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Elfter Abschnitt "Kalanthe VI"


Kalanthe VI

Wie nach jedem Abschluss entstand eine unangenehme Stille. Der Unterschied zu sonst war, das Agelulf mehrere Zuhörer hatte. Wir waren, denke ich, alle sprachlos wegen der komplizierten Klarheit, in der die Geschichte Umbras endete. Inanna war es, die sich erhob, den Kopf schüttelte und murmelte: „Andrigg wird sterben ...? Die Unschuldigste von allen.“ - „Keiner von uns ist vollkommen unschuldig. Wir sind Werwölfe, unser Leben beginnt mit Schuld“, sagte Agelulf. Was meinte er damit? Inannas fragender Blick bewies mir, dass sie genauso wenig wusste, wovon er sprach. Sie erwiderte nichts darauf, war nicht zornig oder etwas anderes. Sie hatte sich Genugtuung erhofft zu erfahren, wie Umbra zugrunde gehen wird. Aber genau wie ich empfand sie distanzierte Leere. Was mich besorgte, war, dass Umbra ein Teil von Erlik war. Und wenn er so verrückt und grausam war, wie war dann erst Agelulfs Angebeteter? Inanna schüttelte den Kopf. „Wenn du weißt, dass es passiert dann -“ - „Nein, kann ich nicht“, unterbrach Agelulf sofort. „Ihr Schicksal steht fest, ihr Tod ist nötig.“ Inanna stierte ihn an, ihre Lefzen zuckten. „Hätte ich doch härter zugeschlagen, dann wäre dein Schicksalplan am Arsch“, knurrte sie erbost. „Auch das war Schicksal, egal wie hart du gegen mich gekämpft hättest“, entgegnete Agelulf.

„Umbra war der eine“, sagte ich nachdenklich und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Ibor deutete an, du hast zwei getroffen. Ich habe dasselbe wahrgenommen. Wer war der andere?“ Agelulf war es unangenehm, dass ich ihn löcherte. Er wog den Kopf hin und her und zuckte mit einem Ohr. „Das ist schwer zu erklären“, antwortete er ausweichend. „Dann versuch es frei heraus“, erwiderte ich. Ich ließ ihn nicht davonkommen. Er war sowohl mir als auch Ibor zu viele Antworten schuldig. Er grummelte unzufrieden in sich hinein. „Ich bin einem weiteren Wesen begegnet“, hob er an. „Einem Falben.“ – „Ein Falbe? Was macht so einer hier im Wald?“, wunderte sich Inanna. „Er gehörte nicht hierher“, antwortete Agelulf. „Aber ich wusste schon vorher, dass wir uns treffen werden.“ Ich dachte einen Moment darüber nach. „Das Tagebuch? Schon wieder?“, riet ich, er nickte. „Nur ein einziger Satz, eine kurze Erwähnung“, meinte Agelulf. „Aber so deutlich wie kaum ein anderer Eintrag. Ihm zu begegnen war unausweichlich.“ – „Aber er lebt noch?“, fragte ich skeptisch. Ich hatte kein Blut gerochen. „Ja, er war noch nicht bereit. Ich ließ ihn gehen. Vielleicht wird er es nie sein. Aber das ist unwichtig, denn wahrscheinlich werden wir uns nicht mehr begegnen.“ Ich taxierte ihn. Weder Inanna noch Ibor hatten eine Ahnung, wovon Agelulf sprach. Für mich war es allzu deutlich. Dieser Falbe war nicht irgendein Wesen, dass sich im Wald verirrt hatte, sondern eines aus einer anderen Alternative, das hierhergelangte und von ihm gefunden wurde. Vermutlich hatte es keine Ahnung, dass es sich verirrt hatte. Was immer zwischen Agelulf und dem Falben vorgefallen war, er sprach nicht gerne darüber. Ich entschied, ihn deswegen nicht weiter auszuquetschen, und wechselte wieder das Thema.(*FN* Siehe „Falbe“ in den Anhängen.*FN*)

„Shardiks schwarzes Herz, was ist das?“, fragte ich. Inanna schwieg und ließ es auf sich beruhen. Agelulf ebenso, wobei das, wonach ich fragte, ihm nicht weniger angenehm war. „Das weiß ich nicht“, sagte er, was mich erstaunte, sodass ich mich aufsetzte. „Du weißt es nicht?“, wiederholte ich. Er schüttelte den Kopf. „Das entzieht sich meiner Kenntnis. Shardiks Herz ist uralt. Älter als die Hyperboreer. Mehr ist mir nicht bekannt.“ Ich taxierte ihn, was ihm unangenehm war, denn er knurrte leise, sah weg und sagte: „Lass das, ich sage die Wahrheit.“ - „Ja, zu viel davon“, pflichtete Inanna ihm bei. „Am Ende erzählst du uns Märchen.“ - „Nein“, widersprach Ibor in meinem Rücken dunkel. Wenn er eine Weile nicht gesprochen hatte, klang sie tiefer und vibrierender. „Ihr riecht es, wenn er lügt. Ich zumindest“, sagte er und suchte meinen Blick. „Und du siehst es sogar, oder?“, fragte er. Ich? Wie sollte ich sehen, ob er log? Meine Augen wanderten wieder zu Agelulf und ich stellte fest, dass ich etwas wahrnahm, was ich vor ein paar Stunden schon bemerkt hatte. Linien, die von Agelulf ausstrahlten und sich eigenständig bewegten, Formen bildeten, Wirbel verursachten. Ich kannte das. Ânsgar hatte dieselbe Fähigkeit. Nein, hat dieselbe. Er lebte ja noch. Die Linien verwirbelten nur wenig im Zuge seine Körperbewegungen. Kein Anzeichen, dass er log oder etwas unterschlug, aber dafür, dass er angespannt war. Sie strahlten gleichmäßig aus. Ich sah zu Inanna, derer Linien enge Wellen schlugen, was ein Zeichen ihrer Aufregung und ihres Zornes waren. Ibors Linien bewegten sich sanft und gemächlich hin und her. Er war der einzige von ihnen, der in sich ruhte und überlegt schien. Anstatt mich weiter auf die neue Fähigkeit zu konzentrieren, zwang ich mich, zögerlich zu antworten: „Er sagt die Wahrheit.“ Das führte zu einem verwobenen Gedankengang. Wenn Agelulf es nicht wusste, musste das daran liegen, dass Shardiks schwarzes Herz in Erliks Traumtagebuch nicht vorkam. Aber es wird dennoch erwähnt. Warum? Weil es nach Umbras wirren Aussagen den Verlauf der nächsten Äonade beschrieb, während sein Buch das der jetzigen beschrieb. Aber hier gab es eine Ungereimtheit. Agelulf kannte Umbras Exemplar des Traumtagebuchs nicht, da der noch lebte. Wie konnte er jetzt schon von etwas wissen, über dessen Existenz er erst in Zukunft erfuhr? Was war das schwarze Herz? Ich fragte: „Wie kann es sein, dass du davon nichts weißt? Etwa, weil es mehr Alternativen gibt, als dir bewusst ist?“ Agelulf war auf meine Frage nicht vorbereitet, ich sah es ihm an. Ibor und Inanna genauso. „Das stimmt nicht“, sagte er langsam, ohne meine Frage zu beantworten. „Das solltest du nicht fragen. So weit zu denken, steht dir an diesem Punkt nicht zu. Es ist zu früh!“ Mit jedem Wort wurde er lauter und bellender. Odarik sprang auf, stellte sich ihm in den Weg und zischte ihn an. Als Agelulf nicht reagierte und einen zu schnellen Schritt auf mich zu wagte, eskalierte die Situation. Odarik grollte so tief, wie kein Werwolf grollte, und sprang Agelulf an, riss ihr Maul auf, aus dem widerlich lange und spitze Zähne Stacken, und verbiss sich in seinem linken Bein. Agelulf bellte auf, zückte die Krallen und stach auf Odarik ein. Zumindest versuchte er es. Ihre vorderen Läufe schnellten unnatürlich nach oben, die Hufen spreizten sich und wurden so etwas wie zuckende Hände, mit denen sie ihn aufhielt. Es ging so schnell, dass ich erst jetzt eingriff. „Odarik!“, schrie ich, doch sie hörte nicht auf mich und zog ruckartig den Kopf empor, wodurch sie Agelulf schwer verletzte. „Zurück mit dir!“, schrie ich, sie ignorierte mich. Stattdessen schritt sie mit Leichtigkeit vorwärts und drängte Agelulf weg. Mich einzumischen hätte nichts bewirkt, dadurch wäre ich zwischen sie geraten. Während ich fieberhaft überlegte, wie ich sie am besten aufhielt - Inanna und Ibor wagten nicht, sich ihr in die Quere zu stellen - bemerkte ich Linien um Odarik herum. Zuerst dachte ich, es seien dieselben, mit denen ich Inannas, Ibors und Agelulfs Gefühle sah. Aber sie waren zu lang und erstreckten sich überall in den Wald hinein. Um uns, über uns, hinter uns, neben uns, ohne dass wir sie je bemerkt hatten. In einem Geistesblitz erinnerte ich mich an Umbra, der andere bis in den Tod hinein manipulierte, indem er mit den Ätherfäden hantierte. Waren das hier dieselben? Keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn ich nichts unternahm, nahm Odarik Agelulf auseinander, denn er verlor langsam die Oberhand. Kurzum griff ich nach allen Fäden. Ibor bemerkte, wie ich scheinbar sinnlos mit den Händen in der Luft fuchtelte. Ich zog ruckartig an ihnen. Odarik blökte gepeinigt auf und wurde von Agelulf weggeschleudert, der mit schmerzverzerrter Miene einen Sprung zurückwich und dann erstaunt bemerkte, was vor sich ging. Sie prallte gegen eine Fichte, die die Wucht des Aufpralls nicht aufhielt, brach und knackend umfiel. Inanna hechtete zur Seite, Ibor schnappte mich um die Taille herum und rollte sich mit mir weg, bevor der Baum uns begrub.

Damit war die Gefahr nicht vorbei. Odarik lag bewusstlos unter dem Stamm. Ihr fehlte nichts, sie war bloß ohnmächtig. Agelulf stand aufrecht, aber humpelte von uns fort, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Inanna machte sich so klein, wie sie konnte, weil sie die Situation nicht einzuschätzen wusste. Ibor zog die Augenbrauen zusammen und sah mich wütend an. „Du hast Nerven, so viel anzurichten. Du-“ Ich zappelte, damit er mich losließ, wobei ich unglücklich an einer seiner Krallen hängenblieb und mein linken Bein daran aufschürfte. Rakkarkattan! Ich hatte ihn vergessen! Ich erreichte Agelulf einen Moment, bevor er aus dem Wald hervorschoss und ihn angriff. Ich streckte die Arme aus, um ihn zu stoppen.

Er stoppte abrupt, nachdem er mit aufgerissenem Maul auf uns zugestürmt war, kam nur Zentimeter vor mir zum Stehen, sodass ich einen tiefen Einblick in dessen verschlingenden Rachen erhielt. Seine Zunge vibrierte darin in Wellen, er knurrte tief. Das galt nicht mir, sondern Agelulf hinter mir. Seine Schnauze war blutverschmiert, sein Atem roch nach frisch gegessenem, rohen Fleisch. Rakkarkattans Augen waren blutrot, ohne Pupille, ohne Iris, zwei dunkelrote Fleischbälle. Aber nicht nur sie, er wirkte insgesamt düsterer. Ein kurzes perfides Tauziehen entfachte, in dem ich mich flink in kleinem Kreis um Agelulf herum bewegte, um Rakkarkattan zu hindern, an mir vorbei zu hechten und ihn niederzustrecken. Wie kamen wir aus dieser Situation wieder raus, ohne dass Odarik und er Agelulf umbrachten? Eine Möglichkeit war, seine Ätherfäden zu nehmen und ihn wegzuschleudern. Aber nach dem, was mit Odarik passiert war, wagte ich das nicht. Am Ende tötete ich Rakkarkattan versehentlich, weil ich zu fest zog.

Die Lösung folgte so abrupt wie unerwartet. Ibor bellte auf, aber es war zu spät. Agelulf packte mich von hinten, umschlang meinen Hals und zückte die Krallen der freien Klaue, die er auf mein Gesicht richtete. Ich starrte ihn. Er nahm mich als Geisel, nachdem ich ihn gerettet hatte! Ich hatte die Macht, ihn davon abzubringen, aber ein Teil in meinem tiefen Unterbewusstsein verbot mir, die Hand gegen ihn zu erheben, weil er sich sicher war, dass er mir nichts anhaben wollte. Es war der Effekt, um den es ging. Rakkarkattan erstarrte und wagte nicht mehr, ihn anzugreifen. „Sag ihm, dass er sich die Kehle aufschlitzen soll“, forderte Agelulf leise, sodass ihn außer mir niemand verstand. „Was?!“, keuchte ich empört. „Entweder er sich selbst, oder Odarik. Das ist egal, aber der Weg für einen von ihnen endet hier.“ Das brachte unangenehme Erinnerungen. „Du wusstest, dass dieser Moment kommt?“, rief ich laut. „Welcher Moment?“, fragte Ibor und ging in die Hocke, um anzugreifen. „Mich dich nicht ein, wenn du nicht sterben willst!“, bellte Agelulf ihn an. Inanna machte Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, wurde aber von Ibor zurückgehalten, der in ihre Richtung grollte und den Kopf schüttelte, sobald sie ihn ansah. „Du!“, knurrte Agelulf Rakkarkattan an. „Du weißt, wie das hier endet. Besser als sie“, sagte er, humpelte mit mir einen bedeutenden Schritt rückwärts, um Abstand zu gewinnen, und fuhr fort: „Es gibt keinen anderen Weg. Entscheide, was du machst, sonst ramme ich ihr meine Krallen in den Kopf.“ Er sagte das zu gelassen. Er meinte es ernst! Als ich das begriff, wehrte ich mich gegen ihn und zappelte sinnlos hin und her. Wo war nur meine neue Körperkraft hin? Es war, als wäre ich zurück in den rein menschlichen Körper geworfen worden.

Mit Leichtigkeit hielt er mich fest und ein bisschen Druck auf meinen Hals sorgte dafür, dass ich kaum Luft bekam, sodass ich nach wenigen Momenten freiwillig aufhörte, mich zu wehren. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ritzte Agelulf die Krallenspitzen in meinen Hals. Ich blutete leicht, was eine unerwartete Reaktion hervorrief. Rakkarkattan beachtete nicht mehr mich, sondern sabberte und fixierte Agelulfs Klaue. „Willst du kosten?“, fragte er und nickte in Richtung Odarik. „Dann mach sie fertig.“ - „Nein!“, rief ich, aber es war zu spät. Rakkarkattan überfiel die bewusstlose Odarik und nahm sie vor aller Augen auseinander. Trotz seiner Besessenheit war er geistesgegenwärtig genug, ihr zuerst die Kehle zu zerfetzen, sodass sie schnell starb und nicht mehr vorher aufwachte. Danach nahm er ihren Schädel zwischen die Klaue, setzte all seine Kraft ein und zerdrückte ihn. Odariks Augen sprangen aus den Augenhöhlen und hingen dann lose an den Sehnerven herab. Durch ihren deformierten Schädel drückte sich aus allen Rissen und Öffnungen Hirnmasse, die wie Pudding herausgepresst wurde. Wie gerne wäre ich in Ohnmacht gefallen! Sie war mein Kind, ich hatte sie erschaffen! Jetzt sah ich zu, wie es auseinandergenommen und in Einzelteilen aufgefressen wurde. „Odarik ...!“, presste ich hervor, ohne dass Agelulf von mir abließ. Er - hatte sogar vergessen, dass ich da war, und observierte fasziniert, was Rakkarkattan alles mit dem winzigen Leichnam anstellte. Es musste für ihn ein Déjà-vu zu Vlooriean sein. Für mich war es das. Es war grausig. Auch weil Rakkarkattan in seinem Blutdurst Dinge mit Odariks Leiche anstellte, die ich nicht nachvollzog. Er riss ihre Bauchdecke auf, Blut spritzte, ihre Gedärme platzten hervor. Er nahm ihren Darm, zerbiss ihn und presste den Inhalt in seinen Rachen, bevor er ihn selbst auffraß. Er vergrub die Schnauze in ihrem Brustkorb und zerbiss alles, was er zwischen die Zähne bekam. Und so weiter. Schockiert und angeekelt sah ich dennoch nicht weg oder schloss die Augen. Odarik war meine Schöpfung gewesen. Hätte ich sie nicht zu dem gemacht, was sie war, wäre ihr der grausamste aller Tode erspart geblieben. Sie war nicht einmal zwei Tage alt gewesen. Ich hatte es versucht, ich hatte sie vor dem Tod beschützen wollen. Aber den Tod betrog man nicht. Niemand. Er hatte sich Odarik zurückgeholt. Sie stand ihm zu, nicht mir. Selbst Manticorae waren gegen ihn machtlos. Tränen überfluteten mich, ich presste die Zähne zusammen und schluchzte. Rakkarkattan aß alles von ihr auf. Selbst die Knochen. Nur das vergossene Blut zeugte am Ende von ihrer Existenz. Wer war Schuld hieran? Agelulf? Ich hätte ihn gerne schuldig gesprochen, aber letztlich war sein Verhalten von seinem Überlebenswillen geprägt. Rakkarkattan? Nein, er war - im engsten Sinn - nur ein ausführendes Werkzeug. Mein Werkzeug, das mich beschützte, indem es ein anderes zerstörte, um mich freizukaufen. Ibor und Inanna, die nicht eingriffen? Nein, sie wagten nicht, sich einem Geschöpf entgegenzustellen, das von meinem Blut verändert worden war. Zudem waren sie der Ansicht, dass es falsch war, solche Wesen zu erschaffen, weil sie unnatürlich waren. Nur ich selbst blieb als Schuldige übrig, weil ich es war, die mit ihnen gespielt hatte. So fühlte es sich an, mit Leben zu spielen. War man nicht dafür geschaffen, zerbrach es einen. Das war die Lektion, die ich aus der Situation mitnahm.

Nachdem Rakkarkattan den letzten Knochen zerknackt und runtergeschluckt hatte, ließ Agelulf mich endlich frei. Ich stürzte weinend von ihm fort. Ibor mir entgegen, der mich fest umklammerte und seinen Bruder mit gebleckten Zähnen anknurrte. Agelulf beachtete ihn nicht, sondern hielt Rakkarkattan die Klaue entgegen, an der ein paar Tropfen meines Blutes hafteten. Mit heraushängender Zunge eilte der zu ihm - und kniete! Er schleckte es ab und leckte noch, als längst nichts mehr da war. „Krank“, sagte Inanna. „Du bist krank.“ Agelulf schwieg, sie war ihm egal. Oder vielmehr betrachtete er aufgeregt, welche Veränderungen Rakkarkattan durchlief. Der krümmte sich bald unter Schmerzen, winselte, jaulte, jammerte, grollte. In ihm - bewegte sich etwas. Ich hielt den Atem an. Ihm wuchsen Hörner, die zu einem kleinen Hirschgeweih wurden, und ein zweites Augenpaar unter dem Eigenen, das Odariks Augen glich. Die Gesichtszüge wurden weicher und strenger zugleich. Die Hinterläufe transformierten sich zu Hufen. In seinem Körper passierten vermutlich mehr Dinge, die ich nicht erahnte. Inanna schrak zurück, selbst Ibors Fell sträubte sich. Ich hingegen fiel endlich ihn Ohnmacht.

 

Seit wann war ich wieder so schwächlich? Ich war eine Manticora! War es meine menschliche Seite, die der Belastung nicht mehr standhielt? So musste es sein. Oder hatte es etwas mit Agelulf zu tun? Erst als er mich gefangen genommen hatte, war alle Übermacht verschwunden, als hätte ich nie eine besessen. Ich stellte mir vor, nicht mehr aufzuwachen, um die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen, die sich mit Odarik in die Erinnerungen gebrannt hatten, gleich neben denen Vloorieans. Links hörte ich einen Herzschlag. Dreitakt. Ibor? Nein. Dessen Fell war weicher. Der Geruch passte nicht. Ibor roch nach Zimt. Aber Agelulf war es auch nicht, denn der roch nach Pfefferminze. Inanna? Warum sollte sie mich im Arm halten? Nein, unwahrscheinlich. Ich wäre gerne zurück in die Bewusstlosigkeit gefallen, aber meine Neugier war stärker. Ich öffnete die Augen und sah in ein fremdes Gesicht, das nicht so fremd war. Rakkarkattan. Und ... Odarik? Bildete ich mir das ein? Ich blinzelte und betrachtete das Ding, das beide zu sein schien, mehrere Minuten. Ein Wesen zwischen Wolf und Hirsch, Fleischfresser und Pflanzenfresser, Jäger und Gejagtem, Tagtier und Nachtgeschöpf. Es hatte keine blutroten Augen mehr, sondern braune wie die Erde, das andere Augenpaar - ein zweites Augenpaar? - unterhalb schien durchgehend schwarz, aber nur, weil die Iris übermäßig groß war. So wie bei Hirschen. Die Ohren waren abgeknickt und hingen leicht schlaff herab, was wegen des Geweihs Sinn machte. „Mama“, sagte es mit dunkler, zerkratzter Stimme. Bitte, was? Mama? Es schüttelte den Kopf, fletschte die Zähne und rumorte, als es mit sich selbst kämpfte. Es öffnete das Maul, der Unterkiefer bewegte sich nach links und rechts, was unnatürlich aussah. Der Griff wurde fester, es drückte mich an sich, verletzte mich aber nicht. So abrupt der Moment kam, war er wieder vorbei. Die Unschuld war aus den Augen verschwunden, als es mich wieder ansah. „Bist du Rakkarkattan?“, fragte ich. Es schüttelte den Kopf und antwortete: „Du stellst Fragen“, sagte es. „Ja, ich bin ich. Aber Odarik ist genauso ich.“ Das war mir etwas zu viel, mein Verstand überging, was er gesagt hatte und ich sah mich um. Wir waren in großer Höhe. Auf einem Baum! Ich zuckte, als ich in die Tiefe sah, zwanzig Meter nach unten. Dort, an den aus dem Boden herausragenden Wurzeln des Baums, saßen Agelulf, Ibor und Inanna. Sie sahen nicht herauf und wirkten nicht beunruhigt. Inanna schlief. Wie lange hatte ich geschlafen? Offenbar sah Rakkarkattan meine fragende Miene und deutete sie, denn er sagte: „Du warst mehrere Tage bewusstlos. Ich habe dich ernährt.“ Ich hustete, was dazu führte, dass unten Bewegung aufkam. Ibor und Agelulf sahen zu uns herauf. Ihre Augen waren voller Sorge. „Ist sie wach?“, fragte Ibor. Statt zu antworten, erhob sich Rakkarkattan auf dem dicken Ast, auf dem er gesessen hatte. Warum war der überhaupt so breit? Ich hatte keinen Baum in Muralge gesehen, der groß genug wäre, dass dessen Äste das Gewicht von Werwölfen trug. Er sprang! Ich schrie! Zwei Sekunden und wir landeten neben der schlummernden Inanna, die jaulend erschrak und aufsprang, ihre Krallen zückte und in Angriffsstellung ging. Erst als ihr erwachender Geist uns erkannte, entspannte sie sich. „Musste das sein?“, stellte sie ihn zur Rede. Rakkarkattan lachte verschmitzt, was nicht zu ihm passte. „Nein, aber es macht Spaß, dich zu ärgern.“ Inannas schüttelte den Kopf. „Seit du das Wild gefressen hast, verhältst du dich kindisch.“ - „Sch!“, fuhr Ibor sie an. Inanna verstummte, als ihr klar wurde, wie unpassend das war. „Lass mich runter“, sagte ich tonlos mit verkratzter Stimme. Rakkarkattan sah mich skeptisch an und ließ mich zu Boden. Ich setzte auf und versuchte, ein paar Schritte zu laufen, und fiel hin. „Was soll das?“, fragte ich leise an mich selbst gerichtet und probierte es erneut, mit demselben Ergebnis. Meine Beine waren wie Haferschleim und trugen mich nicht. „Überanstreng dich nicht“, sagte Agelulf und half mir auf. „Du hast eine Weile geschlafen und musst dich erst wieder daran gewöhnen.“ - „Aber - ich war kräftig“, protestierte ich. „Das bist du immer noch. Trotzdem warst du zu schnell. Anstatt dich langsam heranzutasten, hast du alles auf einmal rausgelassen. Das war naiv.“ Ich kam mir komisch vor, von ihm gemaßregelt zu werden, zumal Ibor sich nicht einmischte und derselben Meinung war. Ich wechselte das Thema, es war mir unangenehm. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte ich, röchelte und hustete dann Speichel und Schleim. „Lang“, antwortete Ibor, anstatt Agelulf, näherte sich uns und beschnupperte mich. Einen Seitenblick zu Rakkarkattan, sofort stand er wieder auf und entfernte sich etwas. „Zwanzig Tage“, sagte er. Das war lang. Aber im Grunde interessierte mich das nicht. „Wo sind wir?“ Ibor und Inanna sahen einander besorgt an. „Du solltest dich ausruhen“, riet Agelulf. „Nein“, erwiderte ich. „Wo sind wir?“, fragte ich nochmal. „Hinter der ersten Grenze“, antwortete Rakkarkattan. „Näher am Herz des Waldes.“ Agelulf, Ibor und Inanna funkelten ihn an. Was war hier los? Warum sahen sie ihn so an? Mühevoll erhob ich mich mit Agelulfs Hilfe, blieb aber wackelig. Daneben plagte mich Schwindel. „Was ist passiert, nachdem ich ohnmächtig wurde?“, fragte ich. Agelulfs rechtes Ohr zuckte. „Du erinnerst dich nicht?“, wunderte er sich. Ich schüttelte den Kopf. „Kaum. Ich weiß verschwommen, was mit Odarik geschehen ist. Ich dachte, sie ist tot. Aber jetzt steht da Rakkarkattan und sieht ihr ähnlich. Ich glaubte, das sei alles nur ein Traum.“ - „Das war es nicht. Es musste so passieren“, sagte Agelulf. „Du hast zwei Wächter erschaffen, vorgesehen ist aber nur einer.“ - „Steht das auch im Erliks Traumtagebuch?“, fragte ich. Langsam hatte ich die Nase voll davon. Er nickte leicht. „Nur angedeutet, aber die Anzahl hat er deutlich gemacht. Einer, nicht zwei.“ Warum schwebten seine Texte wie ein Schwert über uns? Mir wurde unerwartet übel, ich hustete, wandte mich von Agelulf ab und übergab mich. Der ließ mich los, sodass ich fast in mein Erbrochenes gefallen wäre, da sprang Inanna an meine Seite, hielt mich fest und sah ihn und Ibor kritisch an. „Typisch Kerle. Sie ist trächtig, nicht krank!“ Trächtig? Ach, ja. Ich war schwanger, das hatte ich vergessen. Ich rieb nachdenklich meinen Bauch, der sich dezent gewölbt hatte. Darin ein Mischling aus Manticora und Werwolf. Ich war sicher bald eine Kugel. Absurderweise stellte ich mir vor, dass mein Kind dann so groß wie Agelulf oder sogar Ibor war - kurz vor der Geburt. Inanna hielt mich fest und sagte: „Nicht ankämpfen, alles rauslassen. Übelkeit ist normal, während du ein Kind austrägst.“ Ich dachte nicht darüber nach, wie oft das in Zukunft vorkam. Nachdem alles raus war, was ging - ich wusste nicht, dass ich überhaupt etwas im Magen hatte - bat ich Inanna schlaff und ausgelaugt, mich wegzubringen. Irgendwohin. Nur weg. „Gern. Aber Rakkar wird mitkommen. Der lässt sich nicht mehr aus den Augen, seit dem letzten Vorfall.“ - „Nicht eine Minute. Ich traue keinem von euch“, sagte er und klang dabei fröhlich und gelöst wie ein kleiner Junge. Ich sah ihn an, dann der Reihe nach Inanna, Ibor und Agelulf. Ihn am längsten. Er hatte mich bedroht. „Na gut“, sagte ich. „Ich habe Durst. Etwa sechs Minuten westlich ist eine kleine Quelle. Bringt mich bitte dorthin.“ Inanna sah mich erstaunt an. „Woher weißt du davon?“, fragte sie. Ich erwiderte kraftlos ihren Blick. „Ich rieche das Wasser.“

Die Quelle war auf einer kleinen, idyllischen Lichtung, wie ich sie in Muralge niemals erwartet hätte. Der Himmel war klar und die Sonne beschien das satte, grüne Gras, das vor Lebenskraft strotzte. Schmetterlinge und Bienen und viele weitere Insekten schwirrten in der Luft. Blumen in allen Farben wuchsen hier und da auf kleinen konzentrierten Flächen. Inanna und Rakkarkattan liefen hindurch und traten auf einige der Blüten, um mich zu besagter Quelle zu tragen. Sie lag fast in der Mitte der Lichtung und sobald wir uns näherten, wurde der Untergrund feucht, bis jeder unserer Schritte platschte und knatschte. „Lass mich fallen“, bat ich Inanna. „Was? Warum?“ Ich schüttelte den Kopf und antwortete nicht. „Tu, was sie sagt“, knurrte Rakkarkattan hinter ihr. Sie sah ihn nicht an, aber ihr Nackenfell stellte sich auf. Was war nur vorgefallen, dass sie Angst vor ihm hatte? Waren sie nicht ein Paar gewesen? Ich nickte, sie zweifelte - und ließ los.

Ich fiel in die Quelle und versank.

Der Auftrieb des Wassers reichte nicht, mich wieder über die Oberfläche zu drücken. So frisch! Ich trank in großen Zügen und bekämpfte den Durst. So kalt. Mein Geist erwachte endlich. So rein! Die Schwäche verzog sich aus meinen Gliedern und der Körpermitte, um der alten Kraft Platz zu schaffen. Die Kette war fort.

Doch ich versank.

Ich wollte nicht zurück. Die Quelle war größer und tiefer als es von der Oberfläche den Anschein gemacht hatte. Ich sah hinab. Da war keine Dunkelheit, sondern Farben in allen vorstellbaren Kombinationen und Ausprägungen. Einige, die noch nicht entdeckt waren und keinen Namen trugen. Schimmernd, leuchtend, sternengleich, zeitlos.

Und ich versank.

In der Tiefe begrüßten mich Algenblätter, die mir zuwinkten und verführerisch den Weg hinab wiesen, an einen Ort, an den mir niemand folgte. Einen, an den ich zu gelangen versuchte und mir einen Moment Ruhe vor den Grausamkeiten erhoffte, mit denen ich konfrontiert wurde. Der Druck auf meinen Körper durch das Wasser nahm zu.

Weil ich versank.

Kleine glühende Quappen, Würmer und andere Lebewesen waren zeitweise meine Begleiter. Sie folgten mir oder hafteten sich an mich. Zu welchem Zweck war mir unbegreiflich. Aber so war ich nicht alleine.

Während ich versank.

Ich schwebte in einem Ozean unter der Erdoberfläche. Die Quelle war der Eingang, durch die ich in eine verborgene Welt eintauchte. Ein fremdes Firmanent umschloss mich. Eine Sonne weit unter mir deutete sich an als rötlich hellen Punkt.

Zu der ich versank.

Ich kauerte zusammen und wartete auf Wärme. Von der Sonne tief unter mir, von der vertrauten Fremdheit dieser Welt, von mir selbst. In mir selbst. Aus mir selbst. Meinem Bauch, meinem Kind.

Mein Kind, das versank.

Rauschend hievte Rakkarkattan mich aus dem Wasser zurück an die Luft. Ich hustete und röchelte, suchte seinen Blick und begegnete den sorgenvollsten Augen meines Lebens. Er sagte nichts, er hatte Angst. Ich wäre nicht zurückgekommen. Nicht, weil ich mich umbringen wollte, sondern weil das Quellwasser angenehm gewesen war. Betörend, einlullend.

 

Effekthascherei, so würde ich es nennen. Immer dann, wenn es einigermaßen ruhig, beständig und die Situation annehmbar war, kam Agelulf und zerstörte den Moment auf schreckliche Art und Weise. Für gewöhnlich war das so. Diesmal nicht. Inanna starb. Obwohl, nein, ich habe sie nicht sterben sehen, aber ich gehe davon aus, dass sie gestorben ist, nachdem sie entführt wurde und sich uns die grausame Ursprünglichkeit des inneren Waldes damit das erste Mal zeigte.

Wir verließen die Quelle nicht sofort, das brauchten wir nicht, denn Ibor und Agelulf waren uns mit etwas Abstand gefolgt. Zwar hatte ich lange geschlafen, ihre Visagen mochte ich dennoch im Moment nicht sehen. Ibor blieb zwischen den letzten Bäumen vor der Lichtung im Baumschatten stehen, während sich Agelulf selbstbewusst näherte. „Das war unüberlegt“, sagte er und hielt einen kleinen Abstand zu uns. „Ihr habt etwas geweckt, das hier schläft. Es wird uns nicht gehen lassen, solange wir nicht einen zurücklassen.“ An mich gerichtet: „Geht es dir besser?“, fragte er. Ich nickte, ohne etwas zu erwidern. An Rakkarkattan: „Bring sie weg, schnell.“ Der folgte seiner Aufforderung sofort und sprang aus dem Stand heraus mit mir auf dem Arm zum nächsten Baum - einer Buche - an den Rand der Lichtung. Auf den kletterte er geschwind hinauf, so hoch er konnte, fünfzehn Meter über dem Boden war. „Lass mich wieder runter!“, zischte ich ihn an. „Sofort!“ Er sah mich zerknautscht an, weil er mir gehorchen wollte, es aber nicht tat und dadurch meinen Ärger auf sich zog. Ich brachte ihn in eine unmögliche Situation, was mir egal war. Ich verpasste ihm eine Ohrfeige, er zuckte zusammen, hielt dafür aber umso fester an mir fest. „Lass. Mich. Runter!“ Agelulf war mir eine Erklärung schuldig. Was hatte er eben damit gemeint, als er sagte, wir hätten etwas geweckt. „Was machst du?!“, bellte Ibor zu Agelulf und Inanna hin, die verwirrt zwischen ihm, Ibor und uns im Baum hin und her sah. Jetzt wagte er, die Lichtung zu betreten. Agelulf winkte ihn aggressiv fort, wandte sich zu Inanna um und schubste sie in die Quelle. Für gewöhnlich misstrauisch, war sie unaufmerksam gewesen und platschte hinein. Langsam zweifelte ich an Agelulfs Vernunft. Sofort hetzte er auf allen Gliedmaßen davon wie ein Welpe. Zuerst geschah nichts. Doch sobald Inanna aus dem Wasser stieg, bemerkte sie, das sich etwas um ihren rechten Hinterlauf geschlungen hatte. Sie versuchte, es abzuschütteln, dann wurde sie davon hinab in die Quelle gezogen. Nur kurz zeigte sich die Kreatur, die Inanna entführte. Eine Krake. Eine Krake? Ja. Inmitten der Quelle im Wald. Genau genommen war sie die Quelle, aus der das Wasser sprudelte. In ihren Eingeweiden wuchsen Pflanzen, lebten Lebewesen. Ich hatte es geweckt und hungrig gemacht. Das hatte Agelulf gemeint. Er wusste, dass dieses Ding nach einem von uns gegriffen hätte. Und weil es meinen Geschmack an intensivsten wahrgenommen hatte, wäre ich das Opfer geworden. Die Krake erhob sich kurz aus ihrer Ruhestätte, zeigte sich dafür aber in ganzen Allgewalt. Ein riesiges Wesen, dutzende Arme, die scheinbar im Zeitraffer aus der Erde wuchsen wie Bäume. An einem davon, nahe des Torsos, der gespickt war mit hunderten Augen, hing die knurrende und bellende Inanna an einem der Arme. Sie hatte sich in einen verbissen und zerrte daran. Der Körper der Krake war ohne deren Arme allein mehr als ein Dutzend Meter groß, mit Armen erreichte er jeden Winkel der Lichtung. Sie war grässlich gräulich, drehte und wand sich um sich selbst, bis etwas hervorkam, das ein Maul zu sein schien. Es öffnete sich wie ein kreisrunder Muskel nach außen, erweiterte und gab einen mit nach innen gerichteten Zähnen besetzten Schlund frei, der düster grollte und quietschte. Agelulf war am Rand der Lichtung angekommen und sah fasziniert zurück. Ibor war in Schockstarre verfallen, genau wie ich. Rakkarkattan hingegen war ruhig, sein Herz schlug keinen Takt aufgeregter. So als hätte er gewusst, was hier lauerte. Die Kreatur kreischte Inanna an, als die das Endstück eines Armes abbiss und ihm Beleidigungen entgegen bellte. Mit zwei Weiteren umschlang sie ihren Hals und einen ihrer Arme. Dann versank es zurück in der Öffnung, aus der es hervorgeklettert war und zog die aufschreiende Inanna mit sich.

Die weiße Werwölfin war fort. Diesmal tauchte sie nicht wieder auf. Das Wasser beruhigte sich, blubberte etwas und wurde dann still. Ich habe sie nicht sterben sehen, aber einem Ungeheuer zu entkommen, von dem sie als Mahlzeit auserkoren wurde, war unwahrscheinlich. Denn dann wäre sie wieder aufgetaucht, was nicht der Fall war. Der Kraken musste sie gefressen haben, denn weder ihr Leichnam oder Teile davon tauchten auf. Sie war weg. Arme Inanna. Es war zu erwarten gewesen, aber ein solches Schicksal hatte ich ihr nicht gewünscht. Sie war nett und hatte ein härteres Leben als ich gehabt. Das bedauerte ich. Dennoch hielten sich Trauer und Entsetzen in Grenzen, weil ich es mittlerweile gewohnt war, dass Personen um uns herum geopfert wurden. Grausam, aber die Wahrheit. Zu Rakkarkattan hatte ich auch kein tiefes Verhältnis. Odarik war die Letzte gewesen, bei der ich gewagt hatte, Gefühle zuzulassen.

Rakkarkattan kletterte mit mir hinab und ließ mich endlich runter, jedoch nicht mehr in die Nähe der Quelle, die wie vorher sprudelte, obwohl die Lichtung jetzt aussah wie ein Schlachtfeld. Ich eilte zu Ibor, der zusammengesunken dasaß und dorthin starrte, wo Inanna zuletzt um ihr Leben gekämpft hatte. Er hatte eine Freundin verloren. Bei ihm, wollte ich ihn in den Arm nehmen. Er starrte mich an und knurrte. Als ich ihn berührte, alle Warnsignale ignorierend, sprang er auf und stieß mich fort. Seine Lefzen zuckten, zwei Tränchen glänzten im Sonnenlicht auf seinen Wangen. „Wegen dir - alles nur wegen dir“, grollte er. Rakkarkattan griff nicht ein, somit ging keine Gefahr von ihm für mich aus. „Ibor, ich wusste nicht -“ - „Halt den Mund!“, bellte er. Ich zuckte zusammen und wurde klein. Agelulf näherte sich, was Ibor bemerkte und ihn einer fließenden Bewegung einen Rundumschlag vollzog, der seinen Bruder unerwartet traf. Agelulf wurde am Kopf getroffen, sofort ließ er sich fallen, um einem zweiten Hieb zu entgehen, der ihn den Kopf von den Schultern geschlagen hätte. Ibor setzte nach, haute und hieb, schlug und trat nach ihm. Gelegentlich traf er, meistens verfehlte er oder streifte er ihn. Das war nicht nur ein Streit unter Brüdern. Er versuchte, ihn ernsthaft zu töten!

Ich hastete hinter ihnen her, um mich zwischen sie zu stellen und den Mordversuch zu unterbrechen. Rakkarkattan erwischte mich am Arm und zog mich zurück. Unwirsch starrte ich ihn an und zischte etwas Unverständliches, wodurch er sofort von mir abließ. Ich weiß nicht, was ich gesagt hatte, aber seine Klaue war verbrannt und er winselte grollend. Ich sprang Ibor und Agelulf vor die Läufe. Letzterer fasste mich und warf mich zur Seite weg. Ich flog drei Meter durch die Luft und landete auf der umgegrabenen Erde der Lichtung, rappelte mich auf und sah, wie Agelulf den Moment genutzt hatte, um sich in Ibors Hals zu verbeißen. Der hatte innegehalten, als ich zwischen sie gegangen war und damit seine Deckung fallengelassen. Ibor wiederum hatte dessen Kopf in die Klauen genommen. Ihn aufzuhalten war ihm nicht möglich, aber wenn Agelulf seine Kehle aufriss, hatte Ibor genug Zeit ihm den Schädel zu zerquetschen. Sie waren in einer Pattsituation, in der sich keiner mehr bewegte. Statt aber auf Agelulf zu achten, haftete Ibors Blick an mir! „Misch dich nicht ein!“, grollte er. „Das ist nicht deine Sache! Du bist nicht der Mittelpunkt von allem und du bist keine von uns! Du wirst uns niemals verstehen!“ Als er das sagte, zerbrach etwas. Ich hatte mich ihnen zugehörig gefühlt, vor allem wegen Ibor und wie er mit mir umging. Aber was er zeigte, war von Anfang an seine Meinung gewesen, das schrie mir sein Blick entgegen. Egal wie oft er mich mit einer Werwölfin verglichen hatte. Vielleicht bereute er später seine Worte. Ja, wahrscheinlich sogar. Aber es war zu spät. Ich wurde mit einem Gefühl der Ablehnung konfrontiert, hinter dem sich das des Ausschlusses von etwas versteckte. Ich ließ meine Schultern hängen. Wie ich ihn ansah, wusste ich nicht, aber in den Moment wurde ihm klar, dass er mich weit mehr verletzt hatte, als beabsichtigt. Seine Miene änderte sich. Das Herz einer Frau war tief wie ein Meer. Ich war eine Manticora, meines war tief und weit wie der Ozean. „Dann verreckt doch alle miteinander“, sagte ich und spürte die Zornesfalten auf der Stirn, als sich meine Augenbrauen aufeinanderzubewegten. Auf die Worte ließ Agelulf von seinem Bruder ab und sah zu mir. Doch da war ich schon nicht mehr sichtbar für ihn. Ich hatte mir vorgestellt, unsichtbar zu werden. Und wurde es. Rakkarkattan sprang in einem großen Satz zu mir und suchte mich mit wachsender Verzweiflung, schnupperte, grub im Gras umher, fand mich aber nicht. Agelulf und Ibor trennten sich voneinander. „Was -?“, fragte Agelulf und kam mehrere Schritte auf mich zu, sah sich um, schnupperte in der Luft, um meine Fährte aufzunehmen, schüttelte den Kopf und fuhr zu herum. „Idiot! Sie ist weg!“ Ibor stand verdattert da. Nein, ich war nicht weg. Aber ich entschied, zu gehen. Nicht für immer, doch jetzt wollte ich alleine sein. Wir waren an einem traurigen Punkt unseres Weges angekommen, den ich überging. Genausogut hätte ich mir einen Arm oder ein Bein von einem der Dreien abbeißen lassen können. Ibor reckte verstört den Kopf und heulte in den Himmel, erntete aber sofort einen Klaps auf seine Schnauze von Agelulf. „Lass das! Willst du die anderen aufwecken?“, fuhr er ihn an. Ibor rieb sich die Lefze und funkelte seinen Bruder an. „Das wäre alles nicht passiert, wenn du sie nicht hierher gehen lassen hättest“, knurrte er. „Warum hast du das zugelassen? Du wusstest von diesem Ding und hast Inanna geopfert!“ Agelulf legte den Kopf schief. „Ich rechtfertige mich nicht dafür, du weißt, warum ich das getan habe.“ Ibor zeigte Zähne. „Wenn du jetzt wieder mit dem Traumtagebuch anfängst, reiße ich dir das Herz aus der Brust und scheiße darauf!“, grummelte er. Agelulf schwieg. Ihm lag nichts daran, zu diskutieren. Ibor taxierte ihn eine Weile schweigend, sah sich nochmal nach mir um, entdeckte aber nur den aufgebrachten Rakkarkattan, der um die Lichtung herumging und nach meiner Fährte suchte, und fragte: „Denkst du, sie kommt zurück?“ - „Zu mir, ja. Zu dir? Möglich“, antwortete Agelulf hart. „Was du gesagt hast, war schlimm, selbst wenn es wahr ist.“ So? Sogar er dachte so über mich? Kein Wunder. Letztlich war ich keine Werwölfin. Sie waren keine Manticorae. Wir würden einander nie verstehen. Weil ich sie nicht weiter belauschen wollte, wandte ich mich ab und überlegte, wohin ich ging, um Luft zu holen.

Zwar bekam ich mit, wie sie aufgebracht weiter diskutierten, aber kaum, dass mich von ihnen abwandte, erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Auf anderen Seite der Lichtung, Rakkarkattan war daran vorbei gehastet und achtete peinlich genau, der Mitte mit der falschen Quelle nicht zu nahe zu kommen, war eine Verschiebung. Wie Schlieren in der Luft an einem heißen Tag. Zwar hatten wir beginnenden Frühling, aber heiß war es nicht, wenn es überhaupt warm in Muralge wurde, dann nicht so, dass die Luft Schlieren bildete. Außerdem waren sie auf einen wenige Meter breiten Bereich begrenzt. Was war das? Ich näherte mich der Stelle, indem ich wie Rakkarkattan um die Lichtung herumging. Vom lauten Disput zwischen Agelulf und Ibor nahm ich keine Notiz mehr. Als ich wenige Meter von dem Phänomen entfernt war - bewegte es sich. Nicht wie Nebel, dann hätte ich es als etwas natürliches abgetan, sondern zielgerichtet in den Wald hinein, den Bäumen ausweichend. Als ich irritiert stehenblieb, blieb es auch stehen und waberte vor sich hin. Sobald ich den nächsten Schritt wagte, entfernte sich die Verschiebung wieder und hielt konsequent einen Abstand zu mir ein. Wenn ich stehen blieb, blieb sie auch stehen. Bewegte ich mich zur Seite, tat sie es genauso. War sie ein Wesen wie die drei Gestalten, vor denen ich geflohen war und die sich als Teile der Persönlichkeit Ânsgars herausgestellt hatten? Ich war mir nicht sicher. Erst als ich einen Schritt zurücktrat und überlegte, zu den anderen zurückzugehen, spürte ich einen Hauch, der mir ins Gesicht blies. Im selben Moment fielen Ärger, Zorn, Furcht, Unsicherheit und vieles weitere von mir ab. Der Duft von Flieder lockte mich, aber daneben war ein anderer. Er war vertraut, obwohl ich ihn nie gerochen hatte. Und ich wusste, warum. Das letzte Mal, als er mir begegnet ist, war ich im Leib meiner Mutter gewesen. Es gab kein Misstrauen mehr. Anstatt zurückzuweichen, folgte ich der Verschiebung ohne Vorsicht in den Wald hinein, die Stimmen der anderen wurden leiser, dumpfer und waren bald nicht mehr zu hören.

Ich hatte den Ort schonmal gesehen. In einem anderen Leben? Ich glaubte nicht an sowas, aber ich erkannte jeden Gegenstand, jedes Detail, jeden Anblick wieder. Die Verschiebung hatte mich in eine Verwerfung im Boden hinabgeführt, die eine natürliche Grenze über viele Kilometer zwischen zwei Teilen des Waldes bildete. Bevor ich ihr gefolgt war, hatte ich auf die andere Seite gesehen, dann zurück, dann wieder dorthin. Der Wald dort wirkte lebendiger und urtümlicher. Ich nahm keine Wege wahr, wie von Werwölfen oder anderen Kreaturen. Unberührt. Nicht bekannt. Geheimnisvoll. Dann folgte ich den schmalen Grat in die Verwerfung hinab, die sich kaum vom Rest des Waldes unterschied. Sie war fast zwanzig Meter breit und nur etwas fünf oder sechs tief, bevor ich wieder auf geradem Boden lief. In ihr wuchsen genauso Bäume wie oben, wenn auch weniger. Auffällig war, dass sie alle an den Rändern der Verwerfung wucherten, ihre Wipfel schauten darüber hinweg und bildeten eine lange Allee. Ich folgte der Verschiebung, durch die die Bäume aussahen, als führten sie Bauchtänze auf. In der Mitte wuchs eine Linie aus Wildblumen aller Art. Sie wurden von der Verschiebung nicht niedergedrückt, was ich erwartet hatte, weil ich bisher jemanden vermutet hatte, der sich vor mir verbarg, so wie ich mich vor Agelulf, Ibor und Rakkarkattan versteckte. Nach einem längeren Wegstück, während dessen sich nichts in der Verwerfung veränderte, sammelte ich endlich genug Mut, zu fragen: „Wer bist du?“ Die Verschiebung hielt kurz inne, entfernte sich dann aber weiter. Ich eilte ihr hinterher und fragte nochmal: „Wer bist du?“ Keine Antwort. Es war gewagt, als ich nach vorne stob, um sie zu berühren. Ich erwartete, einen festen Körper zu greifen. Stattdessen schwoll ein fürchterliches Brummen und Surren an, vor dem ich zurückwich, weil es in meinen Ohren wehtat. Eine Warnung? Nein, mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Was ich mit meinem Körper gehört hatte, schien natürlich gewesen zu sein. Hielt sie deshalb stets den exakt gleichen Abstand ein, um mir nicht wehzutun? Sie entfernte sich in derselben Geschwindigkeit wie vorher, als ob sie wusste, dass ich meine Lektion gelernt hatte und keinen zweiten Überfall wagte. In gewohntem Abstand hielt ich hinter schritt, die Verwerfung sank kaum wahrnehmbar ab, sodass die Wände links und rechts bald zehn Meter und höher waren. Eine weitere halbe Stunde später fünfzehn.

Wir erreichten eine Demarkation, ab der es nicht mehr weiterging. Eine Stufe innerhalb der Verwerfung, durch die der Weg endete. Das kam mir bekannt vor. Nur woher? Ein kleines Bächlein floss hier entlang - Wasser aus der Quelle? - stürzte die Stufe herab und bildete einen kleinen Wasserfall. Rundherum waren begrenzte Bereiche mit verschiedenen Gewächsen. Sie wucherten zu Büschen, wirkten aber so platziert, dass sie vor langer Zeit nur an einer Stelle gesprossen waren. Jemand hatte sie hier angelegt. Aber es fehlte etwas. In der Mitte war eine Vertiefung, in der das Wasser in den Boden abfloss. Die Verschiebung platzierte sich direkt darüber, sodass ich nicht hineinsehen konnte. Sie war aus Granit und endete in einem Loch. Ein Trichter. Mitten im Wald? Aus härtestem Gestein? Völlig unmöglich. Was machte der hier? Wo führte er hin? Die inneren Regionen Muralges waren Wildland, niemand hatte hier je etwas gebaut. Aber stimmte das? Das Wissen der Menschen und Werwölfe über Muralge war klein im Vergleich zu seiner Geschichte. Je länger in den merkwürdig unpassenden Ort betrachtete, desto mehr Details fielen mir auf und umso vertrauter wurde er für mich. Ein Bett aus Stein - ein Granitblock, der von den sprießenden Pflanzen überdeckt war. Die Überreste einer Vorrichtung, um das Wasser des herabfallenden Bächleins zu kanalisieren, längst zerfallen und mit feuchtem Moos bewachsen. Ich erinnerte mich an einen weiten Baldachin, der an den Bäumen befestigt war und das kleine Paradies überdachte. Sobald ich zu denen hinaufsah, entdeckte ich Rückstände an einigen, die darauf schließen ließen, dass an ihnen etwas befestigt gewesen war. Alte Seile, oder Ähnliches. Dort, wo sich die Verschiebung platziert hatte, hätte ein Obelisk über dem Trichter schweben sollen. Das Gefühl, das aufkam, war dasselbe, wie wenn man nach Jahren oder Jahrzehnten an einen Ort zurückkehrt. Aber ich war hier nie gewesen. Woher wusste ich das alles?

Nachdem ich mich ausreichend umgesehen habe, lenkte ich den Blick zurück auf die Verschiebung, die in Wahrheit keine war. Ich hatte sie oder ein Ding wie sie schonmal gesehen. Aber nicht als Kalanthe, sondern als jemand anderes. Wer - war ich eigentlich? Eine Manticora, das war klar. Aber wie viel steckte noch dahinter, als all meine Fähigkeiten, die ich derzeit entwickelte? Langsam bekam ich den Eindruck, dass es keine Grenzen für mich gab, solange ich mir keine vorstellte. Denn ich war immer noch unsichtbar. War es möglich, dass ich ein mit Allmacht geborenes Wesen war? „Du bist eine ... Schwachstelle, nicht wahr?“, fragte ich und wunderte mich zugleich über mich selbst. Ich sprach mit einem Phänomen, das mich hierhergeführt hatte, aber keinerlei Anzeichen zeigte, dass es sich dabei um eine Lebensform handelte. Hatte ich es erstmal ausgesprochen, erhielt ich Zugang zu Erinnerungen, die ich in diesem Leben nicht angesammelt hatte.

Eine Schwachstelle war eine begrenzte Region in der Zeit, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischten und keine Bedeutung mehr hatten. Sie war gefährlich und unberechenbar. Sie zu berühren bedeutete den sicheren Tod. Jeder, der es versuchte, wurde eingesogen, verändert und entweder als unkenntliches Monstrum wieder ausgespuckt, oder kam gar nicht mehr zurück. Ich war schonmal einer begegnet, habe sie aber nur aus der Ferne beobachtet. Die hatte eine Schneise der Zerstörungen hinterlassen. Warum war diese hier so anders? Sie zerstörte nicht, sie ignorierte alles, und verhielt sich zielgerichtet, indem sie mich hierher geführt hatte. Sie -

Sie - war ich! Sie war ... ich... Ich starrte die Schwachstelle an und fragte: „Sind wir eins? Ein und dasselbe?“ Keine Reaktion. Wenn sie ich war, blieb die Frage, welches Ich sie war? Eins aus der Vergangenheit oder der Zukunft? Oder eins aus einer anderen Welt? Einer Alternative? Im Prinzip war das egal. Nur dass ich mir selbst gegenüberstand, war wichtig. Denn wann oder von woher ich auch immer versuchte, in Kontakt mit mir selbst zu treten, der Grund war bedeutsam. Und was wollte ich mir sagen? Scheinbar war es unmöglich direkten Kontakt mit mir selbst aufzunehmen. Somit blieben nur indirekte Wege ohne Worte, Gesten, Mimik und alles, womit man mit jemand anderem kommunizieren kann. Es blieb nur, im richtigen Moment Aufmerksamkeit erregen und zu versuchen, demjenigen, dessen Aufmerksamkeit man will, im richtigen Moment zu begegnen und dazu zu bewegen, etwas zu tun, was man selbst nicht kann. Dass die Schwachstelle am Rande der Lichtung gewesen war, war kein Zufall, sondern genau abgestimmt. Das half mir nicht bei der Frage, was ich selbst von mir wollte. Nur, dass ich Schritt für Schritt dahinterkam, wie schwierig es gewesen sein muss, den richtigen Zeitpunkt zu treffen.

Ich setzte mich hin und bemerkte erstaunt, dass ich weder Blätter noch Grashalme unter mir bewegte oder abknickte. Ich schien sie nicht zu berühren. Mich selbst sah ich nicht. Da fiel mir wieder ein, dass ich noch unsichtbar war. Es war weder Wunsch, bewusster Gedanke oder ein Befehl in Geiste. Ich stellte nur fest, dass es nicht mehr nötig war, mich zu verstecken. Im selben Moment wurde ich sichtbar, die Blumen und das Gras unter mir wurden von meinem Gewicht zerdrückt und die Schwachstelle vor mir verschwand, so wie alles andere an dieser Stelle. Die Trichtervertiefung, das verwachsene Bett aus Stein, die Bäume, die den Baldachin getragen hatten. Alle Überbleibsel waren fort. Selbst der kleine Wasserfall war weg. Zurück blieb nur dessen ausgetrockneter Lauf und der Wald. Das führte mich zu dem Schluss, dass ich eine Version dieses Ortes gesehen hatte, als ich unsichtbar war. Darin war vieles vergangen. Aber jetzt deutete nichts mehr darauf hin, dass hier überhaupt jemand gelebt hatte. Dass ich hier gelebt hatte ... Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte hier einmal gehaust, glaubte ich. Nicht für lange, denn etwas oder jemand hat mich vertrieben. Aber es war mein zu Hause gewesen, in dem ich mich wohlgefühlt hatte.

Wo war der Trichter? Ich suchte die Stelle. Der Obelisk, der darüber geschwebt war, hatte eine wichtige Bedeutung, die mir nicht mehr einfiel. Sie war knapp außerhalb meines Zugriffs hinter einer Bewusstseinsgrenze, die für mich unmöglich war zu überschreiten. Aber wenn ich ihn wiederfand, half das schon. Ich versetzte mich ein zweites Mal in den Zustand der Unsichtbarkeit. Die Schwachstelle war weg, aber jetzt wusste ich wieder, wo der Trichter war. Ich stand davor, kehrte zurück in den Normalzustand und stellte mich mit klopfendem Herzen darauf. Die Aufregung kam nicht aus mir selbst, sondern schien eine Reaktion meines Körpers auf die Aura des Ortes zu sein. Ich stand kaum fünf Sekunden dort, als mich eine heißkalte Hand ergriff und meinen Verstand niederzwang, um mir etwas einzuträufeln, das ich gar nicht haben wollte, aber andererseits haben musste. Sie war da, ich sah sie. Sie tat mir weh! So weh! Ich lag am Boden, hatte den Mund aufgerissen und schrie stumm, was genau das war, was die Hand beabsichtigte. Sie kletterte über den Hals, den Kopf, dann die Stirn und das Gesicht, zum Schluss in meinem Mund hinein und wand sich einen Weg in meinen Körper. Ich röchelte und wehrte mich vergeblich, indem ich mich selbst würgte, um sie daran zu hindern, tiefer zu gelangen, was nichts bewirkte. Sie war nicht körperlich, sie war rein geistig, drang tiefer und tiefer, bis sie mein Herz erreichte, einfasste und zudrückte.

Da waren so viele Dinge, die mich überfluteten und in jede Vene eindrangen, bis sie brannten. Je mehr ich mich wehrte, desto schärfer wurde der Schmerz. Als ob ich eine Hand voll Pfefferkörner gegessen hätte. Ich wusste mir nicht zu helfen. Schreien nützte nichts, ankämpfen auch nicht. Also ließ ich das Unvermeidbare geschehen und wurde zum Spielball von wem oder was auch immer. Allein auf dem Boden winden, um meinen Schmerzen Ausdruck zu verleihen - das war die einzige Freiheit. Die Hand drückte fester und fester, mein Herz pochte stärker und stärker, bis es unter dem Druck dazu nicht mehr fähig war. Ich, Kalanthe, starb.

 

Aber nur kurz. Es war nötig, zu sterben. Oder fast. Nur im Zustand des Herzstillstands, bevor mein Geist den Körper verließ und das Blut in meinen Adern aufhörte zu fließen. Einen Moment, vor dem mein Gehirn jede Aktivität einstellte - in dem Augenblick wurde es ausgewechselt. Ganz in diesem Wortsinne. Mein bis dahin menschliches Herz wurde genommen und durch ein anderes ersetzt. Durch mich selbst ersetzt. Meine körperliche Entwicklung schritt seit Monaten voran, nicht die geistige. Die trat auf der Stelle oder hechelte atemlos hinterher, ohne aufzuholen. Aber wen wunderte es? Ein menschlicher zum Teil nicht mehr menschlicher Geist gebunden an einen Körper, der sich transformierte, aber in der Basis trotzdem menschlich blieb? Man kann aus Äpfeln keine Birnen machen, indem man ihnen nur das Äußere von Letzteren gab. Solange der Kern nicht ausgetauscht wurde, waren sie Äpfel. Zugegeben, ein hinkender Vergleich, aber die beste Beschreibung dessen, was mir widerfuhr.

Als ich zurückkam und meine Augen aufschlug, war alles dunkel und schwarz. Ich atmete flach. Warmfeuchte Luft, die seltsam modrig roch. Ich bewegte meinen Kopf leicht hin und her. Dann wurde es hell, vor mir feuchtes Fleisch und Zähne und mehr zuckendes Fleisch, das sich zurückzog. Nach und nach ordnete ich Formen und Farben und stellte fest, dass es ein Maul war, in dem mein Kopf gesteckt hatte. Es schloss sich. Der, dem es gehörte, entpuppte sich als Agelulf. Hatte er versucht, mich aufzuessen? Seine Augen waren so ... Wenn ich sie bisher sah, hatten sie gelblich geleuchtet. Doch heute war eines schwarz, das andere weiß. Wo in ihnen die Iris begann und aufhörte, erahnte ich nur. Er leckte sich über die Lefzen und betrachtete mich zufrieden lächelnd. Ich entdeckte ein paar frische Narben und Verletzungen in seinem Gesicht. „Da bist du ja wieder“, sagte er erleichtert. Keinen Augenblick später drängte sich Ibor in mein Blickfeld vor Agelulf, der mich ihm überließ. Mein Ibor. Er drückte mich an sich, als wäre ich eine Puppe und vergrub seine Schnauze in meinem Bauch. „Es geht ihr gut Ibor!“, sagte Agelulf laut hinter ihm. Der ignorierte seinen Bruder und ließ mich nicht los und wimmerte. Meine Hände - ich hatte noch Hände? - kletterten empor und gruben sich in sein Fell, um ihn beruhigend an einer Stelle knapp vor den Ohrmuscheln zu kraulen. Ein neuralgischer Punkt bei Werwölfen, durch den sie sich ... ja, es passierte bereits. Er beruhigte sich, sein Herzschlag verlangsamte, sein von Angst durchsetzter Geruch flaute ab. Woher wusste ich das? Hm. Ich wusste es einfach. Es war Erfahrung. Nur woher? Niemand, weder er noch Agelulf, hatten mich über diese Stelle aufgeklärt. Ibors Augen glänzten wie Edelsteine, während er mich mit einer Mischung aus vollendeter Zuneigung, Wut, Zorn und Sehnsucht ansah, dann über meine Wange leckte und heiser sagte: „Du bist anstrengend.“ Vorsichtig sah ich mich um. Ich war dort, wo ich das Bewusstsein verloren hatte. Dort, wo Kalanthe gestorben war. Der Name fühlte sich vertraut an, aber er war nicht mehr meiner. Den Neuen wusste ich nicht. Oder suchte ich mir selbst einen aus? Nein, er würde mir bald einfallen. Mit jedem verstreichenden Augenblick ordneten sich meine Gedanken und Erinnerungen neu. Hinter denen, die ich als Kalanthe erlebt hatte, waren so viele mehr, die ich nicht als Menschenfrau erfahren hatte, sondern als etwas und jemand anderes. Rakkarkattan hockte neben uns und betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf und besorgtem verletzten Gemüt. Ich löste mich von Ibor, der mich widerwillig freigab und näherte mich ihm. Rakkarkattan knurrte mich an. Er war wütend, mindestens genauso wie Ibor, vermutlich weit darüber hinaus. Ich hatte ihn erschaffen, damit er mich und mein Kind beschützte. Stattdessen floh und verbarg ich mich vor ihm, er wurde seiner Aufgabe nicht mehr gerecht. Die Rechnung dafür erhielt ich prompt. Sobald in Reichweite holte er aus und erwischte mich gezielt am Arm. Agelulf griff nicht ein, Ibor hingegen stürzte her und zerrte mich von ihm aufbellend fort. „Ibor, nein!“, rief ich. Meine Stimme war zu tief, verfehlte aber ihre Wirkung nicht. Er ließ mich sofort wieder los und sah mich entgeistert und vorwurfsvoll an. Der Schnitt war nicht tief und blutete nicht lange. Nichtmal eine Narbe würde zurückbleiben. Es hätte keinen Zweck gehabt, ihm zu erklären, warum Rakkarkattans Verhalten berechtigt war und ich Schuld auf mich geladen hatte. „Komm mit mir“, schlug ich vor, strich mit dem verletzten Arm über seinen rechten Innenschenkel und verdeckte mit der Hand einen Moment sein Gemächt. Das war die beste Möglichkeit, Ibors aufgebrachte Gefühle zur Ruhe zu bringen und ihn abzulenken. Ibor stutzte zwar, begleitete mich aber ohne Frage aus der Verwerfung heraus. Rakkarkattan und Agelulf sahen uns hinterher und blieben zurück.

An einer nicht einsehbaren Stelle zwischen Büschen und mehreren Bäumen. Er bleckte die Zähne zu einem verruchten Grinsen. Ich überraschte ihn, indem ich niederkniete und mit meinem Mund den Schaft verdeckte, aus dem bereits die Spitze seines hervorlugte. Er jaulte überrascht auf, blieb aber stehen, ließ mich machen und hielt bald meinen Kopf fest, damit in nicht abbrach. Das hatte ich nicht vor. Es galt ihn mit allen Mitteln zu beruhigen. Ich verschaffte ihm Befriedigung, indem ich mit Mund, Zunge und Zähnen massierte und schluckte.

Agelulf und Rakkarkattan hatten freilich alles gehört, Ibor war am Höhepunkt nicht leise gewesen. Als wir wieder bei ihnen waren, ließen sie sich nichts anmerken. Rakkarkattan empfand Ekel, ich schmeckte es in der Luft. Er fragte sich, warum ich einen Werwolf auf solche Art befriedigte? Seiner Meinung nach, war ich mehr wert und stand weit über ihnen. Dass er selbst einmal einer war, war ihm egal. Er verdrängte das erfolgreich. Agelulf war es recht. In seinen Augen half uns das, endlich voranzukommen. Innerlich war er aufgebracht und strebte ungeduldig weiter in Richtung Herz des Waldes. Ibors Gedanken kreisten um mich. Er fragte sich, ob und wie er ohne mich weiterleben sollte, sobald Agelulf mich in sich aufgenommen hatte. Doch ein wachsender Teil in ihm freundete sich mit dem Gedanken an. „Habt ihr euch versöhnt?“, fragte ich Ibor und Agelulf. Letzterer legte fragend den Kopf schief, Ibor wiederum schwieg. „Ich denke nicht, dass Ibor und ich uns je ernsthaft gestritten haben“, entgegnete er. „Ihr wolltet euch töten“, merkte ich an. „Das sah für dich so aus. In Wahrheit war es nicht halb so gefährlich, wie du dachtest. Wir bringen einander nur selten um, noch seltener, wenn wir dasselbe Blut teilen.“ - „Ich verstehe“, sagte ich. „Tust du das?“, hakte er nach. Ich ging darauf nicht ein, es war unwichtig. „Was hast du eben mit mir gemacht?“, fragte ich stattdessen. „Wolltest du mich essen?“ Agelulf fuhr mit der Zunge über seine Zähne. Ibor und Rakkarkattan taten es ihm aus Reflex gleich. „Nein, ich habe dich wiederbelebt“, antwortete er. „Aber weil ich keine Lippen habe, musste ich deinen ganzen Kopf in den Rachen nehmen. Ich gebe zu, dass die Versuchung groß war, ihn abzubeißen.“ Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Kurz bevor er mich freigelassen hatte, hatte ich einen Sog gespürt. Agelulf taxierte mich, als ich nichts erwiderte. „Du hast dich schon wieder weiterbewegt“, stellte er fest. Ibor spitzte die Ohren, selbst Rakkarkattan war verwundert und betrachtete mich eingehend. „Er hat recht, dein Herzschlag hat sich verändert“, stellte er fest. „Endlich bist du kein Mensch mehr.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das stimmt nur zum Teil.“ - „Ach?“, fragte Ibor. „Bis auf dein Äußeres bist du für mich kaum menschlich. Du hast dich vor uns in Luft aufgelöst!“ Ich verdrehte die Augen. „Das sollte dich nicht wundern, nach dem, was du mir an den Kopf geworfen hast.“ Ibor verstand die Metapher nicht und entgegnete aufgebracht: „Ich habe dir nichts an den Kopf geworfen!“ Als ich schweigend darüber schmunzelte, fragte er: „Moment! Du meinst das anders, oder?“ Ich nickte und sagte: „Was du gesagt hast, hat mich verletzt, aber weitergebracht. Ich habe diesen Ort hier entdeckt.“ An Agelulf gerichtet: „Ich bin hier gestorben, bevor du mich zurückgeholt hast. Es war wichtig, dass es geschah.“ Agelulfs Augen funkelten aufgeregt, sobald ich sagte: „Ich stehe auf der höchsten Stufe, die ich erreichen kann. Meine Vollendung dauert nicht mehr lange, es sind nur wenige Schritte bis zu dem Punkt, an dem du mich haben willst.“ Er sog geräuschvoll die Luft ein. „Wo sind wir hier?“, fragte er, um sich selbst abzulenken und zu übergehen, wie ihm der Speichel aus dem Maul floss und in langen Fäden zu Boden tropfte. „In meinem zu Hause“, antwortete ich souverän, während Ibor und sogar Rakkarkattan skeptisch schauten. Nur Agelulfs blieb nach außen hin unberührt, obwohl ich ihm die Frage auf der Stirn ansah. „Ich habe hier vor langer Zeit gelebt“, erklärte ich. „Es war ein idyllischer Ort und nicht verwildert wie jetzt.“ - „Was heißt vor langer Zeit?“, fragte Agelulf. „Vor sehr langer Zeit. Aber das ist unbedeutend. Ich erkläre es euch später. Wichtiger ist was anderes. Sagt dir der Name Mordûn etwas?“, fragte ich ihn. Agelulf stutzte, überlegte und schüttelte den Kopf. „Ich kenne den Namen nicht, aber er hört sich vertraut an.“ Er schloss einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren sie lila. „Er ist ein weiterer Geist, nicht wahr?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob er auf deinem Weg liegt oder du ihn schon getroffen hast. Du bist es nicht, der auf ihn trifft, sondern ein anderer.“ Agelulf zögerte. „Ein anderer? Wer?“ - „Das ist unwichtig. Wichtig ist, wer Mordûn ist“, entgegnete ich. „Ich denke, er ist ein Dynyol.“ Seine Pupillen erweiterten sich. „Ein Verwandter Erliks?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht einmal, woher ich das alles weiß.“ - „Aber du weißt es“, erwiderte er. „Warum weiß ich es nicht? Im Traumtagebuch steht nichts darüber, dass du mir von diesem Mann erzählen wirst.“ Stimmt, aber etwas hatte sich in Bezug auf mich verändert. „Ich stehe außerhalb davon“, sagte ich tonlos. „Ähnlich wie Okka, beeinflusse ich den Verlauf, ohne ihn zu brechen oder selbst verändert zu werden.“ Ich sah Agelulf und danach Ibor und Rakkarkattan an, hielt eine Hand auf meinem Bauch und sagte: „Ich bin eure Mutter.“ Zuerst verstand niemand, was ich damit ausdrückte. Dann quollen Ibors Augen hervor, als es ihm dämmerte. „Du bist unsere Mutter?“ Sein Fell sträubte sich. „Die Mutter der Werwölfe lebte vor Jahrtausenden!“ Ich nickte und sagte: „Ich weiß, wie absurd sich das anhört. Aber es ist die Wahrheit. Ich bin eure Mutter. Die aller Werwölfe.“ Sprachlosigkeit. Starren. Ibor schüttete missbilligend den Kopf. „Hat Agelulf dich jetzt soweit? Oder liegt es daran, dass du fast gestorben bist?“, fragte er grummelnd. „Nein, Ibor, weder das eine noch das andere. Ich bin eure Mutter und werde den ersten aller Werwölfe zur Welt bringen.“ Ibor sackte in sich zusammen. „Das ist verrückt.“ - „Nein, ist es nicht“, sagte Agelulf. Seine Maulwinkel kletterten zu einem entstellten Grinsen hinauf, das mir früher Angst eingejagt hätte. „Aber bevor du uns erklärst, was es damit auf sich hat, will ich hören, was du über den Mann weißt, den du Mordûn nennst. Das hat Vorrang.“

Er hatte recht. Ich sprang in den Themen hin und her, ohne Sinn oder Verstand. „Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte Rakkarkattan. „Sie ist erst aufgewacht.“ - „Das fragst ausgerechnet du?“, wunderte sich Agelulf. „Sieh sie dir an. Sie ist lebendiger denn je und uns allen voraus. Tod und Schwäche können ihr nichts mehr anhaben.“ Das stimmte, ich fühlte mich nicht erschöpft oder als wäre ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Sein Blick war gierig, er hatte erkannt, was ich spürte, seit er mich wiederbelebt hat. Ich war vollendet. Sobald mein Kind geboren wurde, war der Moment gekommen, an dem er mir das Herz stahl. „Es geht mir gut“, sagte ich, denn auch Ibor taxierte mich skeptisch. „Außerdem ist es keine Kraftanstrengung, nur zu erzählen.“ Ich räusperte mich, es war merkwürdig, dass ich Agelulf von einem Geist erzählte und nicht umgekehrt. „Der Geist, von dem ich erzähle, heißt Mordûn“, wiederholte ich. „Er ist ein Besessener, der alles aufgibt und opfert, um zu finden, was er sucht. Selbst seine Familie und seine Prinzipien. Sein Schicksal ist indirekt mit Umbras verbunden.“