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Zehnter Abschnitt "Umbra"


Umbra

Der nächste Menhir. Steinerne Säulen, Monumente für die Ewigkeit, um alle daran zu erinnern, wer er war. Bald gehörte die Gegend ihm. Eines Tages verbeugten sie sich davor, wenn sie Angst hatten, seinen Zorn heraufzubeschwören. Sobald er genug von ihnen errichtet hatte, war die Zeit gekommen und er verwandelte sich endlich zurück in seine wahre Form. Dann war er der, der er immer gewesen war. Einer von jenen, von denen er ausgelacht und fortgeschickt worden war. Sie würden schon sehen und ihn anerkennen, bevor er sie in den Dreck stieß. „Nein, nicht so!“, fuhr er sie an und eilte hin. Wenn sie ihn im falschen Winkel errichteten, ging alles schief und er verwandelte sich in irgendeinen Krüppel, sobald er das Ritual beendete. Sie zogen sich sofort zurück, als er herkam, und beugten ihr Häupter. Ein paar hatten ihn damals verhöhnt. Jetzt hatte er sie unter Kontrolle und zu seinen höchsten Dienern gemacht, um ihnen Tag für Tag zu zeigen, wer der machtvollste war und um ihnen zu demonstrieren, wie tief sie gesunken waren. „Ich habe gesagt, im rechten Winkel zur Sonne hin!“, schrie Umbra sie an. „Ihr habt den Winkel um fünf Grad verfehlt, ihr Stümper!“ Er näherte sich dem nächsten, ihm Unbekannten und schlug solange wütend auf ihn ein, bis er nur ein roter Matschklumpen auf dem Boden war. Seine Fäuste waren steinhart geworden. „Die Menhire müssen korrekt stehen, sonst kommt es zur Katastrophe!“, sagte er laut und sah Dommarbjor an. Ihn hasste er am meisten, dabei verachtete Umbra sie alle. Aber Dommarbjor hatte ihn lächerlich gemacht, als er ihn damals aufgesucht hatte, um von ihm gebissen zu werden. Umbra hatte nicht gewusst, dass es so nicht funktionierte. Sein Wissen hatte er aus alten Legenden entnommen. „Agelulf!“, schrie er. Er trat vor und sah Umbra ohne Furcht an. Das schätzte er an ihm. Agelulf war der Einzige, der sich nie über ihn lustig gemacht hatte. Das machte ihn zu fast etwas wie einen Vertrauten. Ihn hasste er am wenigsten. Er lächelte mit gespielter Freundlichkeit. „Zeig den anderen, wie es richtig aussehen muss, ja? Ich will nicht, dass die Holzköpfe auch noch die anderen Menhire falsch aufstellen oder sogar beschädigen - Lux und Nox bewahre uns!“ Wortlos schritt er an ihm vorbei, zeigte auf zwei seiner ‚Brüder‘ und wies sie an, wie sie die sieben Meter hohe Steinsäule zu heben und auszurichten hatten. Erst dann durften sie sie in das vorgesehene, etwas sechs Meter gegrabene, konkave Loch hineingleiten lassen. Mit bellenden Befehlen, die sich bei ihm besser anhörten, als bei Umbra, scheuchte Agelulf sie, bis alles stimmte. Dann ließen sie los, was risikoreich war. Bei einem anderen Menhir - Agelulf war da nicht bei ihnen gewesen - hatten die Idioten zu früh losgelassen. Der kostbare Menhir, den Umbra über Monate vorbereitet hatte, war umgefallen und in drei Teile gebrochen. Er hatte zwei von ihnen unter sich begraben und zerquetscht. Das war nur insofern ärgerlich, weil Umbra dadurch kurzfristig Muskelkraft gefehlt hatte. Seinen Zeitplan hatte das zum Glück nicht durcheinandergebracht, da er mit den anderen Menhiren vorher schnell vorangekommen war. Wenn er darüber nachdachte, war es ironisch, dass er ausgerechnet einer von ihnen sein wollte. Er war so viel mehr als das, was er schon immer gewusst, aber nie eine Bestätigung dafür erhalten hatte. Bis vor fünfzehn Sommern haben sie ihn weit unter seiner Würde behandelt. Dann fand er heraus, wer er war und dass es kein Zufall war, dass er gerne einer von ihnen wäre. Ein Werwolf. Sie waren ursprünglicher als die meisten anthropomorphen Wesen auf der Welt. Bestialischer, reiner, naturverbundener. Aber leider um Längen dümmer als die anderen, wie zum Beispiel die Leoniden. Selbst Hyena waren cleverer. Andererseits hatten sie Umbra schon immer fasziniert. Das lag an dem Erbe, das tief in seiner Seele verwurzelt war. Als der Menhir aufrecht stand, fragte Agelulf: „Zufrieden?“ Dabei grinste er breit und frech. So kannte Umbra ihn. Er verhöhnte ihn auf seine eigene Art für das, was er tat. Er hatte vor Jahren mit ihm darüber gesprochen, wie lächerlich Agelulf es fand, dass er versuchte, seiner Natur zu entkommen. Dabei war es nicht seine Natur. Umbra war als Mensch geboren, aber seine Seele war zutiefst wölfisch. Er nickte. „Sehr gut! Genauso so wollte ich ihn haben!“, sagte er und hieß ihm mit einer Armbewegung zu ihm zu kommen. Agelulf näherte sich und Umbra hielt ihm die Hand hin. Widerwillig nahm er sie und leckte einmal darüber. Ihm die Hand zu küssen, war die höchste Belohnung und zeigte den anderen, dass er Respekt vor der geschafften Arbeit hatte. „Geh dir einen Kauknochen holen“, sagte Umbra arrogant. „Ihr anderen: Grabt den Menhir ein! Danach zurück ins Refugium mit euch. Heute sind Gwlulf, Andrigg und ...“ Er überlegte und ergötzte sich daran, wir nervös sie waren. „... Dommarbjor dran!“ Dessen Augen verengte sich, aber mit Blick auf seinen toten Rudelbruder, wagte er nicht, etwas zu sagen. Die Traube aus Werwölfen löste sich auf. Heute hatte er nur elf mitgenommen. Beim nächsten Mal wieder mehr. Agelulf hatte ihm schon vor Jahren gesagt, wie sehr er sich für das interessierte, was er vorhatte. Umbra wurde nicht schlau aus dem komischen Kerl. Er misstraute ihm, schenkte ihm dabei aber zugleich das meiste Vertrauen von allen. Wie die anderen ging er davon, nachdem der Menhir eingegraben war und stabil stand, zurück ins Refugium. Umbra blieb eine Weile und wartete, bis alle fort waren. Damit am Ende alles so eintraf, wie er es plante, weihte er den Menhir in einer komplizierten Abfolge aus Bewegungen und Anrufungen an seine Ahnen ein. Niemand durfte ihn dabei beobachten, da das Wissen um das uralte Brauchtum geheim war. Wer ihm zusah, musste sterben. 

Im Refugium wartete Dommarbjor am Eingang, um ihn einzulassen. Für heute und für morgen, das wusste Umbra noch nicht, war er sein Favorit. Das bedeutete, dass er ihn überall hin begleitete und ihm jeden Wunsch von der Stirn ablas, bevor er ihn formulierte. Das wiederum hieß, dass er ihn rechtzeitig weckte, ihm Essen jagte und mit ihm aß, ihn badete und zusammen mit Andrigg und Gwlulf beischlief, wenn er Lust hatte. Er selbst wollte das nicht. Nicht, weil er nicht konnte, er hatte schlicht kein körperliches Verlangen danach, sah aber anderen gerne dabei zu. Umbra setzte darauf, dass sich das änderte, sobald das Ritual ausgeführt und er einer von ihnen war. Dann hoffte er auf eine Potenz, die alle begehrten. Werwölfinnen und Werwölfe. Aber wenn das nicht geschah, war das nicht tragisch. Es war nur Beiwerk. „Willkommen zurück“, grummelte Dommarbjor gestelzt und öffnete kaum die Kiefer. Umbra nickte. „Es ist schön, wieder hier zu sein“, antwortete er, womit die Begrüßung zu Ende war. Er schritt durch hölzerne das Tor, das Dommarbjor hinter ihm verschloss, und betrachtete sein kleines Reich, das er vor über zehn Jahren erschaffen hatte. Ein Ort, den er Heimat nannte und an den er sich zurückzog und zur Ruhe kam. Weltliche Macht interessierte ihn nicht. Seine Vorfahren waren in diese Falle getappt. Was hatte es ihnen gebracht? Endloser Krieg, eine zerstörte Welt, ein zweigeteilter Mond, den sie mit ihren Waffen auseinandergenommen hatten, nur um dann mit fast allen Überlebenden in eine Himmelsarche zu steigen und für immer zu verschwinden. Dabei hatten sie nur das gesucht, was Umbra sein ganzes Leben anstrebte: Ursprünglichkeit, Verbindung, Zugehörigkeit, Wildheit. Das fand er nicht, indem er die Welt eroberte, obgleich er es zweifelsfrei vermochte. Er wählte den Weg, den sie erst entdeckten, als es zu spät war und sie nicht mehr zurückkonnten.

Er hob die linke Hand, die Dommarbjor ergriff und ihn zu seinem Haus - dem Einzigen des Refugiums - führte. Dort aber wartete überraschend Agelulf an der Tür und sagte: „Ich werde ihn baden.“ Dommarbjor bewegte sich nicht, er ließ Umbras Hand nicht los. Das wäre töricht, da er ihm nicht erlaubt hatte, zu weichen. „Was hast du vor, schlauer Wolf?“, fragte Umbra misstrauisch, aber belustigt. „Es geht mir nur um dein Wohlergehen, Herr“, antwortete Agelulf, legte den Kopf grinsend schief und sah ihn mit golden verfärbten Augen an. Bei denen konnte Umbra nicht nein sagen. Im weitesten Sinne war Agelulf sein Vorbild. Wenn er später einer von ihnen war, wollte er genauso sein, wie er. Selbstbewusst, durchsetzungsfähig, ein bisschen perfide, aber göttlich gerecht und streng. Ihr Volk brauchte einen Anführer, der ihnen eine Richtung gab. Im Moment waren sie nichts weiter als ein planloser Haufen ohne Ziele. „Du kannst gehen“, sagte er zu Dommarbjor, ohne ihn anzusehen. „Wenn du zurückkommst, bringst du Andrigg und Gwlulf mit. Heute bist du in der Mitte.“ Agelulf kicherte, Dommarbjor war nicht begeistert. In der Mitte zu sein, bedeutete, dass er Andrigg nahm, aber von Gwlulf genommen wurde. Bevor Umbra hergekommen war, hatte Dommarbjor in der Hierarchie über Gwlulf gestanden. Sich von einem niederen Artgenossen begatten lassen zu müssen, war für ihn ein Affront. Genau darum ging es Umbra. Die Umkehrung der Verhältnisse. Daneben war Gwlulf dessen Sohn.

„Du erinnerst mich an zwei Personen, denen ich vor längerem begegnet bin“, meinte Agelulf, nachdem Dommarbjor gegangen war und sich im Refugium zurückzog, das hauptsächlich aus Wald, Büschen und einer Höhle bestand, in der Umbras Werwölfe lebten und schon als Rudel gelebt hatten, bevor er sie sich untertan gemacht hatte. Er öffnete Umbra die hohe Tür zum Haus. Es hatte nur ein Stockwerk, die Wände waren hoch, Türen und der einzige Gang zu anderen Zimmern auch, damit Werwölfe hindurchpassten. Der erste Raum den sie betraten, gleich hinter der Tür, war zugleich der einzige, den Agelulf, Dommarbjor und die anderen betreten durften. Es war das Wohnzimmer des Hauses, mit Kamin, Küche, Esstisch, Truhen und Schränken für Vorräte, und so weiter. Vor dem Kamin lagen groß ausgebreitet einige Felle von verschiedenen Tieren. Dort fand später die Observation statt, wenn Dommarbjor, Gwlulf und Andrigg miteinander Umgang hatten. Es gab zwei andere kleine Zimmer. Das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer. In Letzterem hielt er sich am meisten auf, um die Schriften zur Vorbereitung auf das Ritual jeden Tag zu studieren, was zwar dröge war, aber wichtig, damit der Ablauf in ihn überging. Im Schlafzimmer stand nur sein Bett, mehr nicht. „Ach, ja? Wer sind sie? Vielleicht kenne ich sie?“, fragte Umbra schelmisch und entkleidete sich nach und nach. „Einen habe ich gefressen“, antwortete Agelulf, seine goldenen Augen funkelten gefährlich. „Aber den anderen kennst wahrscheinlich sogar.“ Umbra sah interessiert auf, er hatte das nur flapsig dahergesagt. „Erlik oddi Dynyol“, sagte Agelulf. „Dynyol!“, rief Umbra erstaunt. „Wie bist du denn an den rangekommen?“ Agelulf neigte augenrollend leicht den Kopf. „Das ist eine lange Geschichte.“ - „Ich habe bis heute Abend nichts mehr vor“, entgegnete Umbra. Er war der Familie Dynyol einmal begegnet. Sie waren eine machtvolle und vor allem reiche Familie, bei denen der halbe Adel verschuldet war - inklusive der Herrscherfamilie. Dennoch waren sie seinen Eltern und ihm höflich und freundlich begegnet. Umbra war damals ein wenig neidisch auf ihren Nachwuchs gewesen, weil er alles hatte, er hingegen nichts. Ein kleiner, zurückhaltender Junge, der den Mund kaum aufgemacht hat. „Damals war er klein gewesen, vielleicht sieben?“, sagte Umbra gedankenverloren. „Wie geht es ihm heute?“ Agelulf war das Thema sichtbar unangenehm, was ihm aber egal war. „Er ist zu einem jungen Mann herangewachsen“, antwortete er knapp. Umbra gaffte. „Du hast ihn aufwachsen sehen? Hast du etwa bei ihm gelebt?“, fragte er. Agelulf schwieg und nickte nur. „Die Geschichte würde ich gerne hören!“, sagte er. Agelulf neigte nachdenklich den Kopf hin und her. „Lass uns einen Handel abschließen“, schlug er vor und streckte die Klaue nach ihm aus, die er ergriff und sich auf die Felle vor den Kamin führen ließ. Er bekam allein bei dem Gedanken Gänsehaut, gleich gebadet zu werden. Er legte sich bereitwillig auf den Bauch. „Was schlägst du vor?“, fragte er. Wegen solcher dreisten Aktionen bevorzugte er Agelulf unter allen Werwölfen am meisten. Er gehorchte nicht nur, nickte und sagte Ja, sondern verlangte. Sobald er einer von ihnen war, das hatte sich Umbra fest vorgenommen, richtete er dessen Schnauze für seine Frechheiten neu aus. „Bevor ich dir von Erlik erzähle, will ich etwas von dir erfahren“, sagte Agelulf, kniete nieder, beugte sich hinab und packte Umbra am Hals, um ihn zurechtzurücken. Dann leckte er über dessen Schulter. Umbras Körper wurde vom Kopf bis hinunter in die Zehenspitzen kribbelnd überflutet. Es gab keine bessere Art, gesäubert zu werden. Er hatte vieles im Leben ausprobiert. Kalk oder Salz auf seiner Haut, Katzenwäsche mit einem nassen Waschlappen, baden in Seen und Bächen, sogar in einer echten Wanne mit heißem Wasser. Vor Jahren hatte ihn ein Bergturmwyrm ins Maul genommen und in seinem Speichel mit der gewaltigen Zunge gewaschen. Wyrme waren die Sabbermäuler ihrer Spezies. Das war schon zu einem Zeitpunkt, als er herausgefunden hatte, dass Speichel das beste Mittel war, um sauber zu werden. Leider hatte er Wyrm versucht, ihn aufzufressen und heruntergeschluckt. Er musste ihn von innen heraus töten, um zu entkommen. Danach hatte er es bei anderen versucht. Hyena waren zu lüstern dafür, Leoniden ungeeignet, weil sie wegen der Härchen auf ihren Zungen einem die Haut wund leckten. Dann kam er zu seinem angebeteten Werwölfen. Sie waren perfekt. Weil er gehobener Stimmung war, sagte er: „Was willst du von mir wissen? Ich bin ein Mann Mitte fünfzig, auch wenn ich jünger aussehe, was meiner Abstammung geschuldet ist.“ Agelulf unterbrach einen kurzen Moment. „Eben darum geht es mir.“ - „Das Geheimnis meines Aussehens?“ - „Nein, um deine Abstammung.“ Umbra wandte ihm grinsend das Gesicht zu. Er wusste, welche Frage auf ihn wartete. „Stimmt es, dass du von den Alten abstammst? Den Hyperboreern?“ 

Ein wenig war Umbra überrascht. Ob er von den Alten abstammte, wurde er oft gefragt, aber kaum einer wusste, dass sie sich selbst Hyperboreer genannt hatten. Das gehörte zu dem vergessenen Wissen, von dem nur solche Kenntnis hatten, die sich tiefgehend mit der Geschichte der Welt befassten. Bei einem Werwolf hätte er solcherlei am wenigsten erwartet. „Fragst du, weil du das Gerücht gehört hast?“, erwiderte Umbra schief lächelnd. „Ich frage wegen des Rituals“, entgegnete Agelulf. Das hatte er erwartet. „Du bist schlauer, als du dich stellst, Wölfchen“, meinte Umbra und drehte sich wieder auf den Bauch. „In mir fließt deren Blut, ja. Aber ich muss dich enttäuschen, wenn du glaubst, irgendwelche Kräfte zu erhalten, sobald du es trinkst. Die Alten waren genauso gewöhnlich, wie die Menschen es heute sind“, erklärte er freimütig. Agelulf badete ihn ein paar Minuten schweigsam und geduldig weiter, bevor er erneut unterbrach. „Wie hast du es herausgefunden?“, fragte er knapp und fuhr dann mit der intensiven Körperpflege fort. „Du willst alles wissen?“, wunderte sie Umbra. „Die ganze Geschichte?“ Agelulf sagte nichts. „Wenn ich sie dir erzähle, bin ich doppelt so alt wie jetzt, sobald wir fertig sind.“ Agelulf schwieg. „Einigen wir uns auf das Wichtigste. Dann habe ich meinen Teil der Abmachung erfüllt und bin noch geheimnisvoll genug, damit du hierbleibst und das Refugium nicht verlässt, was schade wäre.“ Jetzt unterbrach Agelulf und sagte: „Höre ich Sehnsucht in deiner Stimme? Ich fühle mich geehrt.“ Umbra lachte dumpf auf. „Bilde dir nichts darauf ein. Wir haben einen Handel. Bevor du mir von dem Dynyol-Jungen und dir erzählst, berichte ich von meinem Weg. Glaub bloß nicht, dass ich das vergesse.“ Agelulf schwieg abermals - und hörte zu. Nein, das war Umbra zu schnell. Vorher fragte er: „Wie geht es eigentlich meinem Vögelchen? Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie vor einer Weile bei dir gewesen ist. Weißt du, wo sie abgeblieben ist? Ich vermisse sie und will sie wiederhaben.“ Agelulf badete Umbra gemächlich zu Ende, fuhr mit der Wolfzunge über jeden Teil seines Körpers - jeden Teil - und ging danach erst nach draußen, um etwas zu trinken oder zu erbrechen. Soweit Umbra wusste, war der Geschmack seiner Haut für einige im Refugium nicht erquicklich und reizte ihren Magen. Als er wieder da war, hatte sich Umbra neu eingekleidet und auf seinem thronähnlichen Stuhl niedergelassen. Agelulf ließ sich auf den Fellen beim Kamin nieder und sagte: „Die Freiläuferin? ... Inanna? Die ist weg. Für immer.“ – „Hast du sie umgebracht?“, fragte Umbra verschmitzt. Die Werwölfin war frech und vorlaut gewesen. Vor allem temperamentvoll, wenn er sie für die allabendlichen Körperspiele ausgesucht hatte. Eines Tages war sie fort gewesen - zusammen mit ein paar anderen. Eine Beleidigung. Er hatte sie jagen lassen. Bis auf Inanna hatte er sie gefunden. An einem hatte er ein Exempel statuiert und ihn hingerichtet, damit die anderen es nie wieder wagten, an Flucht zu denken. Erstaunlicherweise hatte sogar Dommarbjor an ihre Rudelgefühle appelliert, sich nicht zu verhalten wie dreckige Freiläufer. Als solche war Inanna ins Refugium gekommen. „Nein, sie ist weg. Belassen wir es dabei. Über Freiläufer zu sprechen ist sinnlos“, sagte er. Umbra taxierte Agelulf. Das Wölfchen glaubte, in an der Nase herumführen zu können und nahm sich Privilegien heraus, für die er andere längst geköpft hätte. Ihm eine Antwort zu verweigern war tödlich. Ihm ließ er es für dieses Mal durchgehen. Sie hatten einen Handel. Er hakte nicht weiter nach. Vorerst. „Weißt du, wie es sich anfühlt, ausgestoßen zu sein?“, fragte Umbra, wartete aber nicht auf eine Antwort und fuhr gleich fort: „Es ist wie ein Brennen auf der Haut. Aber es gibt ein Gefühl, das das noch übersteigt. Zurückweisung. Warum? Wenn du ausgestoßen wirst, hat es oft, wenn auch nicht immer, etwas damit zu tun, dass du in eine Gruppe nicht mehr hineinpasst, oder nie hineingepasst hast. Aber wenn du zurückgewiesen wirst, versuchst du, zum Teil von etwas zu werden. Entweder ein Partner von jemandem, oder eben zu einem Mitglied einer Gemeinschaft. Du könntest einwerfen, dass es viel schmerzhafter ist, aus einer Gruppe ausgestoßen zu werden, weil man dann alles verliert. Freunde, Anerkennung, Zugehörigkeit. Aber ich finde die Zurückweisung schlimmer. Denn durch sie erhältst du keine Chance, überhaupt ein Teil einer Gruppe zu werden. Du bleibst ausgegrenzt und erfährst nicht, was dich innerhalb der Gemeinschaft erwartet. Im Gegenteil zeigen dir ihre Mitglieder, dass du es nicht wert und du generell wertlos bist. Das ist viel schlimmer. So jemand bin ich. Ein Zurückgewiesener, ein Unerwünschter, ein Ungebetener, den man schnell wieder loswerden will. Die, die mich zurückgewiesen haben ... Was glaubst du, wer sie waren?“ Umbra lachte sarkastisch. „Das waren deine Leute! Werwölfe!“, spuckte er verächtlich aus. „Ich wollte nur dazugehören, ein Teil von etwas größerem sein. Aber es reichte euch nicht, mir zu sagen, dass das nicht möglich ist, weil ich kein gebürtiger Werwolf bin. Nein! Deine Leute haben mich an der Nase herumgeführt, mir Hoffnungen gemacht und dann weggeworfen wir ein Stück Dreck, das sie ausgeschissen haben und nicht mehr riechen wollten!“ Zu allem, was er sagte, schwieg Agelulf. Jeder andere Werwolf hätte sich angegriffen gefühlt und ihn herausgefordert oder versucht, ihn umzubringen. Aber er bezog die Vorwürfe nicht auf sich, so als ob er nicht zu ihnen gehörte und keiner mehr war. All die schrecklichen Erinnerungen stiegen in ihm auf, wie sie ihn tagelang gequält, Hoffnung geschürt und dann zerstört hatten. Dommarbjor war einer von ihnen gewesen, damals kein Rudelanführer. Es fiel Umbra schwer, die Gefühle von damals endlich loszulassen. Der Hass war eine antreibende kreative Kraft geworden, die ihn vieles hatte überwinden lassen. Auch seine beschränkte Vergangenheit als Mensch, der er nicht war. Er war ein Hyperboreer, und alle, die ihm das nicht geglaubt hatten, waren jetzt tot.

 

„Du wirst niemals einer von uns sein“, hatte Gunolvar ihm entgegengespuckt. „Du bist ein Fleischsack mit ein paar Knochen, hast keine Zähne und Klauen, lahmst nach wenigen Metern rennen, bist im Dunkeln blind und so laut, dass du unsere Beute vertreibst. Du bist nutzlos.“ Das waren seine letzten Worte gewesen. Dann hatten sie ihn weggeschickt, zurück zu den Menschen, zu denen er weniger gehörte, als zu ihnen. Die Schmach, die seine Familie, Verwandte und Bekannte - Freunde hatte er keine mehr - ihm entgegenbrachten, war leichter zu ertragen gewesen. Dennoch fassten sie ihn nur mit ausgestreckten Armen an und bezeichneten ihn als Verrückten. Umbra war Anfang vierzig, mittellos und vergrub sich im Haus seiner Eltern. Sein Vater war bettlägerig geworden in der Zeit, in der er nicht da gewesen war. Seine Mutter warf ihm jeden Tag vor, faul und ein Nichtsnutz zu sein, der nicht arbeitet und kein Geld nach Hause brachte. Das war die Zeit, in der sie und Umbras drei Geschwister für ihn aufkamen, weil er nicht arbeitete. Es gab viele Arbeiten, denen er hätte nachgehen können, aber keine unter ihnen, die er als würdig genug empfand. Er wollte kein Bittsteller sein mit Menschen, die über ihm standen und sogar den Lohn verwehrten, wenn er seine Arbeit nicht ordentlich verrichtete. Er wusste seit seiner Kindheit, dass er nicht in solch eine Position gehörte. Dadurch war er oft angeeckt und hatte keine Freunde. Viele in seiner Heimat nannten ihn hohnvoll „Eure Hoheit“, weil er sich zu schade für vieles war. Wenn sie nur gewusst hätten, wie nahe sie der Wahrheit gekommen waren! Heute lachte Umbra in sich hinein bei dem Gedanken an ihre verdutzten Gesichter, als er sich in seiner Macht präsentierte und ohne weiteres einem verhassten Nachbarn mit einem Schnippen das Leben nahm. Aber das war schon mittendrin. Der Anfang lag weiter zurück, etwa zwei Monate vorher, nachdem er von den Werwölfen zurückgekehrt war.

Er saß am Bett seines Vaters, der im Sterben lag. Er war bis ins hohe Alter bei klarem Verstand geblieben. Selbst jetzt, mit 87 Jahren sah er agil und vergleichsweise jung aus. Er war der Einzige gewesen, der Umbra nie verurteilt hatte für das, was er fühlte. Leider war sein Geist nicht mehr jung, er vergaß viele Dinge. Oft erinnerte er sich nicht mehr an ihn oder seine Familie, schrie, beleidigte jeden, oder war im Gegenteil im Delirium, in dem er nichts um sich herum wahrnahm. An einem behaglichen Tag im Frühling, der mit einem Gewitter und Sturm endete, strahlten die Augen des Greises eine Weisheit aus, die älter war, als sein Körper, und weit in die Vergangenheit und sogar in die Zukunft hineinzureichen schien. Umbra hatte seinen Vater wieder so vor sich, wie er früher einmal war. Das bemerkte er an der Art, wie er ihn begrüßte, als er ins Zimmer eintrat - er war jeden Tag mehrere Stunden hier. „Umbra!“, rief sein Vater, streckte die Arme aus und betrachtete ihn dann kritisch. „Du siehst nicht gut aus! Wie lange war ich weg?“ Das war eine weitere Besonderheit des alten Herrn. In wachen Momenten wusste er um die geistige Verwirrung. Jedes Mal fragte er, wie lange er fort war. Umbra fiel ihm in die Arme und ließ sich drücken. „Zu lange, Vater“, antwortete er. „Hm“, machte der. „Es scheint einiges passiert zu sein. Erzähl mir davon, Junge. Ich will alles wissen.“ Er erzählte es. Jede Begegnung, jedes Detail, jede Schmähung. Vater hörte geduldig zu. Umbra war verwundert, aber erleichtert. Für gewöhnlich hielten die wachen Momente nicht lange an. Aber heute blieb sein Geist fest im Körper verhaftet. Selbst die schlimmsten Episoden erwähnte er. „Es tut mir leid, dass dir all das passiert ist“, sagte er aufrichtig, ohne dabei allzu traurig zu sein. „Aber am Ende wirst du sie beherrschen.“ Umbra starrte ihn an und glaubte, er glitt wieder in die geistige Umnachtung. Aber, nein. Der Blick blieb klar, die Stimme fest, die Miene gerecht und ernst. Das war sein Vater. „Jetzt verstehst du es noch nicht. Aber das wirst du bald. Denn ich verstehe, wie es kommen muss“, sagte er. Umbra schüttelte leicht den Kopf. Ein paar Schleierwolken zogen über den Himmel. „Ich werde heute sterben, Umbra“, sagte Vater. „Deshalb hat mir das Schicksal für die geringe Zeit, die mir bleibt, den klaren Verstand zurückgegeben, aus Respekt davor, was ich bin. Und was du bist.“ Umbra sagte nichts, weil er nicht wusste, was. Es passte nicht zusammen, dass Vater wirres Zeug mit deutlicher Ernsthaftigkeit aussprach. „Unser Blut ist besonders. Es ist edel und anders. Wir stammen in direkter Linie von den Alten ab“, offenbarte er. Es war wie ein Blitzschlag in seinem Kopf, als er das hörte. Dadurch ergab alles Sinn! Aber er wusste überhaupt nicht, wer die Alten waren. Die Legenden über sie waren bekannt. Aber darin erschienen sie nur indirekt und passiv. Viele bezweifelten, dass es sie überhaupt gegeben hatte. Aber nachdem Vater es ausgesprochen hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr.

Vater lächelte ihn milde an. „Umbra, du bist ein Auserwählter, genau wie ich. Aber im Unterschied zu mir, hast du das früher erkannt und die Möglichkeit, mehr aus dir zu machen“, sagte er verschwörerisch und fragte dann: „Weißt du, was der größte Wunsch der Alten war?“ Wusste er nicht, Umbra schüttelte den Kopf. „Sie strebten danach, eins zu sein. Eins mit sich selbst, eins mit allen anderen, eins mit der Erde, dem Feuer, Wind und Wasser. Das ist das ziehende, sehnsuchtsvolle Gefühl, das dich begleitet, seit du klein warst.“ Umbra machte große Augen. „Woher weißt du davon?“, fragte er, seine Wangen wurden warm, sein Kopf glühte heiß. „Weil ich dasselbe empfinde, seit ich ein Kind war. Jeder, der von ihnen abstammt, empfindet so. Es ist tief in uns verwurzelt.“ - „Warum müssen wir das ertragen?“, fragte Umbra, aber Vater schüttelte den Kopf. „Wer weiß? Selbst die Alten wussten es nicht. Doch es trieb sie an, sich fortzuentwickeln. Sie erbauten Leu Hyperbor, teilten den Mond in zwei Hälften und verließen danach unsere Welt, um dem Gefühl nachzugehen, das uns beide und alle Nachkommen bis heute quält.“ - „Es gibt andere?“ - „Ja, aber verschwende nicht deine Zeit damit, sie zu suchen. Denn wir sind nur wenige. Eine Handvoll. Und nur wenn sich durch Zufall zwei Stammbäume kreuzen, werden Kinder geboren, in denen das Blut der Alten deutlich hervortritt. So wie bei dir und mir.“ Umbra war überwältigt von all dem Wissen, das Vater ihm offenbarte. „Warum hast du mir davon nicht schon früher erzählt?“, warf er ihm vor, war aber nicht zornig. Vater schüttelte den Kopf. „Du warst zu jung und nicht bereit. Du musstest Erfahrungen wie die bei den Werwölfen sammeln, um zu verstehen.“ Sie schwiegen einander an. „Du hättest also geschwiegen, wenn ich nicht zu ihnen gegangen wäre?“, fragte er. „Hör endlich auf, so naiv zu sein, Umbra!“, fuhr Vater ihn an. „Du bist vierzig Sommer alt und in vielen Dingen dumm wie ein Kind. Es geht nicht um die Werwölfe. Es geht darum, dass du versucht hast, etwas zu sein, von dem du überzeugt bist, dass du es bist. Einer von ihnen! Das ist kein Hirngespinst, es ist die Wahrheit. Du bist ein Werwolf, geboren im falschen Körper. Geboren in einem Übergangskörper, der dich vorbereitet.“ Umbra nahm Abstand von Vater. „Worauf vorbereiten?“, fragte er. „Das weiß ich nicht. Es ist an dir, das herauszufinden.“ - „Was ich weiß, ist, dass unsere Vorfahren sich auf die Suche jenseits der Sterne begaben, um ihre Sehnsucht zu befriedigen und zu finden, was sie vervollständigt. Sie haben sich entwickelt. So hoch, dass sie nicht mehr zurückkonnten und hier nicht mehr fanden, was wichtig war. Aber du hast die Möglichkeit, zu schaffen, was ihnen und mir verwehrt blieb“, erklärte er. Dicke Wolken verdeckten die Sonne, der Raum wurde duster und klamm. „Vereinigung?“, fragte Umbra. Vater nickte. „Ist Dollema da?“, fragte er. Umbra schüttelte den Kopf. Dollema war für viele Jahre Hausmädchen, Zofe und Hauswirtschafterin in ihrem Haus gewesen. Vater sah betroffen aus. „Lebt sie denn noch?“, fragte er, seine Stimme zitterte. Umbra nickte. Als Vater krank und das Geld nach und nach knapp wurde, entließ seine Familie sie. Das war schrecklich gewesen, da Umbra sie gemocht hatte. Vater wirkte erleichtert. Das Zimmer wurde dunkler und dunkler, als den dicken weißen, schwarze Gewitterwolken folgten und weit entfernt Donner zu hören war. „Geh zu ihr. Alles was du über unsere Familie und darüber hinaus lernen musst, findest du bei ihr. Sie ist deine leibliche Mutter.“ - „Sie ist was?“, rief er aus. Vater atmete schwer. „Verzeih mir, dass ich dir das jetzt erst und unter diesen Umständen sage. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit. Du hast doch schon immer gewusst, dass du anders als deine Geschwister bist, nicht wahr?“ Umbra nickte betroffen, alles was er war, wurde auf den Kopf gestellt. Oder eher richtiggestellt, da sein Leben vorher auf dem Kopf stand. „Das ist der Grund. Deine leibliche Mutter war interessant und anders als die Frau, die du Mama nennst. Ich habe sie aufrichtig geliebt und dich als meinen Sohn anerkannt, nachdem du geboren wurdest.“ - „Ist das der Grund, warum Mama immer so kalt zu mir war?“, fragte Umbra tonlos. Vater wandte den Blick aus dem Fenster nach draußen an. „Tut mir leid. Ich habe dabei versagt, dich vor ihr zu beschützen.“ Seine Hände zitterten. Umbra nahm eine davon und streichelte sie, nahm sie auf und legte sie sich auf den Kopf. Sein Vater zerzauste ihm die Haare, wie er es immer getan hatte. Eine Geste für den geliebten Sohn im Kindesalter, hat Vater sie beibehalten und nie aufgehört, sie zu zerzausen. Dessen angestrengtes Atmen wurde zum hellen Pfeifen. „Ich war zu wenig für dich da, damit du deine Gefühle verstehst. Das war falsch. Jetzt kann ich nur dafür sorgen, dass du den besten Weg gehst, der dir zusteht“, keuchte er angestrengt. „Wie soll ich das machen, Papa?“, fragte Umbra, dem klar wurde, dass es zu Ende ging. Das Donnergrollen des Himmels wurde lauter. „Deine Mutter Dollema hat mehr Antworten als ich. Sie -“, er brach mitten im Satz ab, als ein Blitz in der Nähe einschlug, gefolgt von durchdringendem Krachen, das die Wände erschütterte und Umbra einen Moment lang taub zurückließ. In Vaters Augen glaubte er, eine Spiegelung gesehen zu haben. Da waren mehrere merkwürdige Wesen oder eines mit vielen Beinen und Köpfen. Einbildung? Eine Sekunde später sackte sein Vater in sich zusammen, sein Kopf rutschte zur Seite, der Blick wurde leer, Arme und Beine erschlafften. Er war tot.

 

Umbra verließ die Familie, die gar nicht seine war, nach Vaters Beerdigung. Vorher verschloss er alle Türen und Fenster. Sie schliefen, als er das Haus in Brand steckte. Seine Mutter und eine seiner Schwestern wachten auf und schrien panisch. Die anderen erstickten gnädig im Schlaf. Sie verbrannten ohne Ausnahme. Das verhasste Haus seiner Kindheit war fort, er war frei. Sie hatten kein Geld für ihn hinterlassen. Abgesehen davon hätte ihm niemand das Erbe gegeben, weil er sofort eingekerkert wurde und Hauptverdächtiger galt. Aber Feuer reinigte und vernichtete alles. Beweise existierten nicht, sie ließen ihn gehen. Da wurde Umbra das erste Mal klar, dass er der Herr über alle anderen war. Als ein Nachfahre der Alten war jede Spezies inklusive der Menschen nichts gegen ihn. Wäre es anders, hätten sie ihn hingerichteten für seine Tat. Aber seit Vaters Offenbarung hatte sich sein äußeres Wesen verändert. Er war herrisch, stand aufrecht und selbstbewusst vor dem höchsten Adeligen. Niemand schüchterte ihn mehr ein, er schüchterte andere ein. Seine leibliche Mutter fand er trotzdem nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Zuletzt hatte er sie vor zehn Jahren gesehen, als Vater erkrankte und nicht mehr gehen konnte. Als sie aus ihrem Dienst entlassen wurde, war er nicht da gewesen. Es war ein ekelhaft mulmiges Drücken in seinem Bauch, als er damals nach Hause gekommen war und sie nicht mehr vorfand. Sie war von allen im Haus die Liebenswürdigste gewesen. Jetzt verstand er endlich, warum. Sie war nicht verschwunden, aber sie zu finden, gestaltete sich schwer. Umbra folgte ihrer Spur und wurde mit jedem Hinweis, den er entdeckte, sicherer, dass Dollema sie absichtlich hinterlassen hatte, damit er sie auf jeden Fall fand, wenn er sie suchte.

Sie war weit fortgezogen in eine Stadt am anderen Ende des Landes und wartete auf ihn. Zumindest lächelte sie wissend, als er ihren kleinen Gemüsegarten betrat, und sie in der Tür ihres Hauses stand. Eine kleinere Hütte, ihrer Person vollkommen unwürdig. „Es ist nicht der Besitz, der uns zu dem macht, was wir sind und sein sollen“, waren ihre ersten gewichtigen Worte, nachdem Umbra sie emotional begrüßt hatte. „Es ist unser Erbe, das uns erhöht. Es ist vor allem dein Erbe, dass dich wichtig macht für uns“, erklärte sie ihm bei einer Tasse Pfirsich-Tee, den sie immer mit einem kleinen Tropfen Honig für das Aroma verfeinerte. Die Pfirsiche spiegelten ihren Charakter wider. Dollema war voller Wissen, das Umbra nie gesehen, aber jeher unbewusst gespürt hatte, so wie eine Pfirsich nahrhaftes Fruchtfleisch bot. Ihr Charakter war mild durch und durch, aber mit einem festen und harten beständigen Kern im Innern. „Du wirst selbst herausfinden müssen, was zu tun ist, um es zu erhalten“, sagte sie sanft und doch hart. Ihr kupferfarbene Haut stand im Kontrast zu ihrem aschgrauen Haupthaar, das trotz ihres Alters - sie war in die 70 Jahre alt - nichts von seiner Fülle verloren hatte. Ihre verschmitzt lächelnde und Zufriedenheit ausstrahlende Miene war mit vielen Falten übersät, die sie auf natürliche Weise anmutig machten. „Ich bin nur noch hier, um dir den Weg aufzuzeigen und die Werkzeuge zu überreichen.“ Umbra verschluckte sich und hustete. Röchelnd fragte er: „Liegst du - im Sterben?“ Dollema schüttelte den Kopf. „Ich bin bereits tot“, antwortete sie und hieß ihn, zu ihr zu kommen. Er stellte die Tasse zur Seite, stand von seinem Stuhl auf und näherte sich zögerlich. Sie nahm seine Hand und legte sie sich auf die Brust. „Da!“, sagte sie. „Spürst du etwas?“ - „Ich ... bin mir nicht sicher“, haspelte Umbra. „Pah!“, rief sie aus und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Du bist unschlüssig und blauäugig, seit du klein warst. Da ist nichts! Mein Herz hat aufgehört zu schlagen. Merkst du das denn nicht?“ Umbra schluckte hart. Doch, er spürte es. Dollema hatte keinen Herzschlag mehr. „Wie ist das möglich?“, fragte er und brach in Schweiß aus, als ihm klar wurde, dass er mit einer Untoten sprach. „Weil ich eine Nachfahrin der Hyperboreer bin“, antwortete sie. „Hyperboreer ...? Sind das die Alten?“, fragte er sicherheitshalber. Dollema nickte. „Es ist nicht tot, was lange wacht, bis dann die Zeit hat den Tod gebracht“, zitierte sie einen fremdartigen Einzeiler, dessen Bedeutung er nicht verstand. „Es ist mein reiner Wille, der mich hier hält, obwohl mein Körper versagt hat. Nur, um dir mitzugeben, was wichtig ist, kleiner Pruppe“, sagte sie und nannte ihn bei seinem Kosenamen aus Kindertagen. Umbra schluckte. Es war ungerecht. Er hatte er seine leibliche Mutter gefunden, erhielt aber keine Zeit, sie kennenzulernen. Aber es brachte nichts, sich dagegen zu wehren. Sie war gestorben. Es war widernatürlich, eine Frau am Leben zu lassen, die schon längst verrotten sollte. Das wussten sie beide, deshalb ließ Dollema nicht unnötig Zeit vergehen. Er setzte an, etwas zu sagen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Spar dir das. Ich habe dir all meine Mutterliebe gegeben und weiß, dass du mich als Sohn genauso liebst. Es auszusprechen, macht es für uns beide nur schwerer. Knie nieder.“

Für einen kurzen Augenblick wäre er gerne weggerannt und nie mehr zurückgekommen. Vielleicht, so dachte er, war all das hier falsch. War es nicht besser, so zu bleiben, wie er jetzt war? Er hatte sich zu seinem Vorteil entwickelt. Andere empfanden ihn als charismatisch, was ihm einige Türen geöffnet hatte. Dann fragte er sich aber, wem er das zu verdanken hatte? Vater und Dollema. Weil sie beide schon immer gewusst hatten, dass er, Umbra, ihr Kind ist und sie ihm alles ermöglichten. So sehr, dass sie Wirrnis in Kauf nahmen und sich dem Tod verweigerten. Wie undankbar wäre er, wenn er jetzt Nein zu allem sagte? Er kam zu dem Schluss, dass er Nein zum Nein sagte, und die Geschenke annahm. Er kniete, sodass er dem Blick seiner Mutter leicht unterlegen war. Der war hart geworden, so als hätte sie keine andere Möglichkeit als diese geduldet. Er war sich sicher, wenn er ablehnte, und versuchte zu gehen, hätte sie ihn Kraft ihres Willens daran gehindert. Sie nahm Umbras Gesicht fest zwischen ihre kalten Hände und sang laut: „Weit, weit, weit ist die Welt und ihre Weisheit. Weit, weit, weit ist der Verstand. Folge dem Pfad, folge dem Herz, folge dem Wissen. Leu Hyperbor erwartet dich. Heil dem Leu! Heil Hyperbor! Gesegnet sei die Intelligenz!“ Mit einer Hand holte sie aus und schlug damit gegen seine Stirn. Ohnmacht.

 

Die Luft schmeckte alt, roch aber nicht unangenehm. Seine Erinnerungen kreisten, bevor er die Augen öffnete. Erinnerungen, die nicht seine waren und doch seine waren. Eine Frau, hoch gewachsen, in einem weiten Gewand gekleidet, das an Schultern und Taille eng saß, und fremdartig schimmerte. Sie saß auf einem Thron, der keiner war. Doch er hatte dieselbe Wirkung, denn alle um die Frau herum zollten ihr Respekt und gehorchten ihren Worten. Ihre Haut war dunkel, fast schwarz, ihre Haare dafür weiß wie Asche, die Augen grün mit goldenen Sprenkeln durchsetzt. Sie sah ihn auffordernd an und sagte etwas in einer Sprache, die er nicht verstand. Ihre Stirn war betont, da sie in einer Linie ohne Unterbrechung ins Nasenbein überging und sie ästhetisch machte. Sie sah aus wie eine Göttin. Umbra erwiderte zur Antwort etwas in derselben Sprache, ohne zu begreifen, was er gesagt hatte, worauf die herrliche Frau nickte und den Blick an ihm vorbei auf etwas anderes richtete. Ihr Gesicht wurde angestrahlt und glänzte. Sie kniff die Augen leicht zusammen. Umbra wandte sich um und sah auf ein kaum beschreibbares Bild. Da war der Mond gleich vor ihnen. Eine runde Kugel, gleißend schön und einzigartig elfenbeinfarben. Nicht zweigeteilt, so wie er ihn kannte. Schräg dahinter eine blau-grüne Perle, durchzogen mit weißen Schlieren. War das - die Welt? Er wusste nicht, was er tat, als er wie von selbst vor sich griff und nach etwas tastete, das leise klickte. Um ihn herum schwoll ein furchtbares Grollen an, gefolgt von einem hellen Blitzschein.

An mehr erinnerte er sich nicht. Umbra öffnete die Augen und sah in die Sterne hinauf. Sie waren ihm vertraut. Als kleiner Junge hatte er im Sommer nachts oft auf Wiesen gelegen, um die Sternenbilder zu erkunden und sich selbst welche auszudenken. Irgendwann hatte er damit aufgehört, weil ihn der Anblick zu ihnen traurig machte. Er stellte sich damals die Frage, was jenseits der Sterne lag, oder ob sie bloß kleine, hellere Kerzen am Nachthimmel waren, die Lux in Wehmut aufgehangen hatte, nachdem sein göttlicher Bruder Nox in millionen Scherben zerbrochen war, um der Welt das Leben zu schenken. Aber dieses Firmament war ungewöhnlich. Es bewegte sich. Schnell. Nicht, wie die Sterne bei Nacht langsam wanderten, sondern eilend, als versuchten sie, vor ihm zu fliehen. Ihm war flau im Magen, so als wüsste er nicht mehr, wo oben und unten ist. Das Gefühl legte sich, nachdem er sich vergewisserte, dass er auf festem Boden lag und konzentrierte sich mit dem Körpergefühl auf den Untergrund. Nach ungezählten Sekunden und Minuten, in denen er nur die zu schnell rasenden Sterne betrachtete, drehte er den Kopf zur Seite und zuckte zusammen. Da war ein Mann, der mit einem Degen auf ihn zeigte! Umbra rappelte sich auf und trat schnell drei wackelige Schritte von ihm fort. Momente, die er brauchte, um zu verstehen, dass der Mann nicht lebendig, sondern eine überaus authentisch gearbeitete Statue war. Nein, eher ein Monument, denn sie war riesig! Er war dutzende Meter von ihr entfernt. Stolz und streng sah sie jeden an, der sich ihr näherte. Oder dem, was sie beschützte. Einen gewaltigen Palast, prächtig, atemberaubend groß und von fremdartiger Bauweise. Schlicht und doch elegant, mit einer Palastkuppel in der Mitte und acht Türmen rundherum angeordnet. Letztere neigten sich der Kuppel zu, ihre Spitzen verbanden sich miteinander hoch über ihr. Dort, wo sie aufeinandertrafen, bemerkte Umbra ein warmes Leuchten. An den Türmen selbst standen wiederum große Statuen, die mit ausgestreckten Armen ehrerbietig zum Palast zeigten. Unter der Palastkuppel, die durchsichtig war, was Umbra zuerst nicht bemerkt hatte, rotierte etwas. Er konnte nicht einschätzen, was es war. Dann ging der Mond auf. Zweigeteilt. Ihm wurde klar, dass er sich an einem besonderen Ort befand. Einem Ort, der bei manchen Völkern angebetet wurde. Der Mond war nah. Zu nah. War das ein Traum? War es echt? Oder war er zwischen Traum und Wirklichkeit? Phantasterei? Spinnerei? Hatte Dollema Umbra etwas in den Tee gemischt, sodass er glaubte, hier zu sein? Am bedeutendsten Ort der alten Geschichte? Erst als er sich von Mond und Palast abwandte und die Dunkelheit des Sternenmeers betrachtete, sah er die Welt von einer so großen Höhe, dass er erkannte, dass sie rund war. Eine Seite dunkel, eine Seite hell. Er sah seine Heimat, aber darüber hinaus Länder, von denen niemand bisher wusste. Weit im Süden. Aber was interessierte ihn die Welt? Der Palast wartete darauf, erkundet zu werden, und er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb. Erst jetzt nahm Umbra Notiz davon, dass der Boden unter ihm nicht aus Stein war, zumindest nicht die komplette Fläche, sondern aus einem fahl schimmernden Metall. Er besaß einen Ring, der aus demselben Material gefertigt war und seit Generationen in seiner Familie weitergegeben wurde. Vater hatte ihm den Ring nicht geben können, deshalb hatte Umbra ihn sich von seinen toten Fingern genommen. Er hatte das Metall Platin genannt. Unscheinbar im Vergleich zu Silber oder Gold, aber weitaus wertiger. Es war das einzige Vermächtnis seiner Ahnen neben des Himmelspalasts, das die Zeiten überdauert hatte, weil es das härteste Edelmetall war, dass es gab. Nachdem sie die Welt verlassen hatten, wusste niemand mehr um dessen Herstellungsverfahren. Einen Platinring zu besitzen war daneben auch nicht mehr erstrebenswert. Nur die, die sich auskannten, wussten um ihren Wert. Der Palast, Leu Hyperbor, war aus Platin und Granit gebaut. Die Fenster der Kuppel - er war sich sicher - waren vermutlich aus einem Glas gefertigt, das seinesgleichen suchte. Er schritt auf den Palast zu und fühlte sich leichter, als er hätte sein dürfen. Er sprang in die Luft und flog mehrere Meter geschmeidig dahin, bevor er sanft wieder aufkam! Begeistert und außer Atem lachte er laut auf und sprang nochmal, dann nochmal und nochmal. Mit jedem Sprung weiter. Trotzdem dauerte es fast eine halbe Stunde, bis er das Hauptgebäudes erreichte, dass sich größer ausnahm, als sein erster Eindruck ihm weisgemacht hatte. Keine einzige Legende über Leu Hyperbor kam der Realität ansatzweise nahe. Umbra hatte kleine dunkle Kratzer an der Fassade des Palasts ausgemacht, doch während er näherkam, stellte er fest, dass es sich dabei um unzählige schmale Fenster handelte, jedes davon etwa so groß wie er. Tausende bildeten ein zierlich aussehendes Muster, dass der Fassade eine entfremdete Form aufzwang, in der man sich gerne verlor und stundenlang darauf starrte. Angekommen, bemerkte er, dass es kein Tor und keine Tür gab, um hineinzugelangen. Direkt an der Außenwand stehend, die genauso aus Platin gebaut war, wie der Boden, legte er den Kopf in den Nacken und sah an ihr hinauf. Durch den Winkel spiegelten die Sterne und der über den Palast hinwegwandernde zweigeteilte Mond darin. Ihm wurde schwindelig von der unfassbaren Höhe, sodass er die Augen nach unten richtete. Der Übergang vom Boden ins Gebäude war perfekt, als wären beide aus einem einzigen Stück Metall gefertigt worden. Ausgerechnet jetzt wurde er überwältigt von Ehrfurcht vor dem Können seiner Vorfahren. Seiner Vorfahren! Er war stolz, als Nachkomme ihre am höchsten entwickelte Stätte zu besuchen und anzubeten. Er kniete und betete zu Lux und Nox, dankte ihnen für dieses Geschenk und versuchte die Außenwand zu küssen. Sie hatte keinen Widerstand - er fiel hindurch.

 

Die Bibliothek war ein Wunder im Wunder. Die meisten Bücher waren nicht physisch da, sondern nur in Geistform vorhanden. Er wischte mit der Hand und die Seiten bewegten sich wie von selbst fort, während er die Texte durchsah. Umbra konnte sie freilich nicht lesen, aber eines der Bücher war eine Lehrschrift, um die Lettern zu erlernen. Das Innere setzte der Großartigkeit des Palastes die Krone auf. Wenn er nach oben sah, blickte er auf den Sternenhimmel, als wäre er draußen. Die Wände waren von innen nach außen durchsichtig, sodass er einen Rundumblick hatte. Die Bibliothek, in der er saß, war eine Halle, vollgestopft mit Wissen, dreißig Meter hoch und jedes Stück der Wand - mit Ausnahme eben jener Außenwand - belegt mit größeren und kleineren Büchern, die alle in Leder oder etwas ähnlichem eingebunden. Sie sahen abgenutzt aus. Er hatte eins hervorgeholt und festgestellt, dass es unsauber beschrieben war. Auf jeder Seite waren dutzende Schriftzeichen durchgestrichen oder verkritzelt. Es sah aus, als ob der Autor Fehler unschön korrigiert hatte. Merkwürdig war, dass viele Texte in den Büchern so aussahen. So als hätten ihre Schöpfer schnell etwas niedergeschrieben, bevor sie es vergaßen. Wie zum Beispiel einen Traum? Waren das hier Traumtagebücher? Wie gerne wüsste er es. Aber Umbra war nicht hier, um zu stöbern, er suchte etwas, oder sollte etwas sehen und erkennen. Er war sich nur nicht sicher, was das war. Er verließ schweren Herzens die Bibliothek, um den Rest des Palasts zu erkunden. Was er erstaunlich fand, war, dass sich die Türen wie öffneten, sobald er sich ihnen näherte. Ein paar lösten sich sogar auf und gaben den Blick in dahinterliegende Säle und Räume frei. Einmal fuhr eine dünne Lichtlinie über ihn hinweg, erst danach öffnete sich eine der Türen. Bei einer anderen geschah dasselbe und sie öffnete sich nicht für ihn. Es war unmöglich, alles zu begreifen und zu beschreiben, was er vorfand. Dabei verfestigte sich die ohnehin tiefe Überzeugung, wie machtvoll die Erbauer gewesen waren. Warum hatte er nicht schon damals gelebt, als dieser Ort von tausenden seines Volkes bewohnt worden war? Die Frage erübrigte sich, als er einen weiteren Raum relativ im Zentrum des Palasts betrat, der durch eine verstärkte Tür geschützt wurde. Als er ihn betrat und von allen Seiten diffuses Licht den Raum erleuchtete, blieb er stehen, weil er kaum glaubte, was er entdeckte. Es war der Raum, in dem er sich in der fremden Erinnerung befunden hatte, als die göttliche Frau ihm einen Befehl erteilt hatte. Der Thron war derselbe! Der Sitz, auf dem er gesessen hatte, war gleich ausgerichtet zu ihr. Das war keine fremde Erinnerung gewesen. Es war seine! Er hatte während der Urzeit der Hyperboreer gelebt, war Teil ihres Volkes gewesen. Dass er hier war und überall Zugang hatte, war kein Zufall. Er hatte sogar unter ihnen einen höheren Status gehabt und der Gottkönigin direkt gedient.

Umbra verließ den Raum wieder und hatte Gänsehaut. Er hatte der ihr nicht nur gedient, er war selbst einer gewesen. Seine Abstammung war übernatürlich. Er war dazu bestimmt, nach Hause zurückzugehen und nicht nur ein Werwolf zu werden, was er sich immer erträumt hatte, sondern sie und alle anderen zu beherrschen. Das muss der Sinn sein, der ihn hierhergeführt hatte. Gedankenverloren schlenderte Umbra die unendlich langen Gänge entlang und passierte eine Unzahl an Räumen, Quartieren und öffentlichen Orten. Zum Schluss erreichte er ein Atrium. Der Ort, der unter der großen Palastkuppel war. Von außen hatte er gesehen, wie etwas darunter rotierte. Jetzt wusste er, was es war. Ein Stern, der in allen Farben strahlte. Sogar in welchen, die keiner bisher gesehen hatte. Er stand dem Göttlichen gegenüber, einem Funken von Lux selbst. Er war rund wie eine perfekte Kugel, vermutlich die perfekteste der ganzen Welt. Durch das Farbspiel wirkte es, als sei etwas darin gefangen und versuchte, hinauszugelangen. Und obwohl Umbra ihn direkt ansah und betrachtete, wurde er das Gefühl nicht los, dass er zugleich durch ihn hindurchsah, als sei er gar nicht da. Der Stern war von einer begehbaren, kreisrunden Reling umgeben, die über eine Metalltreppe einige Stockwerke höher zu erreichen war. Genau genommen dreißig, denn er brauchte eine Weile, um die richtigen Gänge und weitere Treppen zu finden. Zum Glück blieb keine der Türen verschlossen, obwohl die letzte einen Moment benötigte, um ihm den weg freizumachen. Sie war massiver als jedes Stadttor, das er je passiert hatte. Umbra war sicher, dass keine Kanonenkugel diese Tür nur angekratzt hätte. Jetzt stand er direkt unter dem Stern. Seltsam war, dass er aus nächster Nähe nicht so kräftig strahlte wie in der Entfernung. Er war sogar eher dumpf und kraftlos, dabei trotzdem unendlich schön und einzigartig. Er kniete wieder nieder, senkte den Blick und zeichnete das Zeichen des Lux und des Nox in die Luft vor sich. Er wusste ja nicht, ob sich nicht doch einer von beiden oder sogar beide im Stern aufhielten und ihn beobachteten, oder ob sie nicht zu ihm geworden waren. Das hielt ihn nicht davon ab zu tun, wofür er hergekommen war. Er plante, ihn zu berühren, um hoffentlich einen Teil der Kraft zu erhalten. Seine Aufgabe war es, Macht zu sammeln. Sie bildete die Grundlage für alles, was kam. Ohne sie schaffte er niemals, was er sich erträumte. Zu einem Werwolf zu werden. Er stellte sich auf die Reling, das metallene Geräusch hallte im Atrium unter ihm wider. Einen Moment lang fürchtete er, dass jemand kam und ihn aufhielt, weshalb er sich umsah. Da war niemand. Er war alleine. Er blickte empor. Die Oberfläche des Sterns war so nahe nicht mehr leuchtend, sondern überwog in dunklen Pastellfarben, die einander schimmernd abwechselten. Er streckte den Arm aus und hielt inne. Kleine Blitze entluden sich zwischen seiner Hand und dem Stern, als nur wenige Zentimeter zwischen ihnen waren. Umbra erwartete einen Widerstand, aber wie bei der Außenwand des Palasts war die Oberfläche durchlässig, als ob sie überhaupt nicht da war. Es war dasselbe Gefühl wie in dem Moment, als er durch die Wand ins Innere des Palasts gelangt war. Als würde er sich durch kaltes Wasser bewegen. Er zog sie zurück und streckte sie erneut hindurch. Angenehm und anregend, nicht von dieser Welt. Er war der erste Mann, der einen Stern berührte. Aber was war in seinem Innern? Es war gefährlich, aber er kletterte hoch auf das Geländer der Reling. Er stand unsicher, ein falscher Schritt, etwas Straucheln und er fiel das Atrium hinab und klatschte auf dem Boden wie eine Frucht, die aufplatzte. Er schwitzte, atmete aufgeregt, fasst Mut und streckte den Kopf hinein.

Nichts war so, wie es schien. Das war es nie. Seine Vorfahren hatten etwas gefangen und hier in ihrem größten Bauwerk eingesperrt. Aber es war kein Gott und kein Stern. Er war Schwärze in ihrer reinsten Form. Nicht das Böse und Niederträchtige, sondern pure Schwärze, ohne Gesinnung, die alles aufsog und verschlang. Zerstörung. Niedergang. Kaum dass er den Kopf durch die Oberfläche hindurchgestreckt und aufgesehen hatte, betrachtete er das Herz der Finsternis inmitten eines strahlenden Objektes. Die Sage um das schwarze Herz Shardiks kam ihm in den Sinn. Kein Wunder, dass die Hyperboreer einen fast alles vernichtenden Krieg untereinander geführt hatten. Nicht Mal eine Sekunde Zeit erhielt er, da zog die Schwärze ihn gnadenlos empor und in sich hinein. Er wurde auseinandergezogen in eine unendlich lange und dünne Linie! Schmerzen gab es in diesem Stadium nicht mehr, nur lautlose Schreie, die genauso angezogen und verschlungen wurden, wie alles von ihm. Nicht einmal Licht entkam der massiven Schwärze. Angst! So viel Angst! Dunkelheit und Dumpfheit umgab ihn. Er schloss die Augen, was aber keinen Unterschied machte, zumal er sich nicht sicher war, ob er noch welche hatte. Er entschied sich für das Gegenteil und öffnete sie. Vor sich sah er Dollema.

Sie war tot. Seine Mutter. Dollema saß in ihrem Stuhl, der Tee stand neben ihr, daneben ein Teller mit etwas Gebäck. Nur dass er schon längst verfault und von Insekten zerfressen war, so wie sie selbst. Ihr Haus war in schlechtem Zustand. Überall waren Spinnweben, Staub, Schädlinge. Hatte er die ganze Zeit hier gesessen? Wie viel Zeit war vergangen? Er hatte nur wenige Stunden auf Leu Hyperbor verbracht, aber Dollemas Leichnam, den Umbra zuerst nicht erkannte, sah aus, als wäre er Monate alt. Als er aufstehen und sie mit einer Decke bedecken wollte, die aufwendig geknüpft und einmal wert gewesen, jetzt aber löchrig und der Stoff verzogen war, fiel etwas von seinem Schoß zu Boden. Ein Schlüssel. Sie musste ihn auf ihn gelegt haben, bevor sie gestorben war. Als er nach ihm griff, schoss der Schlüssel durch die Luft seiner Hand entgegen und landete darin, als sei sie magnetisch. Umbra war so überrascht, dass er den Schlüssel zuerst aufschreiend und auf den Hintern fallend wegschmiss und er neben Dollema auf dem Boden landete. Er erhob sich langsam und betrachtete ihn, erkannte aber nichts Ungewöhnliches daran. Es war ein normaler Schlüssel für eine Kleidertruhe. Er sah zu Dollema, deren Kopf zur Seite gefallen war. Nur wenige Sehnen, die vertrocknete Haut und ihre Kleidung hielten ihn davon ab, herunterzufallen. Ihre Miene war zu einer hämischen Fratze verzogen, so als lachte sie ihn aus für seine Schreckhaftigkeit. Auf ungünstige Art fühlte er sich nicht ernst genommen - von einer Toten. Ächzend bückte er sich, um den Schlüssel aufzuheben. Sein Körper fühlte sich an, als habe er eine Ewigkeit nicht bewegt, und wäre zu Stein geworden. Sobald er den Schlüssel ergreifen wollte, schoss der ihm wieder entgegen in seine Handfläche hinein. Dieses Mal schmiss er ihn nicht weg, obgleich er erschrak. Umbra erwartete, dass ihm etwas zustieß, er bei der Berührung umfiel und starb. Nichts dergleichen. Er sah sich den Schlüssel an. Nein, an ihm war überhaupt nichts besonderes. Er war stinknormal. Warum flog er durch die Luft, sobald er den Arm hob? Er überlegte einen Moment, bis ihm ein verrückter Gedanke kam, dem er sofort nachging. Er warf der Schlüssel wieder fort auf die andere Seite des Raums, irgendwohin, wo er ihn nicht mehr sah. Er hörte ihn klimpern, dann war er unter einem schwer aussehenden Schrank verschwunden, der seine besten Jahre schon lange hinter sich gebracht hatte. Der Schlüssel flog nicht zu ihm zurück. Umbra hob den Arm, nichts passierte. Er richtete die Hand aus. Nichts. Dann dachte er daran, dass er den Schlüssel in die Hand nahm. Sofort klapperte und klimperte es unter den Schrank und er kam ein drittes Mal auf ihn zugeflogen, in seine Handfläche hinein, mit der er ihn aufgeregt einatmend umschloss. Nicht der Schlüssel war anders, er war es! Aber, wie?

 

„So bist du zu deiner Kraft gekommen?“, fragte Agelulf und unterbrach ihn mitten in seiner Erzählung, was ihn irritiert aufblinzeln ließ. Der Werwolf war an Armen und Händen angekommen. Die Zeit war fortgeschritten, bald kamen die drei Erwählten, um für ihn miteinander zu spielen. Umbra zog verärgert die Augenbrauen zusammen, besann sich dann und antwortete: „Ich habe das schwarze Herz berührt, ja.“ - „Das schwarze Herz“, wiederholte Agelulf nachdenklich und leckte langsam über Umbras linken Arm. „Das ist doch nur eine Legende. Eine Schreckgeschichte für unartige Kinder.“ Umbra entzog ihm abrupt den Arm, verkrampfte die Hand in der Luft und tat so, als würge er ihn. Sofort griff sich Agelulf an den Hals und röchelte, bis nach wenigen Sekunden dessen Zunge seitlich aus dem Maul heraushing und er gierig nach Luft schnappte. Aber Umbra ließ es nicht zu. „Fühlt sich das nach Legende und Schreckgeschichte an?“, fragte er. Agelulfs Augen quollen hervor. „Aber du hast recht. Vielleicht war es nicht Shardiks schwarzes Herz. Aber etwas hat mir verliehen, womit ich euch manipuliere und töte, wenn ihr mir nicht mehr nützlich seid.“ Er ließ ihn los, Agelulf atmete erstaunlich ruhig und tief ein, dafür, dass er fast erstickt war. Wieder ein Beweis für ihn wie faszinierend er war. „Soll ich mit dir schlafen?“, fragte er, worauf Umbra einen Moment überrumpelt starrte und dann laut geifernd lachte. Es dauerte eine Minute, bis er sich wieder im Griff hatte und antwortete: „Mit mir schlafen?“ Er verschluckte sich und hustete. „Willst du, dass ich dir meinen Schwanz hinten reinschiebe und abspritze, damit du einen Teil dessen erhältst, was ich habe?“ Agelulf legte den Kopf leicht schief und antwortete: „So ungefähr.“ Nicht nur faszinierend, sondern sogar amüsant. Genau deshalb bevorzugte Umbra den verrückten Wolf. Er kicherte in sich hinein. „Nein, so funktioniert das nicht. Abgesehen davon, habe ich kein Interesse an dir, oder irgendjemandem sonst“, sagte er. „Du hast nur Interesse an den Menhiren und an deiner Verwandlung, oder?“ Es war das erste Mal, dass einer von ihnen seinen Plan konkret ansprach. Umbra war sich sicher gewesen, dass die anderen Stümper nicht wussten, was er vorhatte. „Ja, das stimmt. Alles andere ist mir egal. Eure Leben, die Leben Fremder, Reichtum, Sex, Partnerschaft. Was bringt das einem, wenn man im falschen Körper geboren wurde? Einem, der auf denkbar schlechteste Art altert und gebrechlich wird? Einem, mit dem ich mich nicht verbunden fühle. In mir sind mehrere Wesen. Keins davon ist menschlich. Ein paar sind Leoniden, Pardiden, Hyena. Andere sind nur zu Besuch in mir und beobachten mich entweder, oder sehen durch mich die Welt, in der ich mich bewege und die sie selbst nicht betreten können. Das präsenteste Wesen von allen ist einer von euch, Agelulf. Deshalb will ich - muss ich mich verwandeln. Ich behandle die Welt genauso herablassend, wie sie mich behandelt. Anders klappt es nicht.“ Warum war er so redselig? Jetzt, als er darüber nachdachte, war ihm seine Offenheit unangenehm. „Und die Menhire?“, hakte er nach. Umbra erhob sich ächzend. „Du wirst langsam lästig mit deinen Fragen“, sagte er. „Es bringt nichts, dir das zu erklären. Du würdest es nicht verstehen.“ - „Warum nicht?“ - „Weißt du, was die Técne ist?“, fragte Umbra. Selbstredend wusste Agelulf das nicht. Der schüttelte den Kopf. „Das ist das Wort, mit dem meine Vorfahren ihre hohe Entwicklung beschrieben. Alles Mechanische, das sie erschufen. Auch heute verwenden wir Técne. Vor allem die Menschen. Aber eine primitive Form. Wenn sie hoch genug entwickelt ist, ist sie von Magie nicht mehr zu unterscheiden. Das Ritual der Menhire ist für dich Magie und Zauberei, für mich ist es etwas anderes.“ - „Etwas, das du beeinflusst?“, riet Agelulf ins Blaue. Umbras Mundwinkel kletterten empor, er nickte. „So ist es. Etwas, das nur ich beeinflusse, weil es sonst niemanden mehr gibt, auf den die Técne hört. Dazu braucht es jemanden vom alten Volk.“ Er fragte sich, ob Agelulf verstand, was für ein wichtiges Geheimnis er ihm anvertraute. Er enttäuschte ihn nicht. „Heißt das, dass alle Magie, die es gibt, von den Alten erschaffen wurde?“, fragte Agelulf. Umbra ging an ihm vorbei und nahm sich ein bereitgelegtes Tuch, das mit Blumenduft versetzt war. So gerne er sich baden ließ, roch er am Ende nach Wolfspeichel, der manchmal erbärmlich stank. Indem er sich mit dem Tuch einrieb, duftete er danach angenehm. Heute nach Lilie. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, lächelte ihn schief an und sagte: „Na ja, ob alles davon auf die Alten zurückgeht, weiß ich nicht. Aber das, was ich beherrsche, ist keine Magie in dem Sinne.“ Es klopfte hämmernd an der Tür. Sie waren da. Gwlulf, Andrigg und Dommarbjor. „Willst du mehr hören?“, frage Umbra und hieß Agelulf, die Tür zu öffnen. Der schüttelte den Kopf. „Ich kann mir zusammenreimen, was danach passiert ist“, sagte er und ließ seine Geschwister eintreten. „Ach, ja?“, wunderte sich Umbra. „Du hast gelernt, mit deiner neuen Macht umzugehen. Mehr muss ich nicht wissen. Alles andere ist unwichtig.“ Umbra nickte und pflichtete ihm bei: „Stimmt, es ist irrelevant für dich. Offen gesprochen, hatte ich keine Lust mehr, weiterzuerzählen.“ Das war gelogen, er bedauerte, dass er nicht mehr offenbaren durfte. Es hatte seiner Seele gutgetan, jemandem von seinen Lebensweg zu erzählen. Andererseits wartete eine niedliche kleine Abwechslung auf ihn. „Willst du, dass ich bleibe?“, fragte Agelulf, nachdem die anderen Drei eingetreten waren und sich vorbereiteten. Dommarbjor und Andrigg kannten den Ablauf. Für Gwlulf war es neu, weswegen er eingeschüchtert war. „Ein wenig Hilfe schadet nicht“, sagte Umbra und wies Agelulf auf Gwlulf hin. Der nahm sich seiner sofort an.

Nur Minuten später sah Umbra sich einen Knäuel aus Fell, Klauen, Armen und Beinen an, der unlautere Geräusche von sich gab, gelegentlich durchbrochen von Knurren und Winseln. Er empfand es als innerlich äußerst befriedigend, wie Dommarbjor, von dem er Jahre zuvor erniedrigt und fortgeschickt worden war, heute von seinem eigenen Sohn zweiten Grades begattet wurde. Gwlulf behandelte seinen Vater dabei temperamentvoller, als Umbra erwartet hatte. Der Junge war erst fünfzehn Sommer alt, gerade ausgewachsen und entdeckte seinen Körper noch. Dommarbjor verzog bisweilen schmerzvoll das Gesicht, während er seinerseits Andrigg bestieg, die das Gewicht beider ertrug. Umbra empfand Lust und onanierte währenddessen. Nicht der sexuellen Spannung wegen, sondern durch die Erniedrigung, die er anderen zufügte. Es hieß, dass Rache am besten heiß serviert wurde. Oder war es kalt? Egal. Es war die Rache, die ihn erregte. „Fühlst du dich nicht gekränkt?“, fragte er Agelulf, der neben mir ihm hockte und nicht auf seine Leute, sondern nur auf ihn achtete. Gerne hätte er ihn verärgert gesehen, aber der Werwolf war erstaunlich resilient gegenüber mentalen Angriffen. „Nein. Dafür erinnerst du mich an jemanden“, antwortete der und sah weg, als er Umbras forschenden Blick bemerkte. „An deinen Jungen? Erlik?“, riet er. Als Agelulf nichts sagte, fühlte er sich bestätigt. Umbra ging nicht weiter darauf ein, es war der falsche Moment für Sentimentalitäten. Das bemerkte Agelulf, erhob sich und scharwenzelte zu Andrigg, Dommarbjor und Gwlulf. Er befeuchtete zwei Finger, indem er sie ableckte, dann nahm er Gwlulfs Schwanz, hob ihn hoch und führte sie in dessen Anus ein. Der junge Werwolf war derart überrascht, dass er drei-, viermal grollend zustieß und Dommarbjor befüllte, der wiederum zu Umbras Erstaunen seinerseits den Höhepunkt erreichte und Andrigg beglückte. Dir hingegen blieb still. Umbra klatschte in die Hände und rief laut auflachend: „Das ist die beste Antwort auf meine Frage gewesen!“ Agelulf zog die Finger aus Gwlulf heraus und grinste ihn niederträchtig an. „Das war doch gar nichts“, sagte er. „Ich wollte es nicht soweit kommen lassen. Jetzt stecken die drei aneinander und kommen nicht fort“, meinte Umbra. Agelulf nickte. „Wolltest du das nicht? Der Sohn steckt im Vater fest, und der in seiner Schwester.“ Umbra horchte auf. „Schwester?“, fragte er wunderlich. Er näherte sich den Dreien. „Dommarbjor! Warum hast du das nie erwähnt?“ Der ältere Werwolf sah ihn hasserfüllt an und antwortete: „Ich dachte nicht, dass es wichtig ist.“ Umbra schüttelte den Kopf. „Du dachtest? Dazu bist du nicht in der Lage, mein Guter. Aber hätte ich das gewusst, hätte ich schon früher eine Inzest-Feier veranstaltet.“ Weder Dommarbjor noch Andrigg oder Gwlulf sagten etwas. Wobei Gwlulf zufrieden wirkte, seinem Blick nach zu urteilen. „Du!“, sagte Umbra und zeigte auf ihn. Er erschrak, versuchte aufzustehen und verursachte seinem Vater und sich selbst schreckliche Schmerzen, da sein Glied geschwollen war und er es nicht herausziehen konnte. Knurrend bellte Dommarbjor ihn an, bewegte sich seinerseits und zog Andrig mit sich, an der er gleichsam hing. Letztere jaulte auf und biss ihm warnend in die Schulter. Das nahm Dommarbjor instinktiv zum Anlass, sie anzugreifen. Er verbiss sich ihn ihrem Hals. Der Moment war nicht so brutal, wie Umbra erwartet hätte. Andrigg wehrte sich nur wenig, röchelte ein paar Augenblicke und erschlaffte dann, ihre Augen wurden leer. Blut sammelte sich auf dem Boden. Sie war tot. Dommarbjor hatte ihre Kehle und Luftröhre erwischt.

Umbra schüttelte den Kopf. „Was für eine Sauerei“, kommentierte er. „Dabei wollte ich dir nur sagen, dass du von heute an jedem Abend gerufen wirst“, sagte er zu Gwlulf, der verdattert zu Boden starrte. „Tja, jetzt ist stattdessen deine Tante hin. So ein Pech. Ich hätte gerne gesehen, wie du sie deckst.“ Er zuckte mit den Schultern. „Was soll’s, du hast andere Verwandte neben deinem Vater.“ Er wandte sich Agelulf zu. „Folge mir. Ich will dir etwas zeigen“, sagte er, Agelulf folgte ihm in gebührendem Abstand. Die tote Andrigg, Dommarbjor und Gwlulf blieben zurück. Sie waren in der nächsten halben Stunde dazu verdammt, aneinanderzuhaften. Solange dauerte es in etwa, bis ihre Glieder abschwollen. Umbra öffnete die hinterste Tür im kurzen Gang und schritt hindurch. Trotz eines großen Fensters war der Raum drückend und kaum erhellt, weil zu viele Möbel darin standen, die das Licht verschluckten. Hier befand sich auffällig die Truhe, für die Dollema ihm den Schlüssel hinterlassen hatte. Den hatte er immer bei sich. Damals, als er sie zum ersten Mal geöffnet hatte, stellte er fest, dass sie innen mit Metall ausgekleidet war. Platin. Sie war ein seltenes Relikt der Hyperboreer, die ihre größten Geheimnisse für ihre Nachfahren darin eingeschlossen hatten, um sie vor dem Zahn der Zeit zu schützen. Alles, was wichtig war. Einige Bücher, Geräte, merkwürdige Utensilien. Vor allem ein Gegenstand darin war wichtig. Unscheinbar und in bröckelndes, ausgetrocknetes Leder eingebunden, uralt, die Seiten fielen langsam auseinander. Es war versehen mit einem undeutlichen Familienwappen, das eine Eule und einen Grimmwolf zeigte. Agelulf folgte ihm und trat ein. Er war so groß und massig, dass er kaum durch die Tür passte. „Alles, was geschieht, ist schon einmal geschehen und wird eines Tages wieder geschehen“, sagte Umbra auf und begegnete genau dem Gesicht, das er erwartet hatte. Agelulfs Miene wurde zu Granit. Seine Augen wechselten in schneller Folge zwischen mehreren Farben. Zwar wusste der Werwolf einiges und war sich seiner selbst sicher, aber das hier hatte er nicht erwartet. „Du kennst diese Worte. Aber nicht von mir.“ Er wandte sich der Truhe zu, nahm den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss, das er drehte, um so die entropische Grenze aufzulösen, die zwischen dem Innern der Truhe und allem außerhalb lag, um die Utensilien vor zu schnellem Verfall durch die Zeitgezeiten zu schützen. Es klickte, dann öffnete er sie und nahm das kleine Büchlein vorsichtig mit beiden Händen heraus. Er legte es auf seinen Schreibtisch, wo es von der Sonne angestrahlt wurde. „Woher hast du das?“, fragte Agelulf dunkel grollend. „Von meiner Mutter“, antwortete Umbra wahrheitsgemäß. „Und die hat es von ihrer Mutter, und die von ihrem Vater. Und so weiter.“ Agelulf trat näher heran, begutachtete die kleine Schriftsammlung und sog den Geruch ein. „Es riecht nach ihm, oder?“, fragte er, Agelulf nickte kaum merklich. „Ist es etwa ...?“ Er wagte nicht, die Frage zu beenden. „Ja, ist es. Das ist das Traumtagebuch deines Jungen. Meine Vorfahren haben es vor langer Zeit gefunden und ihre Schlüsse daraus gezogen. Es ist eins der Artefakte, die sie überhaupt so mächtig werden ließen. Deshalb ist es in der Truhe aufbewahrt worden. Damit es seine Bestimmung erfüllt und den Weg abschließt, den es vor langer Zeit angetreten hat“, erklärte er. Obwohl er wusste, dass Agelulf all das wissen müsste, schien der erstaunlich unwissend. „Hast du es gelesen?“, fragte der. Umbra lachte auf. „Sicherlich! Aber du hast einen Vorteil mir gegenüber“, meinte er. Sie belauerten einander. Ein nonverbaler Kampf, der zeigte, wie viel Kenntnis Agelulf hatte - und wovon er keine Ahnung. „Welchen?“, fragte der. Umbra sah ihn triumphierend an, Lachfalten zeigten sich deutlich in seinen Mundwinkeln. Nur wenn sie anhoben, sahen andere ihm das höhere Alter an. „Die Seiten sind, obwohl gut erhalten, teilweise zerfallen. Nach so langer Zeit nicht ungewöhnlich, trotzdem ärgerlich. Ich habe keine Kenntnis über gewisse, wichtige Details. Davon abgesehen würde es mich nicht wundern, wenn sich dieses Exemplar, und das, das du erhalten hast, voneinander unterscheiden.“ - „Wie kommst du darauf?“, fragte Agelulf und ließ die Maske des Wissenden endlich fallen. Er hatte erkannt, dass es ihm mehr nützte, wenn er mit offenen Karten spielte. „Du enttäuschst mich ein wenig, Agelulf. Ist Okka nicht ein Teil von dir? Dann müsstest du wissen, dass, je öfter sich derselbe Ablauf wiederholt, es zu Unterschieden in jedem neuen kommt. Alles, was geschieht, ist schon einmal geschehen, und wird wieder geschehen. Aber nicht auf genau dieselbe Weise. Oder willst du mir sagen, dass alles, was Erlik in deinem Traumtagebuch aufgeschrieben hat, genau so eingetroffen ist?“ Agelulf schüttelte langsam den Kopf. Umbra nickte. „Das dachte ich mir. Die Ereignisse, die er erträumt hat, zeigen Abläufe, wie sie im nächsten Ablauf stattfinden werden. Dem, was du Alternative nennst, oder Parallele. Dann wird es so geschehen, wie du es erfahren hast. Aber alles, was jetzt geschieht, steht in meinem Traumtagebuch.“ Eine schwere Stille entstand, in der Agelulf vorsichtig das Büchlein öffnete und ein paar Seiten begutachtete. Eine davon zerfiel, als er sie umblätterte. Er zog sofort die Klaue zurück. „Das macht nichts“, sagte Umbra. „Es ist bald am Ende seiner Reise angelangt und wird vernichtet werden.“ - „Wie alt ist es?“, fragte er. Das war die dümmste und zugleich klügste Frage, die er stellte. Umbra zuckte mit den Achseln. „Um das zu beantworten, müsste ich wissen, wie alt unsere Welt. Zehntausend, hunderttausend, hundertmillionen Jahre? Mehr? Ich weiß es nicht. Unsere Welt hat schonmal existiert und ist vergangen. Sie wird lange existieren, nachdem wir weg sind und erst dann vergehen. In gewisser Weise hat es schon immer existiert.“ Agelulf wurde sichtlich unangenehm zumute und er fletschte seine Zähne. „Warum zeigst du es mir?“ Umbra ballte die Faust und schlug zu. Agelulf flog durch die Tür zurück in den Gang, wobei der Türsturz zerbarst. „Hast du es nicht verstanden?“, fragte er, war schnell bei ihm und schlug nochmal zu, sodass Agelulf gegen die Wand aus dickem Eichenholz prallte. Der prustete und spuckte eine Blutfontäne, die Umbra frontal traf, an der er sich aber nicht störte. „Ich weiß alles, Agelulf. Ich weiß, wer du bist und was du vorhast. Mit mir. Die Verwandlung zum Werwolf, zu einem von euch - denkst du wirklich, ich bin so naiv, zu glauben, dass ich ein paar Steine aufstelle, mit den Händen in der Luft wedele und schon verwandle ich mich zu einem von euch?“ Agelulf hielt sich stöhnend den Bauch und ging in die Knie. Ein paar seiner Rippen hatte Umbra gebrochen. Er seufzte, nahm ihn und zog ihn zurück ins Zimmer, oder eher schmiss er ihn hinein. „Du bist ein Geprügelter, mein Bester. Zurecht, wenn man bedenkt, was du alles anstellst, um deinen Jungen an dich zu binden. Dafür verdienst du weit mehr Schmerzen. Aber nicht von mir.“

Er schnippte mit den Fingern und schon stand Agelulf wieder auf den Beinen. Weil er sich nicht eigenständig aufrecht hielt, beließ er die Hand erhoben. Wie eine Puppe hing er in der Luft. Umbra hatte das feine, unsichtbare Geflecht im Äther entdeckt, kurz nachdem er aus Leu Hyperbor mit seiner neuen Kraft zurückgekehrt war. Wie feine Spinnenfäden, mit denen sich alles und jeder kontrollieren ließ, wenn er an den richtigen zog. Jetzt hatte er vier um seine Finger umwickelt. Er sah sie, wenn er wollte. Agelulf war in einem Kokon gefangen, der ihn festzurrte, sodass er nicht nur aufrecht stand, sondern auch nicht fortkonnte. Selbst dann nicht, wenn er alle Kraft eingesetzt hätte. Er trat an ihn heran. Seine Augen waren zu Gold geworden. „Die traurige Wahrheit ist, dass ich mich nicht in einen Werwolf verwandeln werde“, flüsterte er. „Die Realität ist, dass der einzige Weg, einer zu werden, der ist, dir mein Herz zu schenken, damit du es frisst und ich ein Teil von dir und den anderen werde.“ Er zog an einem weiteren Faden, der mit Agelulfs Physis verbunden war. Dessen gebrochene Rippen knackten ekelerregend, dafür waren sie wieder dort, wo sie sein sollten, und drückten nicht mehr in die verletzte Lunge. Er reparierte den Schaden, den er angerichtet hatte, so weit wie möglich. Ein Heiler war er nicht. Die inneren Wunden mussten alleine regenerieren, was für Agelulf aber kein Problem war. Er ließ die Fäden los, gleich darauf fiel Agelulf zu Boden, röchelte und spuckte wieder Blut. Nach etwa einer Minute der stillen Qual fragte er: „Wie soll ich dir das Herz nehmen, wenn du keins mehr hast?“ - „Du hast es bemerkt? Schlauer Wolf! Die anderen wissen es zwar, aber keiner traut sich, mich darauf anzusprechen.“ Umbra knöpfte sein leichtes Obergewand auf, das er nach dem Baden angezogen hatte. „Andererseits muss es verwirrend für euch sein, jemandem zu begegnen, dessen Herzschlag ihr nicht hört.“ Nachdem oberkörperfrei sagte er: „Nichts ist so, wie es scheint, fast alles ist nur Lug und Trug für die Augen. Aber das reicht meistens, um andere zu verblenden.“ Er zog an einem Faden des Äthergeflechts und ließ den Schleier fallen. Agelulf vergaß darüber seine Schmerzen und zu atmen. „Es sieht schmerzhafter aus, als es ist. Sieh es dir genau an. Das gehört ebenso zu den Errungenschaften meiner Vorfahren, wie die Kraft, die ich geerbt habe.“ Die Tarnung verschwand und gab den Blick auf die Wirklichkeit frei. Ein etwa zwanzig Zentimeter großes Loch klaffte an der Stelle auf seiner Brust, wo sein Herz sein müsste. Daraus traten Venen, Blutgefäße und Schlagadern hervor, die an den Rändern entlang wuchsen und gleichmäßig pulsierten. Aber von einem Herz keine Spur. „Wo ist es? Wo hast du es versteckt?!“, fuhr Agelulf zornig auf und spannte alle Muskeln an, was nur dazu führte, dass die vergessenen Schmerzen abrupt wiederkamen, worauf er grollend stöhnte. „Halt dein Maul, besessener Kerl“, entgegnete er. „Ich plane nicht, es dir vorzuenthalten. Aber für das, was ich vorhabe, musste ich es entfernen.“ Agelulf geiferte weiter Blut, obgleich der Blutfluss dünner wurde. Umbra war fasziniert davon, wie schnell er sich erholte. Das hatte damit zu tun, wem er die Herzen gestohlen und gegessen hatte. Herzen essen war unter Werwölfen normalerweise ein gemeinsamer ritueller Akt der Stärkung und Überlegenheit. Dass einer ein Herz alleine aß, war selten. Er hatte sich von Dommarbjor erklären lassen, dass solche Werwölfe zu Berserkern wurden, die keine Schmerzen mehr kannten. Als er ihn gefragt hatte, was passierte, wenn ein Werwolf mehr als ein Herz alleine fraß, hatte der ihn angestarrt, als sei er verrückt, und geantwortet, dass es nie einen Werwolf gegeben hatte, der zwei Herzen auf einmal fraß. Auch nicht über einen größeren Zeitraum. Agelulf war die Antwort, die Umbra von Dommarbjor nicht bekommen hatte. Aber mit den Herzen hatte er mehr aufgenommen, als nur die Kraft und Stärke derer, von denen er sie hatte. „Wenn du alles weißt, dann auch, dass es mir gehört!“, keifte Agelulf. Umbra verzog das Gesicht. „Warum so wütend? Habe ich etwa deinen Plan durcheinandergebracht? Dabei ist an Stelle meines Herzens etwas Wertvolleres. Kann ich dich damit nicht locken?“, fragte er, griff in das Loch in seiner Brust und nahm hervor, was nicht sichtbar war. Oder eher dadurch sichtbar wurde, weil es alles Sichtbare verschluckte und in Schwärze tauchte. Agelulfs Fell sträubte sich, die geringe Helligkeit des Raumes verdüsterte sich in kaltes Zwielicht. „Was ist das?“, fragte er. „Ein Teil des Teils, der anfangs alles war. Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar“, rezitierte er ein paar Verse aus einer alten Tragödie. „Ist es nicht das, was du suchst? Wenn du den Angeshraël hervorbringst, brauchst du es.“ Agelulf beruhigte sich etwas. Seine Augen wechselten die Farbe, goldgelb. „Hat Dollema so überlebt? Mit diesem Ding?“, fragte er. Umbra funkelte ihn an, vollführte eine schnelle Handbewegung und brach ihm Ring- und Mittelfinger der rechten Klaue. Er bellte auf und hielt sie mit der anderen Klaue fest, sah ihn verachtenswert an und knurrte bedrohlich. „Nenn nie mehr ihren Namen. Du bist dessen nicht würdig“, warnte er ihn und antwortete: „Ja, das hat sie am Leben erhalten.“ - „Wieso?“, fragte Agelulf. „Es überrascht mich nicht, dass du fragst. Erlik hat einiges in sein Traumtagebuch geschrieben. Aber alles konnte er nicht erfassen. Es ist unsere Bürde. Unser Opfer als Nachkommen. Wie geben unser Herz und leben danach ein Leben, das keines mehr ist. Unsere Herzen aber geben den Takt der Welt vor. Ihren Rhythmus. Was denkst du, gibt den Gezeiten des Meeres ihr Gleichmaß? Was vermutest du, sorgt dafür, dass die Jahreszeiten wechseln und immer wieder wechseln? Du nennst das Natur? Unwissenheit ist eine Gnade! Es sind die Rhythmen der uralten Herzen meiner Vorfahren, die in der Erde, in den Meeren, Bergen, Wüsten, Wäldern und so vielen anderen Dingen, seit Urzeiten schlagen, um das Gleichgewicht und die Stabilität aufrechtzuerhalten. Wenn sie aufhören, versinkt unsere Welt in Chaos und geht unter. Denn was keiner weiß, ist, dass sie schon längst gestorben sein sollte. Die Welt ist eine untote Dame, die lebt, obwohl sie es nicht mehr lebt. So mächtig waren sie, die meine Vorfahren waren! Sie haben einer toten Welt das untote Leben aufgezwungen, obwohl sie selbst schon lange vergangen sind.“ – „Wie bei Shardiks Herz? Was bezweckst du damit?“, fragte er. „Du begreifst es nicht“, sagte Umbra enttäuscht. „Ich bin deinem Jungen unendlich ähnlich. In gewisser Weise seine ältere Version. Aber zugleich bin ich anders. Ich bin ich selbst geblieben. In Erliks Tagebuch habe ich denselben Schmerz gefunden, der mich auch belastet. Dieselbe Suche nach dem Etwas, der Einigkeit, der Vollendung. Ich bin eifersüchtig, Agelulf! Alles an dir, was du planst, was du vorhast, wie du dich verhältst, dreht sich am Ende nur um ihn. Ich wünschte, ich hätte jemanden, der alles auf sich nimmt, damit ich da stehe, wo ich jetzt bin. Aber so viel wert bin ich nicht. Ich bin nur der Teil eines Teils, der sich mit anderen Teilen zusammenfügt.“ Er nahm die Schwärze in der Hand und fügte sie der Mechanik wieder zu, die seinen Körper am Leben erhielt. „Am Ende sind wir alle nur Teil von etwas anderem. Du aber willst einen Schlusspunkt erschaffen, auf den keiner mehr folgt. Aus Verehrung, aus Liebe. Du bist so verrückt, wie du weise bist. Beides geht Hand in Hand miteinander. Mit dem, was du vorhast, werden alle Herzen der Welt für einen kurzen Moment stillstehen und angespannt warten, bevor sie weiter den Takt vorgeben. Manche werden aufhören, das wird ein Umbruch.“ Agelulfs Augenbrauen wanderten aufeinander zu und er taxierte Umbra skeptisch. „Du bist kompliziert“, sagte er. „Wundert dich das?“ Agelulf schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll, um dir dein Schicksal erträglicher zu machen.“ Umbra sah überrascht auf. „Mein Schicksal? Welches genau? Ein Teil von dir zu werden? Das ist mein größter Wunsch!“ - „Du hast Angst“, sagte Agelulf. Umbra stand bewegungslos da. Er war entlarvt. Nachdem er Schicht um Schicht um sich herum aufgebaut hatte, damit niemand sein Geheimnis herausfand. Aber hatte er nicht andererseits genau das ersehnt? Dass jemand kam und ihm alle Masken vom Gesicht riss? Mit nur drei einsilbigen Worten hatte Agelulf genau das getan. Ja, er war kompliziert, denn obwohl eine Hälfte in ihm froh darum war, aufzufliegen, war es die andere nicht. Aber die wichtigere Offenbarung folgte erst, als Agelulf in seine Richtung schnupperte, dabei kratzig einatmete und sagte: „Ich verstehe. Du bist kein Teil von mir. Ich bin nur der Überbringer, der dich zurückbringt. Du bist ein Teil von Erlik. Dass ich das nicht gleich bemerkt habe ...“ Umbra wurde warm. Endlich hatte es jemand verstanden. Bis jetzt war ihm selbst nicht klar gewesen, was er war. Nur, dass er nicht komplett war, hatte er immer gewusst. Aus dieser Tatsache war die Sehnsucht entstanden, die er als Nachfahre zu umarmen gelernt hatte. „Du siehst erleichtert aus“, meinte Agelulf und schnüffelte nochmal. Er war es. Er hatte alles, was er wollte. Grenzenlose Macht. Aber was nützte die, solange er nicht wusste, wozu er da war? Agelulf hatte durch die offensichtliche Feststellung seiner Existenz eine Richtung gegeben. Er hatte geglaubt, ein Teil von ihm zu werden, dabei wurde er zu einem Teil von etwas Größerem. Er war getrennt und zu früh geboren worden, und seitdem auf der verzweifelten Suche nach der Bestimmung. Das waren Details, die nicht im Traumtagebuch gestanden hatten. Er - weinte? Die Tränen waren schwarz wie die Finsternis in seiner Brust. Es war so offensichtlich, dass er es hatte übersehen müssen. Umbra, sein Name, war dasselbe Wort für Dynyol, nur in einer anderen Sprache. Beide beschrieben den Kernschatten einer Sonnen- oder Mondfinsternis sowie eine Erdfarbe. Erinnerungen überfluteten ihn. Zähne, die ihn umschlossen, ein Geräusch wie von einem Schlucken, dann wohlige Wärme und intime Dunkelheit. Gurgeln, Grummeln, ein Herzschlag. Agelulfs Herzschlag? Er sah ihn an.

Dessen Augen wurden golden. „Du bist aufgestiegen“, stellte er fest. „Lass mich dich endlich aufnehmen. Ich werde dich gut behandeln.“ Umbra lächelte. „Mein Plan ist aufgegangen. Anders als gedacht, aber er ist erfüllt. Die Menhire haben geholfen.“ Ob sie eine Wirkung hatten, wusste er nicht. Er hatte sie aus einer Ahnung heraus aufstellen lassen. Sie konzentrierten etwas in sich und durch ihre Errichtung an einen anderen Ort. Die Ätherfäden ordneten sich in ihrer Nähe neu an und schlugen weit aus. Jetzt wusste er, wohin. Eine merkwürdige Sache. Er war mit jemand anderem verbunden, den er nur einmal getroffen hatte und ihn ansonsten nicht kannte.

 

Umbra erlaubte ihm noch nicht, ihn aufzunehmen. Vorher musste er etwas erledigen. Andrigg war tot, aber Dommarbjor und Gwlulf hatten in der Zeit, in der sie aneinanderhafteten, alles mitangehört. Er fackelte nicht, zog an den unsichtbaren Fäden im Äther und brach Dommarbjor laut knackend das Genick. Gwlulf schrie überrascht auf und wurde darauf ungehalten, weil er seine Kraft nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Er versuchte, von ihm wegzuspringen, was immer noch nicht möglich war und er ihn mit sich zerrte - und Andrigg hinterher, da sie an Dommarbjor hing. Dessen Kopf rollte dabei lose hin und her, nur durch Haut und Sehnen am Körper gehalten. Umbra hatte keine Wahl gehabt. Der alte Werwolf hätte alles, was gesagt wurde, gegen ihn verwendet. Das hätte ihm nichts gebracht, da Umbras Zeit ohnehin bald um war. Aber er hatte schlicht die Nase voll von ihm. „Gwlulf!“, fuhr er den jungen Werwolf an, der ihm aber nicht zuhörte und winselnd zu fliehen versuchte. Bevor Umbra an den Ätherfäden zog, die ihn aufgehalten hätten, warf sich Agelulf auf ihn und nagelte ihn grollend und Zähne fletschend am Boden fest. „Welpe!“, fuhr er ihn an. „Welpe!“, wiederholte er dann mehrfach, bis Gwlulf sich etwas beruhigt und entspannt hatte. Er mied den Blickkontakt mit Agelulf, da er ihm überlegen war, und sah stattdessen in Umbras Richtung. Da war kein Hass oder Abscheu oder ein anderes ablehnendes Gefühl in dessen Blick. Nur Angst vor dem Tod. Sicher. Ein Junge wie er, der voller Leben strotzte und der dem Tod nicht oft begegnet war, war traumatisiert, seinen eigenen Vater ableben zu sehen, nur weil ein anderer die Hand verdrehte. Gwlulf hatte Todesangst, dessen Brust hob und senkte sich aufgebracht. Umbra brauchte nicht die Ohren eines Werwolfs, um das aufgeregt pochende Herz darin zu hören. „Dein Vater war ein grausamer Dummkopf“, sagte er tonlos. „Glaub mir, es wird dir nur zum Vorteil sein, dass er tot ist.“ Agelulf zog sich zurück und erhob sich, nachdem er sicher war, dass Gwlulf keinen weiteren Fluchtversuch wagen würde. Der sprang auf und knurrte ihn und Umbra misstrauisch an. „Willst du Rache nehmen? Gut so! Das ist es, was ich verlange“, sagte Umbra und erntete nachdenkliche Blicke von Agelulf. „Geh und versammle die anderen“, befahl er. „Wir treffen uns am Menhir der Läuterung.“ Mit einem Fingerzeig entriegelte er die Tür und öffnete sie. Gwlulf sah mit kurzem Seitenblick nach draußen, ohne sich zu bewegen. „Geh!“, bellte Agelulf, sodass er zusammenzuckte und davonstob. „Was sollte das?“, fragte er Umbra sofort danach. „Das ist falsch, so sollte es nicht sein!“ - „Manches Mal ist es besser, wenn es nicht genau so eintritt, wie erwartet. Außerdem solltest du mittlerweile wissen, dass allein die Kenntnis über den Verlauf deiner eigenen Handlungen dazu führt, dass es nicht genau gleich geschieht“, erwiderte er. „Du wirst mein Herz bald verschlingen, keine Sorge.“ Agelulf schüttelte den Kopf. „Was versuchst du hier?“, fragte er und stellte sich Umbra ihm in den Weg, als er Gwlulf nach draußen ins Refugium folgen wollte. Seine Verletzungen behinderten ihn in der Bewegung, was er aber kaum beachtete. „Eine Absicherung“, antwortete er wortkarg. Agelulf ließ ihn nicht vorbei. Umbra funkelte ihn an. Er müsste nur an einem Ätherfaden ziehen und Agelulf würde in Qualen jaulend zusammenbrechen, während sein Körper gefaltet wurde und am Ende kein Knochen mehr war, wo er hingehörte, bis er in einen Schmortopf passte. Aber das war nur eine kurze Vorstellung, die er gleich wieder vergaß. Oft half es ihm, wenn er sich den schmerzhaftesten Tod für andere vorstellte. Meistens beruhigte ihn das, nur manchmal folgten Konsequenzen. Bevor er antwortete, griff Agelulf abrupt nach Umbra und drückte ihm einen Kuss auf. Mit beiden Kiefern weit geöffnet umschloss er das Gesicht und suchte mit der Zunge seinen Mund. Das war - unerwartet. Umbra wusste nichts davon zu halten. Es war nicht unangenehm, aber für einen intimen Kuss wie diesen bevorzugte er eine Frau, keinen Mann. Küssten Werwölfe einander überhaupt? Er hatte nicht davon gehört und es im Refugium nie beobachtet. Obwohl es aufschlussreich war, bemerkte er, dass Agelulf durch den Körperkontakt nach etwas suchte. Umbra reagierte anders, als für ihn üblich. Er ließ Agelulf suchen. Das Fremde in ihm verlangte, nichts zu tun. Oder war es nur die lang erwartete Sehnsucht nach der Vollendung, die er bald erreichte? Alsbald entzog er sich dann doch, als er merkte, wie Agelulf ihn unbewusst an sich schmiegte und das überhaupt nicht wahrnahm. „Was war denn das?“, fragte Umbra, zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme. „Das müsste ich dich fragen“, entgegnete Agelulf. „Ich dachte für einen Moment, Erlik gesehen zu haben. Eben warst du ihm gleich. Du hast an etwas gedacht, nicht wahr? An Rachegedanken und Jähzorn? Er ist genauso.“ - „Aha“, entgegnete Umbra tonlos. „Obwohl wir vor ein paar Minuten feststellten, dass ich ein Teil von ihm bin, bin ich trotzdem immer noch ich“, sagte er pikiert. „Nicht mehr lange“, kommentierte Agelulf und kam dann wieder auf das Ausgangsthema zurück. „Glaubst du, es bringt dir etwas, wenn du dich ihnen zum Fraß vorwirfst? Sie werden dich verschmähen!“ Sieh an, Agelulf kannte doch mehr Details aus dem Traumwerk, als er hatte durchblicken lassen. „Sie werden mich begehren um meiner Macht willen“, hielt Umbra begeistert dagegen. „Jeder wird ein Stück von mir haben wollen.“ – „Was bringt dir das?“, fragte Agelulf. „Na, was wohl? Wenn alles, worüber wir sprachen und was wir zu wissen glauben, doch eine Lüge ist, werde ich wenigstens für immer ein Teil der Werwölfe sein, die ich verehre und verachte. Das bringt es mir“, antwortete er. Agelulf verzog das Gesicht. „Widerlich“, urteilte er. „Und du bist arrogant. Oder willst du mir weismachen, dass ihr eure Feinde nicht verspeist?“, fragte er. Agelulfs Miene versteinerte, Umbra lächelte süffisant. „Ich kenne jedes eurer kleinen dreckigen Geheimnisse. Nach außen hin spielt ihr ein ehrbares Völkchen mit einem Rudelkodex. Aber in Wahrheit seid ihr genauso verdorben, wie alle Völker. Ihr seid nichs besonders und schon gar nicht besser als andere.“ Agelulf schwieg und schritt zur Seite, sodass er endlich durch die Tür trat. Mit dem Kuss hatte er ihm etwas genommen, das bisher ein Großteil seiner treibenden Kraft war. Den Zorn. Er war weg. Vielleicht kam er wieder kurz vor dem Ende, aber im Moment fühlte er sich leicht und frei. Wenn er ein Herz in der Brust gehabt hätte, hätte es jetzt aufgeregt geschlagen über diese Erkenntnis. Draußen schien die Sonne, die anderen waren fort. Aus keiner Ecke hörte er irgendein Scharren, Knurren oder Winseln. Ein wenig schade war es schon. Er hatte das Refugium in den letzten Jahren mit ihrer Hilfe auf- und ausgebaut. Nachdem sie ihn in Stücke gerissen und verschlungen hatten, kehrten sie nicht mehr zurück. Keiner von ihnen. Heute war der letzte Tag, an dem es bewohnt gewesen war. Er hatte eine erfüllende Zeit hier erlebt. „Ich zeige dir, wo es ist“, sagte er und senkte den Blick, um die einzelnen Orte des kleinen Reiches nicht mehr zu sehen. Es waren nicht nur grausame Zeiten gewesen, die seine Werwölfe bei ihm gehabt hatten.

 

„Mein Herzschlag ist der der Steine“, sagte er, als er Agelulf den Behälter zeigte, in dem in Platin eingeschlossen und von einer entropischen Mauer umgeben sein echtes, einziges Herz schlug. Der Behälter war eingefasst in eine komplizierte Mechanik, die Umbra selbst nicht verstand und die er nach einer Anleitung seiner Vorfahren erbaut hatte. Sie lag inmitten des Waldes in einem in den Himmel ragenden mit Moos und Gestrüpp bewachsenen Felsen. Wenn er sein Ohr an den Behälter drückte, hörte er es pochen. „Es gibt deren Takt vor und wie sie sich zueinander verhalten und bewegen. Sobald du es frisst, wird die Welt nicht lange danach von Erdbeben erschüttert. Millionen Lebewesen werden sterben, vielleicht sogar Erlik. Ist dir das klar?“ Agelulf war es alles andere als klar, denn die Konsequenzen waren ihm vollkommen egal. „Solange er überlebt, ist es das wert“, antwortete dementsprechend. Umbra seufzte innerlich. „Ich beneide ihn“, sagte er, Agelulf horchte auf und legte die Stirn in Falten. „Wer wäre ich geworden, wenn es jemanden gegeben hätte, der mich liebt und begehrt, so wie du ihn?“, fragte er eher sich selbst denn ihn und erhielt keine Antwort. „Du wirst zu Repräsentanten des Steins“, wechselte er abrupt das Thema. Agelulfs Rute schwang aufgeregt hin und her. „Zum grauen Einsiedler, zur ausgestoßenen Eminenz. Ein Herz der Hyperboreer zu tilgen, ist eins der größten Verbrechen an unserer kränkelnden Erde.“ Umbra berührte die Vorrichtung und schon sprangen einige Mechanismen auf, sodass der Behälter freistand. „Du musst nur den Verschluss oben aufdrehen“, sagte er und zog sich dann zurück. Agelulf erkletterte die Vorrichtung und griff nach dem Behälter, der in seinen Klauen klein aussah. Es hatte fast ein Jahr gebraucht, ihn zu bauen, damit die entropische Grenze stabil genug war, sein Herz zu konservieren.

„Soll ich mitkommen?“, fragte Agelulf, nachdem sie den Felsen verlassen hatten. Umbra schüttelte den Kopf. „Verschone mich bloß mit deiner Anwesenheit“, sagte er sofort. „Du hast, was du wolltest. Das war es zwischen uns beiden. Nur eine Bitte habe ich: Warte bis Mitternacht, bevor du es dir einverleibst.“ - „Warum bis dahin?“, fragte er misstrauisch. Umbra lachte in sich hinein und antwortete: „Heute ist Vollmond. Beide Mondhälften erstrahlen im selben Licht, weil sie genau gleichzeitig aufgehen.“ Agelulf verzog das Gesicht. Ein Klischee, mit dem seine Leute schon immer zu kämpfen hatten, war, dass Werwölfe in Vollmondnächten geboren wurden. Auf alle anderen sollen die Mondstrahlen eine bewusstseinserweiternde Wirkung haben. Alles Quatsch. „Zudem ist heute Fest der Alten. Sie nannten es Samhain. In dieser Nacht hatten sie Zugang zu Wesen aus anderen Welten.“ Agelulf legte den Kopf schief. „Noch eine Absicherung?“, fragte er. Umbra sah ihn mit großen Augen an, dann lächelte er zufrieden. „Schlauer Wolf. Ja, so kannst du es sehen. Wenn alles misslingt, komme ich dann hoffentlich in eine andere Welt, in die ich besser hineinpasse.“ - „Das wird nicht passieren“, erwiderte Agelulf sofort. „Du gehörst zu meinem Erlik. Was von dir übrigbleibt, dein Inua, das brauche ich hier.“ - „Hör auf zu reden und verschwinde endlich“, sagte Umbra mit einer verscheuchenden Handbewegung. „Ich habe genug von ihm und dir. Wenn ich zu ihm gehöre, wie du sagst, dann will ich erst wieder erwachen, sobald ich mit ihm verschmelze. Alles, was bis dahin passiert, ist mir egal. Also, geh endlich!“ Agelulf verabschiedete sich nicht und sagte nichts mehr. Das war unnötig, schließlich sahen sie sich bald wieder - nach seiner Logik. Er hatte, was er wollte. Er ging in eine Richtung davon. Umbra in die andere.

 

*18. Nacht des 5. Mondes im Jahr **86 n. d. Aufbruch

 

Der eine geht seinen Weg, der des anderen endet auf dreifache Weise. Ich fühle die Last, die beide ertragen. Bange, ob es richtig ist und richtig getan wird, was sie tun. Nicht sicher, ob sie ihr Ziel jemals erreichen werden. Der eine sammelt weiter, der andere geht in vielen Körpern auf und wird zu etwas anderem, was er nicht erwartet. Keiner bleibt mit einem guten Gefühl zurück.*

 

Umbra hielt auf den zentralen Menhir zu, den er vor über zehn Jahren alleine gesetzt hatte. Er war nur so groß wie sein Arm und dabei der wichtigste von allen, über den sich die gesammelte Äther-Energie konzentrierte und zu einem ihm unbekannten Ort fortgeschickt wurde. Er hatte immer geglaubt, das sei Leu Hyperbor. Doch es war von Beginn an eine Person, kein Ort. Alle Werwölfe des Refugiums warteten auf ihn. Sie spürten seine Anspannung, rochen die Unsicherheit und Furcht. Ihr Instinkt schlug an, sie knurrten, grollten, ein paar bellten, weitere begaben sich in Habachtstellung und spannten zum Sprung an. Ausnahmslos alle fixierten ihn. Sie wussten, dass seine Zeit vorbei war und er zu ihnen kam, um sich richten zu lassen. So hatte er sie am liebsten! Wild und ungezähmt. Es war windstill, die Welt hielt für ihn den Atem an. Beide Mondhälften kletterten dem Zenit entgegen, ihre Farbe war anders. Strahlender? Umbra sah empor und hielt Ausschau nach dem Himmelspalast. Er entdeckte ihn als kleinen, glitzernden Funken, der ihm wie zum Abschied winkte. Noch wehrte er sie ab, indem er ihre Ätherfäden in der Hand hielt. Sie wussten nicht, warum, sie merkten nur, dass etwas sie zurückhielt. Sie überschütteten ihn mit Drohgebärden, griffen aber nicht an. Umbra war noch nicht in der Mitte angekommen, es war nicht der richtige Zeitpunkt. Nicht mehr lange, nein, aber jetzt nicht. Bevor er die Mitte aufsuchte, durchschritt er ihre Reihen. Vor jedem blieb er stehen, näherte sich, ohne, dass sie zurückwichen, und betrachtete sie in ihrer bestialischen Schönheit, die in seinen Augen von keinem anderen Volk erreicht wurde. Das Schnarren, sobald er sie direkt ansah, die zurückweichenden Lefzen, die die gefährlichen Zähne zeigten, die Schnauze, die sich kräuselte, die Stirn, die Zornesfalten schlug, die angelegten Ohren, die die Aggressivität zum Ausdruck brachten. Ein paar streichelte er über die Wangen, was sie kurz verstummen ließ. Der Größte unter ihnen war Gwlulfs älterer Bruder. Es war eine Idee aus dem Unterbewusstsein. Obwohl ... nicht einmal das. Es war die Reaktion seines Bauchgedächtnisses, das wusste, was er bald war. Er hob den linken Arm, streckte die Hand aus und schob sie ins Maul des Werwolfs, als der einen gefährlichen Schritt auf ihn zumachte und die Kiefer weit öffnete, um ihn zurückzutreiben. Stattdessen geriet seine ganze Hand auf dessen Mundfleisch. Aber anstatt sie zurückzuziehen, befahl Umbras Körper, sie weiter hineinzuschieben. Er war zu einem Fressopfer geworden, das keinen Ausweg mehr hatte. Deshalb entschied sich der Körper als letzten Akt, die Nähe des Fressfeindes zu suchen, um sich von ihm verschlingen zu lassen. Die Natur war eine merkwürdige Mutter, die zuließ, dass ihre Kinder sich gegenseitig umbrachten und auffraßen. Umbra nahm die Hand zurück, obwohl er es bedauerte. Gwlulfs Bruder und Gwlulf selbst knurrten umso ablehnender, als der Moment vorbei war. Er lächelte, war mit sich im Reinen. Sie hassten ihn. Gut so! In diesem Zustand zerfetzten sie ihn am brutalsten. Sie waren wie erwachende Puppen, die sich gegen Ihren Strippenzieher zur Wehr setzten. Bei einer Werwölfin, Innanas jüngere Schwester, wenn er sich richtig erinnerte, blieb er stehen und umarmte sie. Sie verkrampfte und atmete leise ein und aus. Bei jedem Atemzug knurrte sie leicht, ohne es zu beabsichtigen. Selbst in solchen Momenten zeigte sich ihre wahre Natur. Raubwesen. Perfekt ausgestattet für das Leben in der Wildnis und im Rudel. So wie ihre Verwandten, die Wölfe. Es dauerte, bis er jeden von ihnen aufgesucht und in irgendeiner Form verabschiedet hatte. Dabei verfolgte er einen spiralförmigen Weg, bis er in der Mitte ankam. Der kleine Menhir erwartete ihn. Er kniete davor, berührte den kalten Bruchstein, den er aufwendig in wochenlanger Arbeit gefertigt hatte, ohne seine Fähigkeiten zu benutzen, wodurch er sich öffnete und ein weiteres Geheimnis preisgab. Er hatte Agelulf betrogen und in die Irre geführt. Wenn der dumme Kerl es bemerkte, war es schon zu spät. Er nahm sein Herz aus dem Behältnis heraus, der im Menhir versteckt war. Obwohl vom Körper getrennt, schlug es kräftig und laut. Pumpte, pumpte, pumpte. Kein Blut, sondern Ätherenergie. Es war das Original. Das, dass in seiner Brust geschlagen, bevor er den Himmelspalast betreten hatte. Er war durch die Schwärze und Finsternis gewandert und mit Shardiks schwarzem Herzen zurückgekehrt, das zu seinem Herz geworden war. Beide waren Umbras Herzen. Aber das in seiner Hand war das, mit dem er geboren wurde. Er hätte es Agelulf niemals freiwillig gegeben. Dafür hasste er ihn immer noch zu sehr, selbst wenn er jetzt wusste, dass er ein Bruchstück eines anderen war, der ihn liebte. Agelulf würde das verstehen, wenn er erst begriff, dass er Shardiks Herz erhalten hatte, dass durch Umbras Körper gewandert und seinen Geist aufgenommen hatte. Nur so wäre es ihm möglich, den Angeshraël zu konstruieren. Er würde außer sich sein, ihn verfluchen, Shardiks Herz aber letztlich verschlingen, weil es die einzige Möglichkeit blieb, weiterzumachen. Er hatte es Agelulf erklärt: Je öfter sich etwas wiederholte, desto unausweichlicher waren Abweichungen. Das hier war die Abweichung, die in keinem Traumtagebuch vermerkt war. Nicht in seinem, nicht in Agelulfs Buch. Shardiks Herz war eines von vielleicht fünf Dingen, die die Freiheit gewährten, zu verändern und abzuändern. Trotzdem war es eine Randnotiz, das wusste Umbra. Denn in dieser Geschichte ging es nicht um Shardik, sondern um Agelulf.

Umbra entkleidete sich, bis er entblößt vor den rachsüchtigen Werwölfen stand. Er griff in seine Brust und entfernte die dunkle Essenz, die er im Behälter des Menhirs platzierte und ihn verschloss. Danach beschenkte er sich selbst mit seinem alten Leben als Mensch und legte sein Herz in die Brust, aus der es gekommen war. Wärme durchfuhr seinen Körper. Zufriedene, erleichterte Gnade, die ihm sagte, dass er alles richtig gemacht hatte, um den Weg vorzubereiten. Sobald sie den letzten Winkel seines Körpers überflutet hatte, verlor er die Ätherfäden, die die Werwölfe zurückhielten. Die letzte Erinnerung war Getrampel, Scharren, viele Augenpaare, ein bisschen Schmerz, dann nichts mehr.