrte mich an, ich verpasste ihm einen Klaps. „Ich bin eine Manticora! Du wusstest das. Ibor hat es mir gesagt. Die Nachricht, die du ihm mit deinem Geheul mitgeteilt hast. Ich verstehe deine Gründe, die meisten jedenfalls. Aber die Zeit, über mich zu entscheiden, als hättest du mir schon das Herz genommen, ist vorbei. Solange das Kind noch nicht geboren wurde, bleiben die drei bei uns.“ – „Du willst es austragen?“, fragte er. „Was spricht dagegen?“, entgegnete ich. „Fanatismus.“ Was? „Warum?“ Er seufzte. „Du bist keine von uns, deshalb verstehst du uns Werwölfe nicht. Genau wie bei den Menschen, oder Leoniden, Frok und allen Völkern gibt es viele Gruppen, die die anderen beherrschen wollen. Bei uns gibt es aber keine großen, nur Rudel mit höchstens dreißig Brüdern und Schwestern.“ - „Du glaubst, mein Kind bringt die Ordnung durcheinander?“, schlussfolgerte ich. Agelulf betrachtete mich kritisch. „Es ist nicht dein Kind.“ Wollte er mich herausfordern? „Wer sonst? Oder bin ich nur der Körper, der es heranwachsen lässt.“ Er hob abwiegelnd den Arm. „Nach meinem Verständnis ist das so, ja. Aber egal, das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ein Werwolf-Manticora-Mischling gefährlich werden kann. Du unterschätzt unseren Glauben und unsere Faszination für deinesgleichen.“ Unter dem, was er sagte, verbarg er etwas. Seine Stimme war eine Tonlage höher als normal. „Hast du Angst vor mir?“, fragte ich. Er zögerte einen Moment zu lange. „Vor mir?“, rief ich erstaunt aus. „Das sollte dich nicht wundern. Du hast von uns die größte Entwicklung durchgemacht. Von der Frau, die ich vor viereinhalb Monaten mit mir nahm, ist kaum etwas übrig.“ Ich lachte auf, Agelulf grummelte. „Was ist so lustig daran?“ Sieh an, ich kratzte an seinem Stolz. „Du hast Angst vor mir. Du! Aber andererseits willst du mich genau so haben. Angsteinflößend. Ich verstehe nicht, wieso. Ich habe mich nur innerlich verändert.“ Sein rechtes Ohr zuckte. „Kalanthe, sieh ins Wasser.“ Wieso sollte ich - ? Ach, was soll’s. Ich sah hinab und entdeckte zuerst meine im Wasser stehenden Beine. Ein Hort an surrenden Mücken hatte sich auf ihnen niedergelassen. Dort und auf jeder freien Stelle meiner Haut. Unverschämt sogen sie wie Wiedergänger das Blut aus mir heraus. In den nächsten Tagen würden die dich schrecklich jucken. Dann konzentrierte ich mich auf mein Spiegelbild im Wasser. Die, die mir entgegensah, war eine resolute Frau mit kantigen Gesichtszügen. Von der einstigen Weichheit war kaum etwas zu erkennen. Es war erhellend, die kleinen und größeren Unterschiede zu entdecken. Den größten bemerkte ich erst zum Schluss, weil ich nicht auf die Veränderung achtete. Meine Augen. So anders. Welche Farbe hatten sie vorher? Ich wusste es nicht mehr. Aber die, die mir aus dem Wasser entgegensahen, waren meine echten Augen. Golden. Eine sternförmige, silbrig schimmernde Pupille. Die Kalanthe, die mich betrachtete, war die, die sich fortbewegt hatte. Deshalb hatten Rakkarkattan, Inanna Angst und Ibor Respekt vor mir. So wie sie begegnete ich mir das erste Mal in diesem kleinen Weiher selbst und erschrak. Aber nur kurz. Dann gefiel mir, wer ich geworden war. „Siehst du?“, fragte Agelulf. Ich nickte und hob trotzig den Blick. „Ja, ich sehe, was du meinst. Aber ich sehe nichts, wovor du Angst haben musst.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Das sagst du nur, weil du immer noch nicht weißt, wer du bist.“ Ich seufzte, das Thema war ermüdend und ich wollte langsam aus diesem Mückenpfuhl raus. „Lass uns gehen“, schlug ich vor. „Am besten so unauffällig und schnell, wie wir können“, ergänzte Agelulf. „Niemand geht hier weg!“, knurrte Inanna jenseits des Schilfs. Dass sie nicht weit weg war, hatte ich bemerkt. Agelulf muss das genauso gewusst haben, trotzdem war er sichtlich angespannt. „Sie hat recht“, sagte ich. „Ich werde nicht gehen. Jedenfalls nicht ohne deinen Bruder.“ Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Du weißt nicht, worauf du dich einlässt.“ - „Mit Ibor? Ich denke schon.“ - „Mit seinem Pack!“, grummelte er. „Ich höre dich immer noch“, grollte Inanna verärgert. „Traue niemals Freiläufern!“, sagte er absichtlich laut. „Sie sind untreu und wurden zum Sterben aus ihren Rudeln verbannt.“ Niemand sagte mehr etwas. Dann unterschwelliges Grollen. „Egal, was du sagst, Agelulf, ich bleibe bei ihnen“, entschied ich. „Du meinst, du bleibst bei Ibor. Vielleicht um dich begatten zu lassen?“ Meine Hand schwang aus, ohne dass ich es bewusst dachte. Es war vielmehr der Impuls, ihn für die Unverschämtheit zu bestrafen. Sie traf sein geschwollenes Auge, er jaulte auf, Inanna lachte gellend jenseits des Schilfs. Danach verließ ich ihn, suchte mir den Weg aus dem Weiher und ging mit Inanna zu Rakkarkattan zurück. Auf halben Weg fasste sie mich an der Schulter, sagte kein Wort und drückte mir ihre Schnauze auf die Lippen. Sie erklärte sich nicht, sondern grinste nur breit.

Zurück bei Rakkarkattan war Ibor nicht wieder da. Agelulf war uns gefolgt, hielt gebührenden Abstand und behielt mich im Blickfeld, so als ob ich jeden Moment entführt wurde. Die Situation war absurd. Vor wenigen Stunden wäre es fast so gekommen, jetzt aber nahm ich so einen Verlauf nicht mehr ernst. Während ich darüber nachdachte, bemerkte ich, wie selbstverständlich ich mit Agelulf zum Weiher und wieder zurückgegangen war, obwohl die Nacht schon lange über den Wald herrschte. Ich fühlte mich, als könne mir nichts mehr etwas anhaben, wenn sogar meine Angst vor der Dunkelheit verblasst war.

„Was sind Freiläufer?“, fragte ich mit Blick auf Inanna, deren Augen am mir hafteten. Ihre Iris erweiterte sich. „Wer hat dir davon erzählt?“, fragte Rakkarkattan, der neben mir in der Hocke saß und in den Wald hineinlauschte. „Agelulf“, antwortete ich. „Er sagte, ich darf euch nicht trauen.“ Aus dem Hintergrund knurrte er zu uns herüber. „Was sagt dir dein Instinkt?“, fragte Rakkarkattan, ohne auf ihn einzugehen. Für mich war das unerheblich. Weder meine Gedanken noch mein Bauchgefühl warnten mich. Zwar war mir unwohl, weil ich sie kaum kannte, aber unnötiges Misstrauen spürte ich nicht. „Nichts“, antwortete ich ehrlich. Er taxierte mich. „Keine Vorurteile?“, fragte er. Ich schüttelte mit dem Kopf. Er nickte anerkennend. „Dann hast du trotz seiner Einflüsterungen deinen Verstand behalten“, meinte er, unzufriedenes Grummeln folgte sogleich. Rakkarkattan senkte den Blick. „Schau mir bitte nicht direkt in die Augen. Das macht mich nervös“, sagte er. Ich sah sofort weg. „Schisswolf“, kommentierte Inanna neben mir. „Sie ist eine stolze Manticora und erfahrene Frau, das ist alles.“ - „Danke“, sagte Rakkarkattan und beachtete Inanna nicht. „Wir Freiläufer sind Werwölfe ohne Rudel. Entweder haben wir uns gegen ein Leben in einem entschieden, so wie ich, oder sind aus einem rausgeschmissen worden, wie Inanna.“ - „Ja, binde es ihr noch auf die Nase, Trottel!“, meckerte diese. „Das tut doch ohnehin nichts zur Sache!“, fuhr er sie an. „Was hast du getan, dass du aus deinem Rudel verbannt wurdest?“, fragte ich. Ihre Ohren stellten sich auf. „Verbannt?“, wiederholte sie und sah zu Rakkarkattan, der ahnungslos mit den Schultern zuckte. „Was heißt das? Ich kenne das Wort nicht?“ Agelulf lachte gehässig, Inanna fletschte ihre Zähne, ohne zu knurren. Ich sah mit warnendem Blick hinter mich - Agelulf wurde sofort still. „Das heißt, dass ihr für immer weggeschickt wurdet und nie mehr zurück könnt“, erklärte ich. „Achso!“, sagte Inanna laut. Rakkarkattan hingegen meinte: „Das ist treffend, aber nicht ganz richtig. Wir wurden weggeschickt, aber können zurück, wenn wir uns als würdig erweisen. Viele von uns wollen irgendwann nicht mehr zurück. Freiheit schmeckt besser, als die meisten wissen.“ - „Die Freiheit der Verstoßenen und Versager? Ihr redet euch eure Schande schön“, kommentierte Agelulf. Ich stand auf, ging zu ihm und forderte ihn auf, mit mir zu den beiden zurückzukommen. Er sträubte sich. „Wenn du an unserem Gespräch teilnehmen willst, komm in unsere Mitte. Wenn du nicht, nimmst du nicht teil und behältst die Zähne zusammen“, sagte ich falsch freundlich lächelnd. Er lächelte genauso falsch höflich zurück, nur dass das bei ihm irrwitzig und grausig aussah. „Also gut“, presste er gereizt hervor. „Aber du weißt nicht, worauf du dich einlässt.“ - „Nichts davon wird mich davon abhalten, dich weiter zu begleiten“, murmelte ich. Seine unnatürlich gestellte Miene verschwand. „Habe ich dein Wort?“, fragte er ernst und erhielt einen missmutigen Blick von mir. „Das hattest du immer.“ Er sah kurz weg. „Da war ich mir nicht so sicher“, sagte er. „Aber jetzt bist du eine andere. So bist du richtig.“ - „Ja, ja. Können wir jetzt zu den beiden zurück?“, fragte ich. Er verzog die Schnauze. „Deine Ungeduld hast du nicht verloren.“ Inanna und Rakkarkattan blieben skeptisch, als ich Agelulf in unseren kleinen Kreis führte. Hier prallten Welten an Vorurteilen und Ablehnung aufeinander. Das wurde heiter, vor allem, wenn Ibor zurückkehrte. Rakkarkattan wandte sein Gesicht wieder ab und senkte die Ohren. Nicht wegen ihm, sondern immer noch wegen mir. Ich versuchte, ihn nicht unnötig in den Blick zu nehmen, und wandte mich Inanna zu. „Zurück zu meiner Frage: Warum bist du forgeschickt worden?“ Sie zögerte in Agelulfs Anwesenheit, der neben mir saß und sie genauso interessiert betrachtete, wie ich, wenn auch aus anderen Gründen. Sie sah zu Boden. „Weil ich ... meinem Rudelführer nicht mehr gehorchte.“ - „Ich wusste es“, sagte Agelulf. „Du gehörst zur schlimmsten Sorte.“ - „Das stimmt nicht!“, begehrte sie auf. „Ich habe alles für ihn getan. Jeden Befehl befolgt, aber geehrt hat er mich nie.“ Agelulf legte skeptisch die Augen schief, er glaubte ihr nicht, weshalb sie ihre Worte vor allem an mich richtete. „Es ist nicht leicht, jemandem zu folgen, der dich Tag für Tag -“ Sie stockte. „ – nicht wie eine Werwölfin behandelt.“ Ich nickte verständnisvoll und wusste genau, was sie meinte. Agelulf horchte das erste Mal, seit er ihnen zuhörte auf, blieb aber misstrauisch. „Wie dann?“, fragte er. Für einen kurzen Moment fochten sie einen Kampf mit ihren Augen aus, um den anderen einzuschätzen. Keiner gewann. Ich roch die Anspannung der beiden und sah durch meine neu ausgerichteten Sinne die Luft um sie herum vibrieren. Sie knurrten sich an! Aber der Ton war so tief, dass weder ich noch sie selbst ihn vermutlich wahrnahmen. „Darüber spreche ich nicht. Das ist Vergangenheit, mit der ich abgeschlossen habe.“ Ich erwartete von Agelulf irgendeine Gemeinheit, aber er schwieg. „Es muss schlimm gewesen sein, wenn er dir den Stolz und Mut genommen hat, darüber zu sprechen“, sagte er. Inanna nickte und erwiderte nichts. „Ein Rudelmitglied, das sich gegen den Anführer stellt und nicht mehr gehorcht, ist für das Rudel wertlos und hat dort keinen Platz mehr. Sie haben mich nicht mehr nach Hause kommen lassen. Das war’s. Mehr gibt’s nicht zu erzählen.“ Das war zwar kurz zusammengefasst, aber die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme und ihrem Blick unterstrich, wie hart die Gesetze der Werwölfe waren. Wer sich in der Hierarchie nicht fügte, war verloren. Querdenken wurde nicht geduldet. „Bei mir war es einfacher“, sagte Rakkarkattan, um das betretende Schweigen zu unterbrechen. „Ich war das niedrigste Mitglied in der Hierarchie und für die meisten ohnehin ein wertloses Anhängsel. Deshalb bin ich irgendwann gegangen, ohne dass mich mein Rudel aufgehalten hat.“ Agelulf schüttelte darüber den Kopf. „Das ist so würdelos“, sagte er. Rakkarkattan taxierte ihn, ohne etwas zu erwidern, sodass Agelulf fortfuhr: „Du warst egoistisch und bist gegangen, aber ein anderer hat dafür deinen Platz eingenommen. Gibt dir das nicht zu denken?“ - „Das sagt einer wie du? Du hast Ibor viele Jahre alleine gelassen“, gab Rakkarkattan zu bedenken. „Das ist nicht dasselbe“, entgegnete Agelulf.

„Stimmt, es ist schlimmer als das, was Rakkar gemacht hat“, behauptete eine Stimme hinter Agelulf und mir, sodass wir uns umsahen. Ich hatte ihn unbewusst bemerkt, weshalb ich nicht zusammenzuckte. Agelulf hingegen sprang auf und ihn an. Doch er war unterlegen, als Ibor ihn am Hals erwischte und zu Boden warf. Darüber erschrak ich. Das Gerangel endete abrupt und schnell, Ibor war aufgrund seiner Körpermasse und durch den Überraschungseffekt der Überlegenere. Agelulf grollte und knurrte zornig, wehrte sich und schlug nach allen Seiten aus. Es war Inannas Umsicht, die mich vor seinen Krallen rettete, indem sie mich am Arm packte und fortzog, kurz bevor er mir die Brust versehentlich aufgeschlitzt hätte. Wie konnte er? Ich dachte, er brauchte mein Herz, um endlich komplett zu werden, doch jetzt tötete er mich fast, weil er sich unüberlegt gegen seinen Bruder wehrte? Ibor hielt ihn unbarmherzig fest, näherte sich mit der Schnauze einem Ohr und murmelte: „Du hast mich verlassen, obwohl wir ein Rudel sind. Du bist der König der Freiläufer, der Herr der Streuner. Das Allerletzte unter uns Werwölfen. Du hast kein Recht, einen von uns würdelos zu nennen!“ Agelulf beruhigte sich, aber Ibor ließ ihn nicht gehen. „Bitte, Ibor“, sagte ich. Der sah kurz zu mir auf und schüttelte den Kopf. Er hatte nicht vor seinem Bruder etwas anzutun. Zumal er geschwächt war. „Wie lange?“, fragte Agelulf gepresst. „Sechs Sommer“, antwortete er. Agelulfs Miene veränderte sich. Von Ärger zu Betroffenheit. „Sechs Sommer?“, fragte ich. „Solange bin ich schon ein Freiläufer.“ Ich warf ihm skeptische Blicke zu. „Aber die letzten Monate? Was war das? Warum hast du dich so lange verstellt? Warum hast du uns begrüßt?“ Er zuckte mit den Achseln. Jetzt ließ er Agelulf los, der sich langsam erhob und seinen Hals rieb. „Weil ich trotz allem sein Bruder bin, den er vermisst hat“, antwortete der anstatt Ibor. „Er wollte sehen, zu wem ich geworden bin.“ Ibor sagte darauf nichts. „Bist du deswegen so oft verschwunden, seit wir da waren?“, fragte ich. Er beachtete Agelulf nicht mehr, näherte sich und hockte vor mir. Er nahm mich in dem Arm, was nicht so sentimental war, wie es sich anhört. Als er mich losließ, strahlten seine Augen. „Ich habe Rakkarkattan und Inanna gefunden. Sie zu verlassen wäre grausam gewesen. Daneben habe ich gejagt, aber das weißt du. Du warst dabei“, erklärte. Agelulf schüttelte betreten den Kopf. „Ich habe den Geruch bemerkt und mich gefragt, woher er kommt.“ Ibor beachtete ihn nicht, sondern nur mich. „Ich weiß, du wirst nicht bei mir bleiben“, sagte er und rieb dann seinen Kopf an mir. „Aber ich begleite dich, bis unser Kind geboren wird.“ Ich sah ihn traurig an. „Ist es das? Das Kind ist das einzige, was dich interessiert?“ Er fuhr betroffen zurück. „Nein!“, protestierte er scharf. „Lüg sie nicht an“, grummelte Agelulf hinter ihm. „Du wusstest, was sie war.“ - „Ich wusste gar nichts!“, bellte er. „Du hast behauptet, eine Mutter gefunden zu haben, warst dir aber selbst unsicher. Du bist schlauer als ich. Denkst du, ich schwängere sie einer Vermutung wegen?“ - „Aber eine Absicht stand trotzdem dahinter, oder?“, fragte ich und erwischte ihn kalt. Als er merkte, dass er mich nicht mehr hintergehen konnte - und ich dieselbe respektvolle Furcht vor mir in seinen Augen sah - antwortete er mit gesenktem Kopf: „Ich habe gehofft, dass du bei mir bleibst.“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf. „Leider hat mein Bruder in vielen Dingen recht. Eines davon ist, dass du zu ihm gehörst, nicht zu mir.“ - „Und das Kind? Glaubst du auch daran? An eine neue Rasse?“, fragte ich. Agelulf grunzte entsetzt, als er das hörte, schritt zu uns und strafte Ibor mit vorwurfsvollen Blicken. „Mich hältst du für wahnsinnig und egoistisch, aber selbst willst du den Garmr hervorbringen?“ Was war denn das schon wieder? Ibor fletschte die Zähne, so als hätte Agelulf etwas verraten, was er geheimhalten wollte. Der zeigte auf mich. „Sag ihr, was uns erwartet, wenn euer Kind wirklich der Pharygarmr ist.“ Ich sah verwirrt zwischen ihnen hin und her. Ibor sah weg. Ich wandte mich fragend an Rakkarkattan und Inanna, die meinen Blick mieden. Was war hier im Busch? Sie hatten mir etwas verschwiegen, was wichtig für die Entscheidung war, ob ich das Kind behielt oder nicht. Agelulf schlug zu, traf Ibor, der sich nicht wehrte, sondern dumpf stöhnte, aber selbst bei einem zweiten Schlag nicht reagierte. „Du willst nicht? Ich sage ihr, wofür ich sie brauche und bei mir haben will. Das nennt man Respekt vor dem Leben und der Ehre anderer. Sie hat mehr verdient als das!“, spuckte er und zeigte auf Inanna und Rakkarkattan. „Was ist der Pharygarmr?!“, rief ich dazwischen. Wie viele Lügen und verschwiegene Wahrheiten warteten denn noch auf mich? Hatte ich das verdient? Weil Ibor leise murmelte, ohrfeigte ich ihn. Heute war eine Nacht, in der ich austeilte. Ich hatte ihn in den letzten Monaten oft geohrfeigt. Entweder, weil er mich gereizt hatte oder während wir beischliefen. Das hier war anders. Er spürte die Schwere hinter meiner klatschenden Hand, zog den Schwanz ein und legte die Ohren an. „Wer bin ich überhaupt für euch?“, zischte ich. „Nur ein Mittel zu euren Zwecken?“ Ibor, Inanna und Rakkarkattan - die sich genauso beschämt zeigten - fuhr ich an: „Wenn ich genug Muralge-Wurz esse, treibe ich das Kind aus mir raus und es stirbt!“ An Agelulf - selbst sein Schwanz war eingeklemmt - gerichtet: „Danach bringe ich mich um! Steche mir mitten ins Herz! Dann sind all eure Pläne dahin!“ Er stierte mich an. Als niemand etwas sagte, drehte ich mich zum nächsten Baum und schlug zu. Er brach. So, als wäre er ein dünnes Ästchen. Von meiner Kraft verblüfft sah ich dem fallenden Baum - eine Fichte, wie sie hier hauptsächlich zu finden waren - dabei zu, wie er laut knackend umfiel, mit seiner Krone gegen andere Fichten schlug. Er verhedderte sich in der Krone einer Kiefer, sodass er schief hängen blieb. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, drehte ich mich um und stellte fest, vor welch erstaunten Publikum ich stand. „Was ist der Pharygarmr?“, fragte ich und forderte eine Antwort.

 

Ich erhielt die Antwort nicht sofort. Rakkarkattan schlug vor, dass wir etwas aßen. „Das beruhigt“, behauptete er, was ihm einen ungnädigen Blick von mir einhandelte, ich aber erkannte, dass er nicht ablenkte, sondern es gut meinte. Also aßen das Rotwild, das Ibor nicht weit von hier gerissen und in der Nähe abgelegt hatte. Dabei ergab sich eine denkwürdige Situation. Keiner von ihnen wagte, vom Fleisch der Hirschkuh zu fressen, stattdessen sahen sie mich an. Mit schiefgelegten Augenbrauen sah ich zwischen ihnen hin und her. „Du bist eine Mutter“, erklärte er. „Und eine Manticora. Du fängst an.“ Ich wusste darauf nichts zu sagen und betrachtete die Hirschkuh, die Ibor mit einem gezielten Biss in den Nacken getötet hatte. Daneben ein paar Wunden von seinen Klauen, aus denen Blut troff. Ich ekelte mich. Erwarteten sie etwa, dass ich das Fleisch abbiss und roh aß, so wie sie? Widerlich. Die Vorstellung, wie dieses arme Geschöpf mit Venen durchzogen war, die jeden Körperteil mit Blut versorgten wie kleine Flüsse und Ströme, angetrieben vom schlagenden Herzen. Fleisch und Organe und so viel mehr. Viel mehr. Je länger ich darüber nachdachte, desto anziehender gestaltete sich die Idee über die Festigkeit der Muskeln, die verzweifelt gekämpft hatten, bevor das Tier zur Strecke gebracht wurde. Sie waren durchdrungen mit der instinktiven Angst vor dem Tod in den letzten Momenten des Lebens, getränkt in verzweifelte Hoffnung zu entkommen, das Blut angereichert vom Willen zu überleben. Ich näherte mich dem Tier, dessen tote Augen mich betrachteten. Die Seele war nicht lange fort, sie waren klar und wirkten, als könnte der Lebensfunke jeden Augenblick wiederkehren. Ich legte meine Hand auf den Bauch der Hirschkuh. In den Muskeln und Sehnen war ein zuckender Rest des Lebens. Aber ihr Bauch war gewölbt. Sie war trächtig.

Ein Augenaufschlag, ein vergehender Augenblick, flüssig, ohne Übergang. Mein Herz änderte den Takt und hörte auf, menschlich zu sein. Drei anstatt zwei Takte. Das Rehkitz in ihr war am Leben. Warum? Seine Mutter war tot, es müsste längst in ihrem Leib verendet sein. Aber es lebte, obwohl es schwächer wurde. Hatte Ibor absichtlich eine trächtige Hirschkuh gewählt? War sie überhaupt eine? Die Jahreszeit zum Austragen war die falsche. Oder hielten sich die Tiere von Muralge nicht daran? Alles egal. Denn während ich darüber nachdachte, stieß ich eine Hand in ihren Bauch hinein, fletschte die gespitzten Zähne und vergrub sie im toten Fleisch, das paradiesisch schmeckte. Der rote Saft des Lebens benetzte meine Lippen und meine Zunge, ich verfiel in einen kurzen Rausch. War das die Blutlust wilder Tiere, die von ihren Opfern nicht mehr abließen, bis sie sie erlegt hatten? ... Ich musste das bekämpfen! So wollte ich nicht sein, ohne Sinn, ohne irgendeine Regung wie Reue. Instinkt und Verstand, Bauch und Kopf, Mythos und Logos. Sie rangen jeder um die Vorherrschaft in mir. Sie waren wirkmächtiger als vorher, als früher als ich reiner Mensch war. War ich jemals einer gewesen? Schritt für Schritt, Gedanke für Gedanke erlangte ich die Kontrolle zurück und hielt mich selbst davon ab, das lebendige und lebensfähige Kalb aus dem offenen Mutterbauch zu zerren, bis die Nabelschnur riss und Blut und andere Flüssigkeiten verteilte. Warum tat ich das? Es machte keinen Sinn. Die Hirschkuh war tot! Wie sollte das Kalb ohne Mutter überleben? Ohne Milch? Ohne - Liebe? Natürlich. Das, wovon Agelulf gesprochen hatte, die richtige Art der Liebe, die eine Naturgewalt war, manifestierte sich unter anderem in der Mutter-Kind-Beziehung stärker, als zwischen zwei Wesen, die glauben, zueinander zu gehören. Ich sammelte meine Gedanken und formte sie zu einer Speerspitze, mit der ich im richtigen Moment zustieß. Ich griff das Kalb, zog es aus dem Leib der toten Mutter und durchtrennte mit einem Biss die Nabelschnur. Agelulf und Ibor sahen befremdet zu, Inanna und Rakkarkattan waren ungeduldig. Sie hatten Hunger. Ohne Worte beugte ich mich über das kleine Wesen, nahm dessen Kopf und schlug dagegen, bis es aus seinem ohnmächtigen Dämmerschlaf erwachte und hell schrie und meckerte. Rakkarkattan interessierte sich nicht dafür und riss der Hirschkuh einem Hinterlauf aus, an dem er sich gütlich tat und knurrend fraß. Ibor und Inanna hingegen schluckten und schlichen um mich her, sobald das wehrlose Geschöpf laut wurde. Nur Agelulf tat nichts und war der heimliche Herr der Situation. Ich zischte Ibor und Inanna ab, machte nur mit Lauten deutlich, nicht näherzukommen. Als Inanna einen Schritt zu weit wagte, hetzte ich nach vorne, zückte meine Finger zu behelfsmäßigen Klauen und erwischte sie am Ohr. Sie zog sich winselnd zurück. Doch da war Ibor, der die Gelegenheit nutzte, und das Kalb anfiel. Ich war flinker, eilte in einer unmöglichen Schnelligkeit zurück und biss ihn in den Hals, lange bevor er mit den geifernden Schnauze das Kitz zerriss. Er war weniger überrascht als erschrocken. Ich bewegte mich temporeicher, als jeder von ihnen, was meinen neuen Instinkten geschuldet war - dachte ich. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde bis Ibor sich zurückzog und ich von ihm abließ. Das junge Rehkitz war geschwächt und schaffte nicht, sich aufzuraffen und stehenbleiben. Es kämpfte um das Gleichgewicht, fiel aber wieder um. Dann noch einmal, es fiel um. Dann noch einmal um noch einmal. Plumps. Mir war bewusst, dass das ein Todesurteil war. Doch die Urteile der Natur waren mir egal. Ich setzte sie außer Kraft. Anstatt das wehrlose und kaum überlebensfähige Wesen seinem Schicksal zu überlassen, was eine Gnade gewesen wäre, hob ich es auf meine Arme. Zuerst wehrte es sich, bis es merkte, dass das nichts bewirkte. Es war nicht so, dass es sich seinem Schicksal ergab, eher fühlte es sich bei mir sicher. So trug ich es fort, Agelulf folgte mir. Kaum ein dutzend Meter entfernt, machten sich Ibor und Inanna über den Kadaver der Hirschkuh her. Ich blieb mehrmals stehen und zischte oder fauchte Agelulf an. Dabei spürte ich, wie das kleine Ding schneller atmete und dessen Herz mehrere Takte höher schlug. Warum verfolgte er mich? Er bekam es nicht! Niemand bekam es zum Fressen. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass das sein Ziel war.

„Kennst du den Angeshraël?“, fragte er, während wir durch die Dunkelheit des Unterholzes schritten. In den letzten Minuten hatte ich auf meine neuen Instinkte gehört. Keines von ihnen warnte mich vor Agelulf, er hatte kein Interesse an dem kleinen Kalb. Ich blieb stehen und legte es ab. Es sah zutraulich zu mir auf und hechelte. Hunger, es hatte Hunger nach Milch. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, zog mein eng sitzendes Oberkleid aus, bis ich halb nackt war, nahm es wieder auf und hielt es an meine Brust. Zuerst war es unzufrieden, wandte den Kopf ab und suchte umher. Vorsichtig nahm ich den Kopf und zwang es, mich anzusehen. Keine Spur von Sünde, Angst, Reue oder Hass. Nur Unschuld, Zutrauen, Naivität. Augen, die tief und flach in einem waren. In ihnen sah ich für einen kurzen Moment den gesamten Sternenhimmel, obwohl der von den Baumwipfeln über uns verdeckt wurde. Ich war eine Mutter. Mütter sorgten für ihre Kinder, selbst wenn diese sich wehrten. Ich hätte keine Milch geben dürfen, dazu war es zu früh. Aber ich befahl es meinem Körper, damit das Kitz überlebte und zu Kräften kam. Es schnupperte, näherte sich mit der kleinen Nase meiner linken Brustwarze - und sog mit einer Kraft daran, dass ich zischend einatmete und leise grollte, weil ich nicht erwartet hatte, dass es schon Zähne besaß. Das niedliche Wesen trank alles, was ich anzubieten hatte. Solange, bis die Brüste leer und es satt war. Danach legte es den Kopf nieder und schlief in meinem Schoß ein. Mist. Jetzt konnte ich nicht aufstehen, ohne es zu wecken. Agelulf hatte all das ohne Kommentar oder Veränderung in seiner Miene beobachtet. Ich gelangte zu dem Schluss, dass ihm das Kleine egal war. Es interessierte ihn weder als Mahlzeit noch, dass ich es gefüttert hatte. Stattdessen erwartete er meine Antwort. „Angeshraël, der Aschengeborene“, sagte ich leise. „Und seine Bedeutung?“, hakte er nach. Was sollte die Frage? Er kannte die Antwort und wusste, dass ich sie auch kannte. „Er bedeutet mir nichts mehr. Aber für die Menschen, den echten Menschen, ist er ...“ - „Ein Messias?“, ergänzte Agelulf. Ich schüttelte entsetzt den Kopf. „Niemals! Er ist ein Vollender, aber nicht unbedingt ein guter.“ Agelulf meinte: „Es kommt darauf an, wer er ist, oder vorher war. Habe ich recht?“ Ich nickte. „Der Angeshraël und der Pharygarmr sind Brüder - gewisserweise. Auch der Pharygarmr ist ein Vollender. Und zwar auch kein guter. Viele Werwölfe glauben, dass er sich die Welt untertan machen wird, wenn er kommt. Dann werden wir Werwölfe sie beherrschen. Dafür wird er alle anderen verschlingen, die sich uns in den Weg stellen.“ – „Das klingt genauso nach Endzeit wie der Angeshraël“, meinte ich, worauf Agelulf vorsichtig den Kopf schüttelte. Die Beulen im Gesicht und das geschwollene Auge ließen nicht zu, dass er sich zu schnell bewegte. Andererseits waren sie zurückgegangen, was zeigte, dass seine enorme Heilungskraft aus Ânsgars Geschichte nicht gelogen war. Ânsgar, den er erst treffen sollte. Es war komisch, von ihm zu denken, als sei er am Leben, obwohl ich sein Schicksal in endgültiger Form schon kannte. „Der Pharygarmr bringt nicht die Endzeit. Nur eine andere. Eine, in der es keine Menschen, Leoniden, Frok, Valken, Alligatone und so weiter mehr gibt. Auch keine Manticora. Alles, was uns Konkurrenz macht, wird verschwinden, sobald er kommt.“ - „Das ist euer Ziel? Was für eine bescheuerte Vorstellung“, urteilte ich hart. „Es ist nicht mein Ziel“, widersprach Agelulf. „Daneben ist es arrogant von dir, unsere Vorstellungen und unseren Glauben geringzuschätzen. Dass er machtvoll ist, siehst du ja an den anderen.“ Ich lachte auf, wodurch sich das Rehkitz bewegte. „Das ändert nichts an meiner Entscheidung, das Kind auszutragen.“ Er wehrte ab. „Das will ich gar nicht. Du hast dich dazu entschlossen, was ich respektiere. Aber du solltest überdenken, was passiert, sollte es wirklich der Pharygarmr sein.“ Ich verdrehte die Augen und bereute die Frage jetzt schon. „Und was?“ - „Ein Konkurrent“, antwortete er knapp. „Ein Konkurrent? Für wen?“ Stopp! Hatte Agelulf nicht davon gesprochen, dass er einen Gott konstruieren wollte? Sich selbst erhöhen, um ihn zu erhöhen. War es nicht so? „Du sprichst von Erlik? Willst du ihn zum Angeshraël machen?“ Er nickte schweigend, ich war entsetzt. „Das ist der Grund, weshalb du den Pharygarmr fürchtest? Weil er für Erlik gefährlich werden könnte?“ - „Sie können nicht beide gleichzeitig in unserer Welt sein. Nur einer. Dazu sind sie sich zu ähnlich. Beide bringen Dinge zu ihrem Ende. Beide erschaffen neu, aber unterschiedlich. Ich bin nicht für den Weg meiner Leute. Ich brauche den Pharygarmr nicht. Im Gegenteil, ich will ihn verhindern“, erklärte er sich. Ich betrachtete ihn, dann das Kleine. Langsam hob ich meine linke Hand, die ich eingehend untersuchte. Einen brauchte ich nicht. Ich steckte den kleinen Finger in meinem Mund und - biss zu! Erstaunlich, aber ich spürte es kaum. Er war abgetrennt und ich spuckte ihn aus. Vorsichtig hob ich den Kopf des Kalbs an, um es nicht sofort zu wecken, öffnete leicht dessen Kiefer und schob meinen abgebissenen Finger hinein. „Oh?“, machte Agelulf überrascht. In dem Moment wachte es auf. Bevor es ihn ausspuckte, drückte ich den Unterkiefer zu und hinderte das Kleine daran, ihn wieder zu öffnen. Es war zu kraftlos, um sich zu wehren, und schluckte ihn angestrengt herunter. „Es wird eine Weile dauern, bis die Veränderung eintritt“, sagte ich. „Aber wenn ich den Pharygarmr zu Welt bringe, wird die Kleine hier ihn säugen, begleiten und beschützen.“ Mit einem Seitenblick zu Agelulf nahm ich von seiner Anspannung und Verärgerung Notiz, die er nicht nach außen hin zeigte. Doch seine Augen verrieten ihn. Gelb und stechend hafteten sie an mir. „Du bist verrückt“, sagte er. „Vielleicht. Aber wenn das bedeutet, klar zu sehen, was vor mir ist, dann sollten alle verrückt werden, oder?“, entgegnete ich, worüber er nur den Kopf schüttelte. „Ich gehe zurück.“ Er wandte sich ab, aber einen Moment zu zögerlich, was mir zeigte, wie er mit sich rang, das kleine Wesen meinen Armen zu entreißen und zu zerfleischen. Aber er wusste, dass ich jetzt die Macht dazu hatte, das zu verhindern. Aus der Ferne hörte ich Ibor, Inanna und Rakkarkattan Fleisch reißen, Knochen knacken, rülpsen und Schmatzen. Agelulf blieb in angemessener Entfernung zu ihnen und beobachtete ihr Gelage. Nicht zu vergessen, sie waren einen halben Kilometer weit weg. Meine Sinne waren innerhalb kürzester Zeit nochmal schärfer geworden. Andererseits mahnte ich mich selbst zur Vorsicht, nicht übermütig zu werden. Bessere Sinne und größere Körperkraft waren kein Garant dafür, Fehler und Ärger zu vermeiden. Selbstbewusst sein war eine Sache, aber ich entschloss mich, mein Temperament zu zügeln, wenn ich nicht wollte, das Agelulf unüberlegt handelte. Ich streichelte das kleine Rehkitz, das mich kritisch ansah, nachdem ich es zu einem ekelhaften Nachtmahl gezwungen hatte. Dabei hatten sich seine Augen verändert. Sie wurden blutrot, die Pupille mit jedem kurzen Augenaufschlag waagerechter. Das Manticora-Blut arbeitete. Sie würde ein Ersatz werden, wenn ich für das Kind nicht mehr da war. Besser als ein Wachhund - ach, was! - jeder Wachwolf! Kein Werwolf würde ihr so leicht etwas anhaben. „Du bist Odarik“, sagte ich und streichelte sie, bis sie die Augen wieder verschloss und die Berührung genoss. „Meine Stieftochter.“

 

Am nächsten Morgen schnupperte eine kalte Nase an meiner Wange und weckte mich. Odarik. Schwerfällig aber ohne Schmerzen in den Gliedern kletterten meine Augenlider verschlafen in Richtung Stirn und zeigten mir das neue Wesen, das ich geschaffen - oder eher erlaubt hatte. Zutraulich sahen mich die düster-ursprünglichen Augen an. Bei Lux und Nox, was hatte ich getan? Sie war gewachsen. Groß gewachsen. Zwar trotzdem klein, aber doppelt so groß wie letzte Nacht. Ihr Fell war nicht rotbraun, sondern grau-blau, in ihrem Gesicht und an den Beinen beige-weiß. Ihr war ein Geweih gewachsen, sodass ich erst wunderlich starrte, ob ich mich vertan hatte. Nein, hatte ich nicht, sie war ein Weibchen. Das Geweih sah anders aus, als das eines ausgewachsenen, männlichen Hirsches. Es war filigraner und floh nach hinten, wo es sich erst verzweigte und ein halbes Dutzend Spitzen bildete. Es war elfenbeinweiß. Odarik sah aus wie ein Naturgeist, der mich aufsuchte. Ich war fasziniert von ihrem Aussehen. Sie stupste mich an, dann an meine Brust. Sie hatte Hunger, deshalb hatte sie mich geweckt. Ich fütterte sie. Diesmal war sie vorsichtiger und sanfter, ich fühlte mich danach nicht mehr leergesogent, dennoch war es anstrengend. Das Morgenlicht der Sonne, das durch die Bäume den Waldboden erreichte, war sanft schimmernd und duftete nach Erwachen. Dem der Natur des Waldes, Odariks Erwachen als eine Kreatur, die sie nicht war. Mein Erwachen als etwas, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich davon abstammte. Ich, eine Manticora? Ich hatte keine Ahnung von der Bedeutung dieser Entwicklung. Ich kannte nur die Richtung. Das Herz des Waldes. Dort fand ich Antworten, dort waren die anderen, hoffte ich. Meine Schwestern. Ich lauschte nach Wasser und fand es überall. Nicht nur in dem nahegelegenen Weiher von letzter Nacht, sondern - überall. Ich raffte mich verschlafen auf, schmeckte die Luft und wandte mich einer Lärche zu. Mit einem Finger ritzte ich an dessen Rinde, die splitterte und gleich darauf das Harz austrat. Ich nahm eine Fingerspitze auf und führte sie mir zu. Süß! Wie süß! Nahrhaft lecker! Ich kratzte die Rinde ein bisschen weiter ab, damit mehr des Baumblutes hervorkam. Goldgelb und klebrig. Mehrere Insekten sammelten sich und kosteten ebenfalls von der seltenen Süßigkeit. Odarik kam hinzu und schnupperte, hatte aber kein Interesse mehr, nachdem ich sie anzischte. Die Insekten ließ ich in Ruhe, zumal die meisten kleben blieben und vom Harz eingeschlossen wurden, sodass sie nicht weiter störten. Ich nahm mich in Acht. Trank ich zu viel, tötete ich den Baum, der seinem Lebenssaft mit mir teilte. Als ich mich gesättigt genug fühlte, ließ ich ab. Um mehr brauchte ich mich nicht kümmern. Bald würde das Harz fest und verschloss die Wunde, die ich der Lärche zugefügt hatte. Den Durst gelöscht, den Hunger beseitigt, schlenderte ich zusammen mit Odarik zurück zu Ibor. Agelulf war unterwegs, um sich Beute zu jagen, Inanna und Rakkarkattan waren nicht weit weg und schliefen. Sie hatten nach dem Mahl eine intime Nacht miteinander verbracht, was mich überraschte, da ich nicht den Eindruck gehabt hatte, dass sie Interesse aneinander hatten. Sobald wir in Sichtweite kamen, stockte Ibors Atem, als er Odarik sah. Seine Augen glänzten, er stürzte zu uns her vor Aufregung. Odarik zischte ihn an, sodass er stehenblieb. Genau so, wie ich es beabsichtigt hatte. Sie war nicht nur meine Stieftochter, sondern auch Beschützerin. Zwar hatte ich keine Ahnung, woher, aber ich wusste, dass sie es mit Ibor, Inanna und Rakkarkattan hätte aufnehmen können. Sogar mit Agelulf. Ibor zeigte Respekt und senkte den Kopf ehrerbietig, ohne den Blick abzuwenden. Er betrachtete Odarik, die in weitem Kreis um herum stolzierte, um ihn einzuschätzen, dann mich. Sein Blick blieb an meiner linken Hand mit dem fehlenden kleinen Finger haften. Er war angespannt. Zurecht. Odariks Instinkte waren ausgeprägter als meine. Wenn sie ihn als Bedrohung einstufte, war es um ihn geschehen. Er hatte Glück, der Kindsvater zu sein. Es lag ihm fern, mir etwas anzutun, weshalb sie schnell das Interesse an ihm verlor, ihren Kopf entspannt zu Boden streckte und die unendlich vielen neuen Gerüche und Düfte aufnahm, die sie nicht kannte. „Ist das -“ - „Ja“, antwortete ich, ohne ihn die Frage zu Ende stellen zu lassen. Er starrte mich an. „Ist sie -“ - „Nein“, sagte ich sofort. „Sie heißt Odarik, meine Stieftochter.“ Sein Blick wanderte erneut zu dem Wesen, das er noch nie gesehen hatte. „Du hast ein Waldtier erhöht, indem du ihr dein Fleisch geschenkt hast. Ich frage mich...“ - „Denk nicht mal dran!“, warnte ich und knurrte hell aus tiefer Kehle. Er schüttelte den Kopf. „Nein, es war nur ein dummer Gedanke“, stimmte er zu und sah mich dann mitleiderregend an. „Kalanthe, ich bin nicht gut darin: Bitte verzeih mir. Ich kann den Lauf der Dinge nicht ändern, wenn mein Bruder und du an ihm festhalten, aber ich will solange bei dir bleiben, wie ich kann.“ Ich hatte gehofft, er ließe es sein. „Ist schon gut“, sagte ich kurz. „Also, eigentlich ist überhaupt nichts gut. Ihr habt mich benutzt. Alle. Aber ich habe mich gefunden. Ohne euch und eure Pläne für mich, wäre das nicht passiert.“ Es fiel mir schwer, das zuzugeben, aber das war die Wahrheit. Außerdem wollte ich das Thema wechseln, weshalb ich sagte: „Lass uns verdrängen, was gestern gewesen ist, ja?“ Er sah mich nachdenklich an. „Hm. Willst du es dir so einfach machen?“, fragte er, was mich gleich wieder reizte. „Nein, ich will es dir einfach machen, Ibor. Ich habe allen Grund, dir zu misstrauen und dich zu hassen. Aber ich will das nicht. Willst du das?“ Er sah betreten weg. Was sollte das? War er der Ansicht, wir sollten streiten und ich ihn verachten? Aber dann erlangte ich eine Erkenntnis, die sein Verhalten erklärte. Eine Draufsicht von oben. Er war ein Werwolf und viele Verhaltensweisen waren denen der Menschen unterschiedlich. Für ihn war eine direkte Konfrontation mit etwas - in unserem Fall ein Streit und die Frage nach Vertrauen und Vergebung - die bessere Lösung. Menschen waren in der Lage, solche Dinge zu verdrängen, wenn sie mental skrupellos genug vorgingen. Werwölfe nicht. Sie fraßen Unausgesprochenes nicht in sich hinein, sondern veräußerten ihre Gefühle, um für klare Verhältnisse und eine stabile Hierarchie zu sorgen. Freilich nützte es Ibor damit wenig, dass ich über alles hinwegsah, was geschehen war. „Du willst den harten Weg? Na gut!“, sagte ich energisch. „Es stimmt, ich vertraue dir nicht mehr. Wenn du willst, dass sich das wieder ändert, zeige es mir, indem du bei mir bleibst, bis wir das Herz erreicht haben.“

Schluck. Er erstarrte, sein Fell sträubte sich auf. „Das Herz? Du meinst das Herz des Waldes?“, fragte er kleinlaut. Ich nickte. „Das ist mein Ziel, ja.“ Ich glaube, ich überforderte ihn, oder konfrontierte ihn mit einer Entscheidung, die er nicht treffen wollte. „Lass dir Zeit zum Nachdenken.“ Nach dem, was sie mir erzählt hatten, waren es ein paar Tage, bis wir die Grenze ins Waldinnere erreichten. „Ich habe eine Bitte“, sagte ich und näherte mich ihm. Er horchte auf. „Nimm mich in den Arm, so wie in den letzten Monaten. Ohne Angst vor mir. Ich fange gerade erst an, zu verstehen, wer ich bin und warum.“ Er zögerte, taxierte mich, als ich vor ihm stand. Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen waren so eindringlich wie jedes Mal, wenn ich sie sah. Voller Lebensfreude, wenn auch gerade etwas verschüchtert. Er griff nach meiner Hand und zog mich abrupt, ja, ruppig an sich heran. Er schnüffelte ausgiebig an mir, bevor er über meine linke Gesichtshälfte leckte. Eigentlich war nur die Wange das Ziel gewesen. Aber weil seine Zunge so groß war, wusch er den Rest gleich mit. Das machte er zwei, drei Mal. Danach troff ich vor Speichel. Damit hörte es nicht auf, er rieb den Kopf untypisch an mir, um wieder eine vertraute Intimität zwischen uns herzustellen. Ich erwiderte die Geste und vergrub mein Gesicht in seinem Nackenfell, das so nach Zimt duftete. Gestern war ich mit der Realität konfrontiert worden, ihn nie mehr wiederzusehen. Jetzt buddelte ich mit der Nase in seinem dichten Fell. Ich fühlte mich ein wenig wie Drimba mit Moor. Warum hatten wir uns nicht schon früher kennengelernt? Wieso war das Schicksal unbarmherzig und riss uns über kurz oder lang wieder auseinander? Ich wusste, dass ich ihm als Teil seines Bruders wiederbegegnete, aber ob er das begriffen hatte? Ich verdrängte die unangenehmen Gedankenspiralen und konzentrierte mich auf den Moment. Seltsam war, dass ich ihn mit dem Augenblick verglich, in dem ich meinen Mann kennengelernt hatte. Damals hatte ich das höchste Glück verspürt, als uns gesagt wurde, dass wir einander versprochen waren. Ich hatte so viele falsche Vorstellungen in ihm gesehen, die sich am Ende alle als Trugschlüsse herausstellten, dass es schon erbärmlich war, wie weltfremd ich gedacht hatte. Jetzt verspürte ich auch eine Art Glück. Ich war umgeben von Wahrheiten, so hart sie waren, und hatte einen mich aufrichtig liebenden Werwolf bei mir, der mich um meiner selbst willen begehrte, und sogar belog und benutzte, damit ich um jeden Preis bei ihm blieb. Dann waren da Agelulf, mit dem ich eine Zukunft teilte, oder Inanna, die mich - ich kam nicht dahinter, warum - aus irgendeinem Grund verehrte. Nicht als Manticora, sondern als Frau. „Oh-h-h-h!“, hallte es hinter mir, sodass Ibor und ich unsere Umarmung lösten. Inanna und Rakkarkattan waren zurück. Sie bewunderten Odarik. Inanna mit offener Bewunderung, Rakkarkattan mit kaum verhohlener Ablehnung. Da wurde mir klar, dass er mehr wusste, als er bisher durchscheinen ließ. Er wirkte, als habe er ein Wesen wie Odarik schon einmal gesehen. „Was ist das?“, fragte Inanna und näherte sich vorsichtig, aber dennoch zu schnell. Odarik sah abrupt auf, fauchte zuerst, zischte dann und trabte auf sie zu. Zwar war sie etwas wackelig auf den Beinen, aber das tat ihrer durchschlagenden Kraft keinen Abbruch, als sie sich kurz vor Inanna im Sprung drehte und sie mit ihren austretenden Hufen an der linken Schulter erwischte. Es tat ihr nicht weh, aber sie fiel nach hinten um. Sofort war Odarik wieder zur Stelle und und stellte sich auf Inannas Brust, die sich aufrappeln wollte. Sie murrte unnatürlich und starrte sie nieder. Inanna klemmte, wie Ibor zuvor, den Schwanz ein und vermied jeden direkten Blickkontakt. Sie blieb liegen und ihr stockte der Atem, solange Odarik sie untersuchte. Zum Schluss blökte die hell wie ein Rehkitz an und stieg von ihr hinab. Rakkarkattan betrachtete sie einmal kurz und ignorierte ihn dann interessanterweise völlig.

 

„Was ist mit Agelulf?“, fragte Inanna, nachdem wir aufbrachen. Odarik führte uns. Zwar hatte ich ein Gefühl, welche Richtung wir einschlagen mussten, sicher war ich mir nicht. Odarik hingegen war durch ihre doppelte Natur ungetrübt und besaß einen klaren Blick und das Gespür für das Ziel. Ich warf Inanna einen fragenden Seitenblick zu, sie wehrte sofort ab: „Ist mir egal, ob er bei uns ist, oder nicht. Mich wundert es nur, dass du ihn zurücklässt.“ - „Ich verlasse ihn nicht. Das müsstest gerade du als Werwölfin besser wissen“, gab ich zu bedenken. Sie nickte. „Ja, stimmt. Trotzdem lassen wir niemanden unnötig zurück, wenn keine Gefahr droht.“ - „Agelulf ist das egal“, mischte sich Ibor ein, der schräg hinter uns langsam Fortschritt. Für ihn, Inanna und Rakkarkattan war unsere Geschwindigkeit quälend langsam. „Sowas hat ihn nie interessiert.“ Das hatte er recht. Auf solche Feinheiten achtete er nicht. „Er wird uns folgen“, stellte ich nochmal fest und konzentrierte mich auf meine Instinkte, um herauszufinden, wo er sich derzeit aufhielt, was eine gute Übung war, die neuen Sinne zu schärfen. Zuerst konzentrierte ich mich auf seinen Duft, der präsent war, weil er an mir selbst haftete. Folgte ich ihm in die Entfernung, führte er mich an unserem Rastplatz von letzter Nacht zurück und verlor sich dann in westliche Richtung. Dann die Geräusche, die mir nicht halfen, weil ich von drei lauten Trampeltieren umgeben war, von meinem eigenen Schritten gar nicht zu reden. Doch selbst als ich es schaffe, die störenden Lärmquellen auszublenden, waren da unzählige andere. Knarzendes Geäst, arbeitende Insekten, größere Tiere, die über den Boden schritten, Vögel, die in allerlei Tonhöhen und -tiefen sangen oder miteinander sprachen. Wenn Agelulf nicht gerade heulte, war es unmöglich, ihn auszumachen. Die Augen zu benutzen war sinnlos. Meine Sicht war besser, ich sah im Dunkeln, aber durch Bäume hindurchsehen, war mir dennoch nicht vergönnt. Das Gefühl der Schwingungen auf meiner Haut half mir ebenso wenig, da ich nicht gelernt hatte, Pflanzen und sich bewegende Lebewesen zu unterscheiden. Blieb der Geschmack. Ich atmete durch meinen Mund die vom Morgentau feuchte Waldluft ein und wurde überwältigt, als die Knospen meiner Zunge die Geschmäcker aufnahmen. Die Präsenz des Waldes in der Nacht war einschüchternd gewesen. Vom Licht der Sonne belebt war sie hingegen übermächtig und von so großer Gewalt, dass ich einen Moment stockte, schnappend atmete und stehenblieb, was nur von Ibor bemerkt wurde, der mich im Rücken stützte, als ich strauchelte. War es nicht seltsam, dass ich ausgerechnet über den Mund am meisten mit der verborgenen Weisheit meiner Umwelt Kontakt aufnahm, ohne zu sprechen? Ich fand Agelulf, denn sein Geschmack war unverkennbar und mit nichts zu vergleichen. Er war weiter weg, als ich erwartete. Fast drei Wegstunden in einer uns entgegengesetzten Richtung. Was machte er dort? Jagen? Da war ein anderer bei ihm, den ich nicht kannte und nie kennengelernt hatte. Oder war es nur ein Tier, das er jagte? „Was ist mit dir?“, fragte Ibor leise murmelnd, um die anderen, vor allem aber Odarik, nicht unnötig auf mich aufmerksam zu machen. Leider zogen mich seine Worte aus der Konzentration fort. Ein wenig mehr Zeit und ich hätte herausgefunden, wer oder was bei Agelulf war. Andererseits sollte ich nicht unnötig spionieren. Nichts, was er in seiner Abwesenheit tat, hatte Einfluss darauf, wohin wir gingen oder was in Zukunft passierte. Ich atmete leise durch, sah zu ihm empor und antwortete: „Es geht mir gut. Ich habe nur versucht, deinen Bruder zu finden.“ - „Ach, ja?“, fragte Rakkarkattan und blieb stehen. Inanna schritt ein paar Meter, bevor sie Notiz nahm, dass es nicht mehr voranging. Sie sah zurück. Nur Odarik störte sich nicht an uns und verschwand bald zwischen den Bäumen, von denen sie jeden beschnupperte. Ich fühlte mich unwohl unter ihren Blicken. „Wo ist er denn?“, fragte er. Ibor und Inanna taxierten mich ebenso verwundert. „Ein paar Wegstunden entfernt“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Was darüber hinaus war, verschwieg ich. Ich zeigte ihm die Richtung, die schräg hinter uns lag. „Dort.“ - „Wie hast du-“, setzte Rakkarkattan an. „Lass sie in Ruhe“, unterbrach Ibor unterschwellig knurrend. „Warum? Findest du es nicht wichtig, was sie weiß?“, gab Rakkarkattan zu bedenken. Ibor nickte. „Doch. Aber sie will nicht antworten. Also lass sie. Was sonst passieren kann, hast du bei Odarik gesehen, oder als sie den Baum zertrümmerte.“ Es war zwar rührend, dass er sich für mich einsetzte, aber Rakkarkattans Skepsis mir gegenüber wollte ich geklärt wissen, denn sie störte mich. „Warum misstraust du mir?“, fragte ich ihn. Er zuckte kaum merklich zusammen und fühlte sich ertappt. Da war etwas, das ihn störte. Er war keiner, der gerne oder viel redete. So wie Agelulf. Ich lächelte Inanna und Ibor lieblich an und sagte: „Geht ihr bitte ein wenig vor? Ich möchte mich unter vier Augen unterhalten.“

Sobald Rakkarkattan und ich alleine waren - freilich nicht wirklich, Ibor und Inanna waren in Hörreichweite und ich war mir sicher, dass sie ihre Ohren spitzten - redete ich klar: „Sag die Wahrheit. Was hast du für ein Problem mit mir?“ Er schaute weg. „Sieh mich an!“, forderte ich. „Es ist respektlos, im Gespräch anderen nicht in die Augen zu schauen.“ Jetzt sah er mich doch an und lachte wenig belustigt auf. „Wenn du das sagst, hast du nichts verstanden, was uns ausmacht.“ - „Ich habe genug verstanden, um mit einigem davon zu brechen“, erwiderte ich. „Typisch Mensch. Kein Wunder, dass ihr euch alles unter die Klauen reißt. Solange es euch nützt, haltet ihr euch an andere. Aber wenn es lästig wird, stoßt ihr sie ab und nehmt euch alles.“ - „Ich bin kein Mensch.“ - „Ich weiß! Aber du bist unter ihnen aufgewachsen und hast geglaubt, einer zu sein. Jedes Wort von dir trieft widerlich. So haben sie gesprochen, bevor sie mein Rudel -“ er unterbrach sich selbst. „Dein Rudel? Was ist damit? Ich dachte, du hast sie verlassen?“, wunderte ich mich, während sich ein flaues Gefühl in meinem Bauch ausbreitete. Rakkarkattan hatte ein schlimmeres Schicksal ereilt, als er bisher zugab. Er schüttelte den Kopf. „Egal. Ihr Menschen seid eine Pest. Wie sehr du dich veränderst, du bleibst ein Mensch.“ - „Das ist also dein Problem mit mir? Weil ich ein Mensch bin, vertraust Du mir nicht?“ Er nickte, seine Augen sprühten vor Verachtung. „Wäre es dir lieber, wenn du mich nicht begleitest?“, fragte ich. „Es wäre mir lieber, dich zu zerfetzen ...“, antwortete er offen. „Aber du bist eine Mutter. Nicht nur eine Manticora. Ich lade keine Schuld auf mich, indem ich eine zur Strecke bringe.“ Ich schwieg, war weder beleidigt, zornig oder vergrätzt. Wenn das die Wahrheit war, warum er mich so behandelte, war es in Ordnung, wenn da nicht eine dringende Frage in mir brannte: „Was ist, wenn ich mein Kind geboren habe?“ Er spitzte die Ohren. „Hast du Schiss, dass ich dich umbringe?“ Ich schüttelte den Kopf. „Solltest du aber. Nachdem du den Pharygarmr geworfen hast, werden Inanna, ich und wahrscheinlich auch Ibor dich auseinandernehmen.“ - „Warum?“ Was hatte es für sie einen Sinn, mich zu beseitigen, wenn sie hatten, was sie wollten? „Hältst du uns für blöd?“, grollte er leise und verwirrte mich. „Agelulf will euren Angeshraël erschaffen, wir wollen den Pharygarmr. Der eine wird den anderen töten, wenn es sie beide gibt. Uns ist das genauso bewusst, wie ihm. Damit es gar nicht erst dazu kommt, töten wir dich und Agelulfs durchgeknallte Pläne sind dahin.“ Ich verschränkte die Arme. War das eine echte Drohung oder eine Täuschung? „Ist es klug, mir zu verraten, was du vorhast? Als Mutter wirst du mich nicht anrühren. Aber ich kann euch zuvorkommen und euch aufhalten, lange bevor mein Kind zur Welt kommt.“ Rakkarkattan nickte. „Ja, das könntest du. Aber dazu hast du nicht den Schneid. Du hast nie getötet und es nicht vor. Das ist das einzig ehrliche an dir. Durch deine manticorische Abstammung bist du aufrichtig und erhältst das Leben, anstatt es zu vernichten. Manticora sind machtvoll, aber es gibt keine Geschichten über sie, in denen sie etwas anderes als Menschen töten und auffressen.“ Die Situation war verfahren, wir hatten eine Pattsituation. „Nichts von dem, was du sagst, wird geschehen“, behauptete ich. Dass ich so überzeugt war, verunsicherte ihn, denn er legte erneut die Ohren an und neigte den Kopf zur Seite, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Warum glaubst du daran?“ - „Weil das kommt, was unausweichlich ist“, antwortete ich. „Ich werde sterben. Aber nicht durch einen von euch.“ Rakkarkattan überlegte angestrengt und grinste mich dann breit an. „Dann reiße ich dir jetzt dein Herz raus. Denn ehrlich gesagt, finde ich den Pharygarmr genauso beschissen.“ - „Nein, wirst du nicht“, entschied ich. „Aber du erhältst von mir etwas anderes.“ Er horchte auf und betrachtete mich abgeklärt, während ich mir die linke Hand an meinem Mund führte und die Kruste vom Fingerstumpf abbiss. Rakkarkattan schluckte und fuhr unbewusst mit der Zunge über seine Zähne und Lefzen. Wusste ich es doch! Ich streckte den Arm aus und hielt ihm die Hand mit dem Blut tropfenden Stumpf hin. „Du gibst mir etwas von dir? Freiwillig?“ Ich legte meine Augenbrauen schief. „Du willst etwas sein, was du nicht bist. Ich bin etwas, wovon ich keine Ahnung hatte. Du hast es selbst gesagt: Manticora töten nichts anderes als Menschen. Sie sind Schöpferinnen. Ich bin eine. Das ist alles, was ich dir geben kann.“ Und um ihn zu binden, aber das sagte ich nicht, als er sich näherte, trotz Verachtung voller Ehrerbietung seinen Kopf neigte und meine Hand gleich komplett in sein Maul nahm, um mit der Zunge so viel Blut wie möglich zu erhalten. Er sog an mir und, ohne dass ich es erwartet hatte oder wollte, empfand ich das Gefühl als berauschend. Anstatt mich vor ihn zurückzuziehen, gewährte ich ihm, meine Hand tiefer einzuführen. Nein, im Grunde war ich es selbst, indem ich Zentimeter für Zentimeter über seine Zunge vorwagte. Mein Bauch kribbelte, ich wurde flatterig. Es war ein ernstes Spiel, das wir spielten. Erst später wurde mir klar, was ich tat. Mein Arm im Rachen einer Bestie! Zu einer solchen verwandelte er sich, als ich mich nach zwei, drei Minuten - offen gestanden, wusste ich nicht, wie viel Zeit vergangen war - wieder vorsichtig zurückzog. Rakkarkattan hatte sich äußerlich nicht verändert, aber als meine speichelbenetzte Hand seine Zungenspitze verließ, die er leicht hinausgestreckt hatte, erhob er sich abrupt, schwang die Arme in die Luft und haute mit geballten Fäusten und markigem Gebell auf den Boden ein. Ich hatte keine Angst vor ihm, denn er war Odarik jetzt gleich und beschützte mich. Ibor und Inanna waren keine drei Sekunden später bei uns, griffen aber nicht ein. Rakkarkattans Schnauze war direkt vor meiner Nase und er grinste mich mit gefletschten Zähnen an. Ohne die Kiefer zu bewegen, sagte er: „Das war großartig!“ Er war berauscht, was mich nicht überraschte. „Du bist gewieft, Kalanthe! Jetzt bin ich dein Sklave!“, knurrte er. Der Hass war kaum zu überhören. „Du hast mir keine Wahl gelassen“, erwiderte ich. „Wie fühlst du dich?“ Er antwortete nicht, sondern stob hechelnd und schnarrend davon in den Wald, rannte dabei mehrere Bäume an und einen schlicht um. „Wie ich sehe, gut“, beantwortete ich mir meine Frage sarkastisch selbst. „Was hast du mit ihm gemacht?!“, fragte Inanna aufgeregt, aber nicht erbost. „Passiert das, wenn man dein Blut trinkt?“ Ich blinzelte irritiert über ihre Reaktion und taxierte sie. Machte sie - das etwa an? „Ich weiß nicht, was passiert“, antwortete ich. „Es ist bei jedem anders, denke ich.“ Sie neigte den Kopf hin und her, als wollte sie etwas sagen. Oder fragen. Ibor kam dem zuvor und sagte: „Du solltest nicht leichtfertig damit umgehen. Er hat sich verändert, obwohl es nicht für ihn bestimmt war. Das ist nicht gut.“ - „Ich habe das getan, um mich selbst zu schützen“, entgegnete ich kalt. Ibor schüttelte missbilligend den Kopf. „Inanna und ich haben gehört, was er gesagt hat. Er hat gelogen. Wir wollen dir nichts antun“, sagte er. Inanna hockte sich nieder, ich sah sie an. Sie wehrte sofort ab. „Moment mal! Es ist mir völlig egal, ob der Pharygarmr und der Kerl der Menschen beide kommen werden. Ich hab mit denen nichts zu tun“, sagte sie. Es klang ehrlich, weshalb ich mich wieder an Ibor wandte. Seine Augen straften ihn Lügen. „Du hast es in Erwägung gezogen, bist aber zu feige, es selbst zu tun?“, fragte ich provokant. „Ich bin dir nicht böse, Ibor. Das habe ich dir schon gesagt. Aber du siehst ja, was es für Folgen hat, wenn du den Weg zu verhindern versuchst, den ich gehen muss.“ Inanna sah zu Ibor und legte die Augenbrauen schief. Ihre Vorstellungskraft war nicht groß genug, dass er sich einen so perfiden Plan ausgedacht hatte. Was das anbelangte, war sie erfrischend einfach und geradlinig gestrickt. Ihr konnte ich, noch vor Agelulf, am meisten vertrauen. „Ich denke allerdings, dass du das nur machst, um deinem Bruder zu schaden“, behauptete ich, worauf er nichts erwiderte. „Rakkarkattan war offen dafür, er misstraute mir. Aber jetzt nicht mehr. Gib dich damit zufrieden, dass du bekommst, was du willst, und Agelulf, was er will.“

 

Der kam bald wieder, als wir schon lange weitergegangen waren. Er hatte Odarik bei sich. Sie war in eine völlig andere Richtung vorausgegangen, wie kam sie hinter uns? Seine Schnauze war rötlich verfärbt. Blut von einer Wildsau. Er bemerkte die Veränderung an meinem Geruch, sah Rakkarkattan und zählte eins und eins zusammen. Danach schalt er mich sofort eine Närrin. „Das hättest du nicht tun müssen. Ich weiß doch längst, was Ibor vorhat“, grollte er mir. „Woher?“, fragte ich verwundert. „Weil er es mit gesagt hat.“ Was war das schon wieder für ein Spiel? Warum offenbarte Ibor seinem Bruder, dass er Rakkarkattan angestiftet hatte, mich nach der Geburt des Kindes umzubringen? Was war hier los? Er fixierte mich. „Hast du noch nicht verstanden, was deine und die Fähigkeit aller Manticorae ist?“ Ich schüttelte wortlos den Kopf. „Dann finde es heraus, ich werde es dir nicht sagen.“ Ich fühlte mich vor den Kopf gestoßen, schluckte meinen Ärger herunter und fragte Ibor und Agelulf: „Könnt ihr mich aufklären? Warum habe ich plötzlich das Gefühl, dass ihr euch gegenseitig erklärt habt, was ihr mit mir vorhabt?“ Ibor kratzte sich peinlich berührt am Kopf. „Weil ... es so gewesen ist“, antwortete er. Agelulf nickte: „Es ist schon eine Weile her, Kalanthe. Wir haben vor Monaten darüber gesprochen.“ Er suchte nach Worten. „Ihr Menschen nennt das Was-wäre-wenn, glaube ich. Ich wusste, dass es Realität wird, aber Ibor nicht. Er hat mir längst alles verraten, was er vorgehabt hätte. Deshalb warst du nie in Gefahr und Odarik hat auf keinen von uns reagiert.“ - „Was für ein bodenloser Schwachsinn!“, hielt ich aufgebracht entgegen. „Was erzählt ihr mir für hirnlose Märchen? Hältst du mich für so blöde, dass ich darauf hereinfalle? Du hattest doch keine Ahnung, in welcher Gefahr ich schwebte. Oder schwebe ich immer noch darin? Vielleicht nicht durch Ibor, sondern durch dich? Wen hast du getroffen in den letzten Stunden?“ Und Zack! Ich hatte ihn in die Ecke getrieben. Agelulfs Pupillen erweiterten sich, seine Miene versteinerte, eine Lefze zuckte leicht, kaum wahrnehmbar. Es war wahr. Ich konfrontierte ihn mit etwas, von dem er nicht erwartet hatte, dass ich davon wusste. Inanna und Ibor taxierten ihn skeptisch. Letzterer schnupperte in seine Richtung und sagte dann: „Ich kenne die Gerüche nicht. Mit wem hast du dich getroffen? Es waren zwei.“ Seit ich Agelulf kannte, hatte es keinen Moment gegeben, in dem er überrumpelt oder ertappt gewirkt hatte. Heute sah es aus, als würde er schwitzen, wenn Werwölfe schwitzen könnten. Bevor er antwortete, fuhr Inanna zusammen, ging sprungbereit nieder auf alle Vieren und sträubte knurrend ihr Fell. Zähne fletschend geiferte sie: „Du warst bei ihm! Bei diesem Mistkerl! Willst du mich zurückbringen? Versuch es!“ Ich stand bewegungslos da und sah zwischen ihnen hin und her. Vielleicht wäre es besser gewesen, Agelulf nicht bloßzustellen. Wer immer der war, von dem Inanna sprach, sie hasste ihn und hatte so große Angst, dass sie jedem misstraute, der mit ihm Umgang hatte. Ich näherte mich ihr und legte ihr trotz der Gefahr, die von ihr ausging - Ibor hatte mir beigebracht, sich niemals einem verängstigten Werwolf zu nähern - meine Hand beruhigend auf ihre Schulter. Inanna sah sie an wie einen störenden Fremdkörper, dann mich und grollte schnarrend. Es hätte nichts genützt, sie mit Worten zu beruhigen, weshalb ich die Hand wieder fortnahm. Meine Geste war gut gemeint, aber unpassend gewesen. Ich ließ mich von meiner menschlichen Natur verleiten. Odarik war nur eine Sekunde später neben mir und zischte Inanna an, bevor sie unnatürlich dunkel blökte. Ich trat mehrere Schritte zurück, um die Situation wieder zu entspannen, wandte den Blick ab und legte mich dann seitlich hin. Das war nicht ohne Risiko, da Inanna mich instinktgesteuert überfallen konnte. Andererseits war es ein Zeichen von Entspannung, ohne mich unterwürfig zu zeigen. Das wirkte. Inanna beachtete die nervöse Odarik nicht mehr, sondern sah mich irritiert an, als ob ich nicht mehr bei Trost wäre. Sie blinzelte mehrfach, entspannte sich aber, als Agelulf meinem Beispiel folgte und sich ebenfalls entgegen seines Charakters seitlich hinlegte. Ibor wiederum war erstaunlich passiv und beobachtete uns, entschied sich aber zu Schluss, sich hinter mir hinzulegen und seine Klaue auf meine Hüfte zu legen, um deutlich anzuzeigen, dass er mich beschützte, wenn Inanna angriff. Odarik blieb skeptisch und stellte sich demonstrativ vor mich, was mir die Sicht auf Inanna versperrte, bis ich sie leicht zur Seite schob. Misstrauisch sah diese zwischen uns hin und her, bis sie sich beruhigte und ihrerseits hinlegte. Wie schwiegen ein paar Minuten, bis sie Agelulf ansah und erneut fragte: „Was hattest du bei ihm zu suchen?“ - „Nichts, was mit dir zu tun hat“, antwortete er, Inanna knurrte unterschwellig. „Warum sollte ich das glauben?“ - „Weil du für mich unwichtig bist.“ Das war zwar ungehobelt, aber die Wahrheit, die Inanna sogar glaubte, obwohl sie sie mit Vorsicht genoss. Ibor stellte dann die Frage, die mir auf der Zunge brannte: „Von wem sprecht ihr?“ Sowohl Agelulf als auch Inanna war die Antwort unangenehm, bis Agelulf in meine Richtung antwortete: „Ich war beim sechsten Geist.“ Ich horchte auf. Der Sechste? Stimmt, ich hatte das völlig vergessen. Er war noch am Leben. So wie Shakún’tala und Ânsgar. „Du redest von den Leuten, von denen du Herzen frisst?“, fragte Ibor. Inanna fuhr hoch. „Was?“, fragte sie und starrte entsetzt zu Agelulf hinüber, der nur schweigend seinem Bruder zunickte. „Ja, er ist einer von ihnen.“ - „Du hast sein Herz gefressen?“, fragte Inanna. Darüber verdrehte Agelulf genervt die Augen. „Nein, habe ich nicht“, entgegnete er. „Aber das wirst du?“, fragte Ibor und erntete kritische Blicke. Trotzdem nicke Agelulf erneut. „Willst du mir von ihm erzählen?“, fragte ich. Inzwischen hatte sich Odarik in meiner Beinkuhle niedergelegt, genoss meine streichelnde Hand an ihrem Hals und beobachtete uns aufmerksam, bis ihre Augenlider zufielen. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Sie wird nicht verstehen, wovon ich spreche.“ Er meinte Inanna. Sie hatte keine Ahnung von unserer komplizierten Geschichte. Wenn, kannte sie nur Bruchstücke daraus. „Ist egal“, meinte Ibor. „Wenn Inanna weiß, dass er sterben wird, muss sie nicht alles verstehen.“ Inanna schlug auf den Boden, ihre Pupillen verengten. „Wer wird sterben? Etwa Umbra?“ Agelulf sah zuerst mich, dann Ibor, dann sie an. „Na, gut. Wie ihr meint.“ Zu Inanna: „Ja, er wird sterben. Ich werde ihm das Herz nehmen.“ Ich erwartete einen Schwall aus Fragen über das Wie, Wo und Warum. Aber Inanna blieb gefasst und wartete, bis er fortfuhr. Daraufhin wandte sich Agelulf zu mir. „Umbra ist der sechste Geist. Er nennt sich Herr der Erde und glaubte eine Weile, der höchste aller Werwölfe zu sein, obwohl er selbst keiner ist. Er nimmt sich, was er will, ob das anderen gefällt, oder nicht.“