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Zwölfter Abschnitt "Mordûn"


Mordûn

Ich bin schon zu lange auf der Suche nach einer Lösung. Eine Zwangsneurose.

Ich denke über sie nach. Oft. Jeden Tag. Alle paar Sekunden. In regelmäßigem Rhythmus, der den Ablauf aller Handlungen bestimmt.

Vor allem und jedem kommt sie. Alles andere steht hinter ihr zurück. Manchmal liebe ich, viel öfter hasse ich sie. Sie ist eine Hure. Ist sie bei mir, gibt sie mir betörende Glückseligkeit. Aber allzu bald verlässt sie mich und ein eifersüchtiges Gefühl bleibt zurück, wenn mir bewusst wird, dass sie dann jemand anderem als Muse dient.

Diese unmögliche Formel, die mich seit dreißig Jahren betrügt. Immer dann, wenn ich aufgebe, wirft ein klitzekleines Puzzleteil hin, mit dem ich mich erhebe und weitermache!

In acht Tagen feiere ich meinen dreiundfünfzigsten Namenstag. Allein. Im Nirgendwo.

Meine Freunde und Begleiter ließ ich zurück. Ich habe sie geopfert, kannibalischen Stämmen überlassen oder ihnen die Kehlen aufgeschlitzt, damit die Übrigen genug Nahrung auf dem entbehrlichen Weg hatten. Ich werde ihre verzweifelten Blicke und Beleidigungen vor ihrem Tod nie vergessen.

Meine geliebte Frau – sie möge mir vergeben – habe ich an einen skrupellosen Sadisten und Vergewaltiger verkauft, damit ich eine Grenze passieren durfte, die sonst unüberwindbar war.

Ich erinnere mich an ihre hysterischen Schreie und wie sie mich verfluchte, als sie von unserem auf der Reise geborenen Sohn getrennt wurde. Zu dem Zeitpunkt empfand ich schon keine Reue mehr für irgendeine meiner Taten. Als sie sie mir fortnahmen und vor meinen Augen von gleich drei Kerlen gerammt wurde, war mir das egal.

Ihr folgten weitere Männer und Frauen, die ich anheuert und von mir stieß, um mein Ziel zu erreichen.

Als ich dann nichts mehr hatte – keine Begleiter, keinen Proviant, nur meinen besessenen Willen – opferte ich meinen Sohn, vier Sommer alt. Ich stieß ihm ein Messer ins Herz, während er schlief, damit kein kostbares Blut verloren ging. Ich nahm ihn auseinander und aß ihn Stück für Stück, bis nur Knochen übrigblieben.

Es war kein Verlust. Ich habe ihn nie geliebt. Geliebt habe ich nur die Formel. Dieses Monstrum.

Bin ich ein Monstrum?

Es muss so sein. Nur Wesen von gleicher Beschaffenheit gesellen sich zueinander.

Die Formel. 0 = 1-1. Eine Gleichung. Leicht zu lösen, sicherlich. Doch sind es die einfachsten Dinge, die dem Geist die größten Rätsel auferlegen. In ihrer Tragweiter unerreicht verändern sie das Sein der Welt. Aller Welten.

Die Formel repräsentiert das Sein und das Nichts. Nach Letzterem sehne ich mich. Ich will es ergründen, selbst wenn es bedeutet, dass ich die ganze Welt opfere.

Das Nichts wird repräsentiert durch die Null und das Sein durch die positive Eins. Doch was ist mit der negativen Eins?

Das Nichts = das Sein – das Sein?

Was ist dieses andere, negative Sein? Eine andere Welt? Nein, denn dann wäre sie positiv und die Formel würde lauten 0 = 1+1.

Es muss etwas dem Sein Entgegengesetztes geben. Ein Anti-Sein.

Danach suche ich: das Anti-Sein. Erst durch dieses und unserem Sein gelange ich zum Nichts.

Doch es ist so schwer zu erreichen! Zu begreifen! Es wird mir keine Hilfe bei dessen Erlangung zuteilwerden.

Nicht die Physik, nicht die Chemie, nicht die Mathematik, Anthropologie, Literatur, Philosophie, Religion, Psychologie kann mir helfen. Weder alleine noch gemein, denn sie sind alle wertlos und ungeeignet für diese wichtigste aller Fragen.

Ich muss es alleine schaffen. Auf mich gestellt.

Es muss – es muss! – ein Teil des Anti-Seins auf unserer Seins-Ebene existieren. Ich weiß, in welcher Form es zu finden ist. Das schwarze Herz Shardiks. Es enthält die Anti-Essenz, nur einen winzigen Teil davon, nicht einmal so groß wie ein Staubkorn. Es wird die Tür aufstoßen und das Nichts bringen. Ich weiß es einfach!

Auf meinen Reisen erfuhr ich einiges über das schwarze Herz. Es ist kein Artefakt oder eine Reliquie, sondern unterliegt wie wir Menschen einem Lebenszyklus. Es wird geboren, lebt eine Weile, stirbt und wird wiedergeboren. Das macht es schwer, es zu lokalisieren.

Die meisten sind Stümper, die behaupten, dass es böse sei. Unsinn! Das schwarze Herz ist neutral, wie jedes Lebewesen, das existiert. Es wirkt böse, weil es die Umkehrung aller Dinge ist. Das Negativ.

Ich bin mir sicher, unsere Welt kommt dem Lebewesen, das ihm als Wirt dient, ebenso niederträchtig vor. Andererseits vermute ich, dass es groß und weise ist, weil es die Dinge anders wahrnimmt.

Zum Glück habe ich durch lange Suche Kenntnis über den Aufenthaltsort des Herzens erlangt! Der Norden, das Nordgebirge! Nahe dem Ort, an dem die Schmelze stattfand, die die Uralten verursachten. Ich bin davon überzeugt, dass es ihr gescheiterter Versuch war, das Nichts zu ergründen.

Dorthin reiste ich.

Leider nimmt meine Reise ein bitteres Ende. Die Drakonier, die Norddrachen, haben mich in ihre Gewalt gebracht. Sie werden mich nicht mehr gehen lassem, ich werde als Hauptspeise in ihren Mägen enden.

Grausames Schicksal! Stirbt doch mit mir so viel Wissen, von dem ich keine Gelegenheit mehr erhalte, es zu ergänzen.

Dreckiges Pack! Sollen sie verflucht sein! Irgendwann wird jemand kommen, um das Geheimnis zu lüften, weil ich es nicht werde!

 

Sie bringen mich zu dem, den sie Anführer nennen. Ich bin ein wenig enttäuscht, einem gewöhnlichen Drakonier zu begegnen, ohne jedwede Besonderheit, um dessen Stellung hervorzuheben, bis auf die Tatsache, dass er ein wenig – nur ein wenig – beleibter ist, als die anderen.

Wie er mich ansieht ... seltsam eindringlich. Dann rinnt ihm der Seiber über die Kiefer. Er sieht in mir einen Leckerbissen.

Sie nennen sich Krieger, dabei sind sie nicht mehr als dumme, halsstarrige Wilde.

Zu sprechen sehen sie als Schwäche an. Sie vermeiden es, weshalb sie nicht eben redselig sind. Bis auf ihren Anführer, der sich von seinem steinernen Sitz erhebt, sich nähert und mich eingehen beschnüffelt wie ein Hund.

Als er mir seinen Atem entgegenbläst, halte ich mich zurück, um nicht zu würgen. Er stinkt widerwärtig! Er fährt mit ausgestreckter Zunge über meine Wangen. Wäre mein Bauch nicht leer, ich hätte mich spätestens jetzt erbrochen.

„Du findest meinen Atem schlecht?“, fragt er zu meinem Erstaunen und grinste mich niederträchtig an. Seine Stimme ist dunkel und sonor. Deutlich zu erkennen, dass er nicht oft Worte sprach. „Die meisten Fotzen unten im Berg lieben ihn.“ Er lacht auf, wodurch ich gezwungenermaßen tief in den Schlund sehe, der mich bald verschlingt.

„Ihr anderen, verschwindet!“, blafft er. Die einen grinsen, die anderen grollen unzufrieden. Sie alle verlassen den Raum, eine rundliche Höhle tief im Berg, unter lautem Stampfen.

Nachdem alle gegangen sind, setzt er sich wieder auf den schmucklosen Thron und betrachtet mich eine Weile mit seinen golden stechenden Augen. Mit der flachen Klaue klopft er sich auf seinen Bauch und sagt: „Hier bist du bald drin, Mensch. Es gibt nichts, was du dagegen machen kannst. Fürchtest du dich?“

Mich fürchten?! Verspottet mich die Salamanderechse etwa? Ich habe Schrecklicheres erlebt und verbrochen! Das einzige, wovor ich mich fürchte, war meine Unwissenheit über das Nichts.

Bevor ich etwas Trotziges erwidere, feixt der Drakonier laut geifernd und sagt: „Nein, du hast keine Angst. Schade! Angst ist eine leckere Beilage.“

Schon wieder. Liest dieses Vieh etwa meine Gedanken?

„Nein, das nicht“, erwidert er und schüttelt den massigen Kopf. „Ich rieche sie wie jeder meiner Brüder im Berg.“

Ich habe von den Fähigkeiten der Norddrachen gehört, sie aber für Unsinn gehalten, was sich aber Irrtum herausstellt.

„Was willst du von mir, Ungeheuer?“, frage ich erhobenen Hauptes. „Wenn du mich fressen willst, dann tu es gefälligst!“

„Oho! Er redet mit mir!“, verspottet er mich, spielt überrascht und grinst dann breit und seine Zähne zeigend. „Lass mir meinen Spaß, Mensch. Immerhin ist doch dein Ziel, das Nichts zu finden, oder?“

Ich horche auf. „Was weiß eine falsche Echse schon über das Nichts?“, entgegne ich geringschätzig. Woher weiß er davon? Ich habe nicht daran gedacht! Oder sind seine Fähigkeiten, Gedanken durch Körpergerüche zu lesen, weiter entwickelt, als er andeutete?

„Eine ganze Menge“, antwortet er. „Immerhin schlägt in mir das schwarze Herz.“

„Du lügst“, halte ich ihm entgegen. Das ist völlig unmöglich! Ausgeschlossen! Er? Eine etwas bessere Echse?! Niemals!

Kaum ausgesprochen, knackt seine Brust und reißt auf. Hervor tritt ein schwarzes Organ, gemacht aus purer Finsternis, die das ohnehin dämmrige Licht der Höhle verblassen lässt. Er stöhnt schmerzvoll, seinen Körper durchzucken Wellen im Rhythmus des Herzschlags. Unheilvoll und furchteinflößend. Faszination und Ekel ergreifen meinen Verstand. Seine Augen sind nicht golden, das ist eine Sinnestäuschung. Sie sind schwarz.

„Glaubst du mir jetzt?“, fragt er. „Erkennst du mich jetzt?“

Meine Beine geben nach, ich falle auf die Knie. Die letzten dreißig Jahre holten mich in Gedanken wieder ein. All die Dinge, die ich getan, all die Wege, die ich beschritten hatte. Der Schmerz, den ich ertragen musste. Das Leid, das ich anderen zufügte ...

Die Suche ist vorbei, ich habe meinen Gott gefunden und ihn nicht erkannt! Beschämend!

Der Drakonier winkt ab.

„Keine falsche Verehrung, Mensch. Darauf bin ich nicht aus“, sagt er abfällig. Seine Knochen knacken und das Herz zieht sich zurück, verschwindet in der Brust und wird von Rippen und Schuppen verdeckt. Danach grinst er. „Du hast viele Fragen. Nutze die wenige Zeit, die dir bleibt, bevor ich dich verspeise.“

Ich bin paralysiert und finde keine Worte. Nur Gestammel. Wie gerne hätte ich geweint. Ich kann nicht.

Mein Gegenüber seufzt. „Ich dachte mir, dass das passiert.“ Er beugt sich vor und stützt mit den Ellbogen auf seinen Knien. „Dann fange ich eben an. Für die nächste Stunde wirst du mich Breitmaul nennen. Mein Name und mein Titel. Und wie heißt du?“

Ich schlucke hart. „Ich ... – Mordûn. Ich heiße Mordûn oddi Dynyol“, antworte ich und finde einen Teil Selbstsicherheit wieder. „Ich bin gekommen, um mit dem schwarzen Herz das Nichts zu beschwören. Um Erkenntnis zu erlangen!“

Breitmaul klatscht Beifall, ich sehe keinen Hohn in seinen Augen. „Gäbe es nur mehr Menschen wie dich, müsste ich nicht so viele Leben durchwandern, um mein Ziel zu erreichen“, sagt er begeistert.

Ich bin stolz. Ich habe ihn gefunden und er gibt mir die Genugtuung, die ich brauche.

Abrupt hört er auf und fixiert mich dunkel. „Und dass es immer wieder Dynyols sind, mit denen ich zu tun habe, ist Fluch und Segen zugleich. Ihr seid lästige kleine Helfer.“

Ich bin verwirrt. Bin ich etwa nicht der erste meiner Familie, die ihm begegnet?

„Du bist der Erste von euch, der mir in meiner jetzigen Form begegnet“, erwidert Breitmaul. „Aber ich habe schon ein paar deiner Leute getroffen. Manche waren für mich, andere gegen mich.“ Er schüttelt dumpf auflachend den Kopf. „Zurück zu den ernsten Dingen: Ich beantworte so viele Fragen, wie ich kann, bevor ich dich fresse. Überleg dir gut, welche das sind. Wenn meine Leute zurückkommen und du bist noch hier, werden sie dich verschlingen.“

Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen, schweige zuerst und sammle mich. Dann stelle ich die wichtigste Frage, die mich beschäftigt: „Was ist das Nichts?“

Breitmaul lächelt verschmitzt. „Du gehst gleich in die Vollen? Gefällt mir!“ Er räuspert sich und speit aus. „Die Antwort ist so leicht zu beantworten, wie die Frage gestellt ist. Das Nichts ist – nichts. Abwesenheit von allem. Mehr nicht.“

Ich bin enttäuscht und will protestieren, doch Breitmaul kommt mir zuvor: „Ich weiß, was du sagen willst! Und ich sage: Nein! Deine Leute, Philosophen, Zahlenmenschen, Naturbeobachter. Sie haben alle unrecht. Das Nichts lässt sich mit nichts anderem vergleichen als dem Nichts. Da stimmst du zu, oder? Denn sonst wäre es etwas mit Substanz, selbst wenn sie nur gedacht ist. Dann wäre es nicht mehr das Nichts.“

„Aber – es kann doch nicht so simpel sein! Das Nichts ist die Erfüllung! Das, woraus die Welt hervorgegangen ist!“

Breitmaul grummelt genervt.

„Es ist immer dasselbe. Keine Sprache der Welt ist ausreichend entwickelt und komplex genug, um das Nichts zu beschreiben und auszudrücken, was nicht ist.“

„Was soll das heißen? Sprich klar!“, fordere ich fast hysterisch.

Die Stimmung zwischen uns verändert sich. Wird gefährlich. Er ist mit mir nicht zufrieden. Wie ich ihn behandle. Respektlos.

„Das Nichts ist ein Maximum und gleichzeitig ein Minimum. Das Maximum an Ab- und das Minimum an Anwesenheit. Es existiert nichts darüber oder darunter. Wenn jemand durch Sprache befähigt wäre, das Nichts zu erklären – nun, dann wäre sie selbst ein Maximum und damit das Nichts. Dann würden wir dieses Gespräch nicht führen und es stattdessen beschwören.“

All das Gerede kenne ich bereits. Ich ziele mit meiner Frage auf etwas anderes ab. Ich schreie ihn an: „Soll das heißen, du hast jemandem das Nichts erklärt?!“

„Einmal?!“, fährt er mich an. „Unzählige Male! Denkst du, du bist der Erste, der mich gefunden hat? Vor dir kamen tausende, die dieselbe Frage stellten. Alle so besessen wie du! Sogar noch mehr!“

Was er mir offenbart, macht mir auf schreckliche Art klar, dass ich der Letzte in einer langen Kette von Männern bin, die nach dem verborgenen Wissen streben.

„Es waren nicht nur Kerle, zu keiner Zeit“, sagt er lakonisch. „Mindestens genauso viele Frauen. Womöglich ein paar mehr. Sie haben ein natürliches Interesse an geheimen und verbotenen Dingen.“

Mein Blick ist leer, ich schaue nirgendwo hin. Eine Weile mustert er mich. „Ich will dir nichts vormachen, Mordûn, ich kann dir nicht genau sagen, was das Nichts ist. Nur, dass ich der Einzige bin, der – ich sage mal – damit in Kontakt getreten ist und dadurch die beste Idee davon hat.“

Das tröstet mich nicht. In dem Wust und Gedankengewirr meines Geistes höre ich mich tonlos fragen: „Was ist mit der Formel? Woher kommt sie?“

Breitmaul nickt verständnisvoll wie ein Vater. „Die Formel. Sie ergibt die weit interessantere Frage.“ Er hält sich den Bauch, als er anfängt, euphorisch zu lachen.

Ich sehe nicht, was so lustig an der Frage ist, bis ich darüber nachdenke, mit wem ich es zu tun habe. Für ihn ist unser Gespräch eine amüsante Abwechslung mit einem Diskussionspartner, den er nicht als ebenbürtig sieht, sondern als Leckerbissen und kleinen Fisch. Für andere Drakonier sähe es aus, als spricht er mit seinem Essen, das ihm antwortet. Der Gedanke ist niederschmetternd und würdelos. Ich bin eine der weisesten Personen, die leben, doch für ihn bin ich wie ein Nutztier, das dazu da ist, gegessen zu werden.

„Endlich erkennst du es!“, gratuliert er, nachdem er sich wieder gesammelt hat. „Aber du bist nicht wie ein Nutztier. Nein, in meinen Augen bist du eins.“ Er sammelt sich und wechselt das Thema: „Die Formel. Die ist so eine Sache für sich ... woher sie kommt, weiß ich nicht. Ich bin nicht der, der sie aufgestellt hat. Sie sagt alles aus, was man wissen muss, um das zu bekommen, was du suchst. Zumindest so, wie wir beide es anstreben.“

„Die Mathematiker der Hyperboreer haben sie aufgestellt“, wende ich ein. „Oder etwa nicht?“ Es ist die am meisten verbreitete Meinung unter Historikern.

„Und wie alt sind die Hyperboreer?“, entgegnet er, als wäre ich sein ahnungsloser Schüler. Ich zucke mit den Achseln. „Eben!“, ruft er aus. „Ihr Menschen könnt ihr Alter nicht einmal schätzen! Wieso glaubst du also, dass sie die Ersten waren?“

Ich zucke wieder mit den Achseln und komme mir dümmlich vor. „Weil sie die höchstentwickelte Kultur der Welt waren ...“, antworte ich mutlos.

„Und an was machst du das fest?“, fragt Breitmaul herausfordernd. „An technischer Entwicklung? Kulturellem Fortschritt? Geistige und körperliche Fähigkeiten? Nein!“, brüllt er wütend. „Sie waren genauso entwickelt, wie jede andere Kultur vor ihnen. Und wie alle stießen sie auf Grenzen, die sie nicht überschreiten konnten und zugrunde gegangen sind, als sie es versuchten.“ Er greift nach einem Hornbecher neben sich und trinkt etwas. Ich glaube, es ist Blut, sein Maul ist anschließend leicht rot. „Die Uralten wussten genauso wenig, woher sie kommt“, fährt er fort. „Ich war dabei, als sie sie entdeckten.“

„Entdeckten? Wieso entdeckten?“, frage ich stutzig. Das war absurd! Abstrus!

„Wie gesagt, sie war schon vorhanden“, sagt er. „Aber es gibt ein Problem: Es gibt keine Überlieferungen, dass es vorher ein Volk gab, dass sie entdeckte. Sie waren die Ersten.“

„Wieso sollte ich das glauben?“, frage ich misstrauisch, worauf Breitmaul den Kopf hin und her wiegt.

„Weil ich, obwohl ich sie kannte, nicht derjenige war, der sie ihnen gab. Das hatten sie selbst geschafft, ohne mich. Die Folgerung war, dass sie immer da gewesen ist, als Konstante, oder dass sie jemand angestoßen hat, worauf das Sein und Anti-Sein erst entstanden sind. Eine Macht aus dem Nichts? Vermutlich nicht. Eher, dass es das Nichts selbst war“, erklärt er.

Ich bin durcheinander. Das Nichts selbst hat die Formel geschaffen? Wie? Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, ob meine Muse, die mich über Jahre hinweg begleitet und mir hilft, ein Teil des Nichts ist?

Breitmaul grinst und ich erkenne, dass er meine Gedanken verfolgt.

„Weißt du, was ich interessant finde?“, fragt er, ohne eine Antwort abzuwarten. „Es gibt Wesen und Personen, die von dem, was du Muse nennst, dazu getrieben werden, das Nichts zu beschwören. Fast so, als habe es uns versehentlich erschaffen und jetzt versucht es, seinen Fehler umzukehren.“ Er grollt. „Aber egal. Die Formel ist so alt wie Sein und Anti-Sein selbst. Das bedeutet, dass sie nicht in die Welt gespeist wurde, sondern die Welt in sie.“

Ich schüttele ungläubig den Kopf. „Das ist Wahnsinn!“, erwidere ich atemlos. Ich schwitze, mein Herz will mir aus der Brust springen. Meine ganze Denkweise, mein sicher geglaubtes Verständnis über die Welt und ihre Struktur gerät ins Wanken und wird niedergerissen.

„Ja, das ist es“, stimmt Breitmaul nachdenklich zu. „Aber Wahnsinn ist für das Verständnis des Nichts Voraussetzung. Für einen einzigen Verstand ist es nicht fassbar. Was das betrifft, hat jeder Wahnsinnige uns beiden viel voraus. Die Realität, wie wir sie wahrnehmen, erkennen sie nicht. Dafür erkennen sie Dinge, die hinter dem Schleier stehen.“

Ich versuche, die wabernden Gedanken zu ordnen, die er mir einflößt. Die Ruhe täuscht. Ich bin aufgebracht und stelle eine weitere Frage, um meinen Geist zu beschäftigen und zu beruhigen. „Das Anti-Sein...“, sage ich tonlos.

Breitmaul nickt. „Du begibst dich auf vermeintlich sicheres Terrain? Ist nicht das Schlechteste. Obwohl meine Antwort dich wieder enttäuschen wird.“

Ich habe das befürchtet, doch die Frage ist gestellt und ich will die Antwort wissen, wie sie auch lautet.

„Das Anti-Sein ist die Umkehrung aller Dinge bis auf die kleinste Ebene“, erklärt er. „Doch Sein und Anti-Sein ähneln sich. Sie sind Zwillinge. Was hier lebt, ist auf der anderen Seite tot und umgekehrt. Am ehesten ist das über Gegensätze zu verstehen. Bei uns ist Feuer brennend heiß, aus der anderen Seite brennend kalt.“

„Brennend kalt?“, wende ich ein. „Eis kann brennen?“

„Sowohl dort als auch hier, ja“, nickt er. „Aber im Vergleich ist das eine unbedeutende Begrifflichkeit. Die Wahrnehmung dort ist ins Gegenteil verkehrt.“

„Du meinst, alles, was wir als kalt empfinden, empfindet man dort als heiß?“, ergänze ich. Breitmaul grinst schief.

„Du begreifst es. Ja, so ist es. Dadurch ist es egal, ob du hier oder dort bist, du würdest keinen Unterschied merken. Nur ein Wesen, das von der einen auf die andere Seite wechselt, sieht ihn. Jemand wie ich.“

„Aber besteht nicht nur das schwarze Herz in dir aus einem Teil des Anti-Seins?“, wundere ich mich. „Wieso sagst du ‚Wesen‘?“

„Sogar noch weniger in mir besteht aus dem Anti-Sein!“, ruft er aus. „Ein Teil, der so klein ist, dass du ihn nicht erkennst! Aber das kleine Stück einer anderen ‚Welt‘ reicht schon, mein gesamtes Wesen zu verändern.“

„Wie – bist du zu uns gelangt?“, frage ich und stelle die Schlüsselfrage, ohne es zu wissen.

Breitmaul klatscht seine Klauen auf den Schoß. „Ich hatte schon Angst, du fragst gar nicht mehr. Die Zeit ist bald um!“, freut er sich wie ein Kleinkind. „Eins habe ich dir bisher nicht verraten. Die andere Seite, das Anti-Sein, gibt es nicht mehr.“

Ich starre ihn an. Was sagt er? Wie kann das sein? Oder lügt er?

„Oh, nein, nein!“, entgegnet er. „Lügen? Das habe ich nicht nötig. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage.“

„Aber – wie? Wie ist das möglich? Das Anti-Sein muss neben dem Sein existieren, sonst wären wir nicht mehr hier!“, protestiere ich vergeblich.

„Du kannst es nicht lassen, was?“, grollt er gereizt. „Deine Leute liegen falsch! Alle lagen seit jeher falsch. Die Realität ist, dass ich mit einem Teil eurer Welt, meine zerstört habe. Doch das reicht nicht aus. Beide Sein-Formen sind miteinander verbunden, aber nicht symbiotisch. Was dem einen widerfährt, muss nicht zwingend der anderen passieren. Das wurde mir zu spät klar, wodurch mir nichts übrigblieb, als den letzten Teil meiner Heimat zu nehmen und ihn hierher zu bringen, damit ich ihn irgendwann als Anfang für das Ende verwenden kann.“

„Existieren wir deshalb noch? Weil du mit einem Stück deiner Heimat hier bist?“

Er nickt. „Solange ein Stück davon da ist, bleibt eure Welt erhalten.“

„Was hindert dich daran, es zu zerstören?“, frage ich, als mir im selben Moment klar, warum, und ich die Frage selbst beantworte: „Du kannst nicht. Selbst wenn du es wolltest, oder?“

Sein Gesicht wird zur zornigen Fratze. Er spuckt aus und zertrümmert mit einem Schlag die rechte Armlehne seines Steinthrones. „Ja, so ist es leider! Ich habe es versucht! Aber mich selbst zu töten bringt nichts. Dann transformiert der letzte Teil in eine andere Form. Was glaubst du, warum ich schon so lange hier bin?!“ Er brüllt seinen Ärger heraus. Seine Stimme muss im ganzen Berg zu hören sein.

Er ist vielleicht schon millionen Jahre hier und es ist ihm nicht gelungen, das schwarze Herz zu zerstören. Breitmauls Frustration muss grenzenlos sein, dass sich ein Teil seiner selbst gegen ihn stellt. Auf undefinierbare Weise habe ich Mitleid und fühle mit ihm.

„Erspar mir dein Mitleid!“, fährt er mich an. „Glaubst du, es ist mir einen deut wert, dass du dir Gedanken um mich machst? Du bist nicht mal ein Staubkorn im Vergleich zu mir! Du solltest dich selbst bemitleiden! Du wirst gleich sterben!“ Abrupt beruhigt er sich wieder, atmet durch und sagt: „Oh? Habe ich die Beherrschung verloren? Verzeih! Einem Todgeweihten muss man Respekt erweisen.“

Ich bin schockiert, nicht verängstigt. Nicht wegen seines Ausbruchs, sondern wegen des plötzlichen Umschwungs in Zurückhaltung und Höflichkeit. Seine Augen! Sie haben sich verändert, als ob zwei Persönlichkeiten in ihm sind. Ich bin mir sicher, es sind noch mehr. Er ist unberechenbar. Er sagte es selbst. Um das Nichts zu verstehen, ist Wahnsinn vorausgesetzt. Zwar hat er sich selbst nicht so bezeichnet, aber welcher Wahnsinnige sieht sich selbst wahnsinnig? Seine Sicht auf die Dinge ist normale für ihn. Das wirft die Frage auf, inwiefern er über die Dinge Bescheid weiß, über die er spricht, oder dachte Bescheid zu wissen.

Alle Zweifel über die die Wahrheit sind wieder da. Meine Hoffnung kehrt zurück, dass nicht alles umsonst gewesen ist. Freilich bemerkt Breitmaul den Wandel meiner Gedanken und rümpft die Schnauze darüber.

„Wegen eines Moments lehnst du gleich wieder alles ab? Wie naiv! Jeder Drakonier ist unberechenbar, das gehört zu unserer Natur“, erklärt er. Ich glaube ihm das, wenn auch nur zur Hälfte. Er grunzt und speit mir vor die Füße, taxiert mich und sucht nach einer Regung, nach Ärger, den ich ihm nicht gebe, da ich nicht verärgert bin. „Du enttäuschst mich, Mordûn“, lamentiert er, zuckt aber mit den Achseln. „Egal, die Zeit ist um! Ich muss dich jetzt fressen.“ Bei dem Wort ‚fressen‘ läuft ihm der Seiber aus dem Maul und tropft herab auf seine Brust und den Bauch. Er leckt ihn mit der Zunge fort. „Was jetzt passiert, entscheidest du. Kommst du freiwillig zu mir und bewahrst dir deine Würde? Oder muss ich aufstehen und dich holen? Dann werde ich dich auseinandernehmen. Ich verspreche dir, gnädig zu sein und dich in einem Stück zu verschlingen, wenn du zu mir kommst. Kein Schmerz. Das ist selten bei uns, wir lieben es, wenn unsere Opfer vorher leiden.“

So schnell ist die Zeit gerannt? Ich habe keinen Moment erhalten, mich vorzubereiten, und überlege im Affekt, wie ich doch noch entkomme. Nur was mache ich danach? Wahnsinnig oder nicht, Breitmaul hat mir bewiesen, was er ist. Wenn ich fliehe, ist wirklich alles umsonst gewesen und ich werfe mein Leben sinnlos weg.

Nein! So ein Ende ist würdelos. Die Chance zu entkommen und sich im Berg, umgeben von hunderten Drakoniern, zu verstecken, und davonzuschleichen, ist zu gering. So sehr ich den korpulenten Breitmaul verachte, zeigt er sich in seinem Angebot ehrenvoll. Ich nicke grimmig. „Ich suche dich heim, wenn du dein Versprechen brichst“, drohe ich und gehe ihm entgegen. Jeder Schritt auf ihn zu fällt mir schwerer und schwerer.

Als ich vor ihm stehe, taxiert er mich. „Bedauerlich, dass du als Mensch geboren wurdest. Deine Willenskraft ist bewundernswert. Weißt du, ich biete jedem an, ohne Schmerz zu sterben. Die meisten sind Masochisten und werden panisch.“

Ich schaue trotzig zu ihm auf. Direkt vor mir erscheint er mir bedeutend größer, sein Schlund dunkler.

„Ich gehöre nicht zu ihnen“, sage ich. „Ich gehörte nie zu den Menschen. Ich bin weit besser als jeder von ihnen. Kleingeistige Hinterwäldler!“

Ich sehe mein Spiegelbild in seinen Augen, dessen Gesicht darin war alt und verzerrt. Von dem gut aussehenden, jungen Mann war nichts mehr übrig, worüber ich etwas entsetzt bin. Zehn Jahre habe ich in keinen Spiegel mehr geblickt. Damals sah ich noch vorzeigbar aus. Mir starrt ein ausgemergeltes Gesicht entgegen.

„Letzte Worte?“, fragt Breitmaul, ergreift mich mit seinen gewaltigen Klauen und hebt mich hoch.

„Mach endlich“, dränge ich dumpf. Das Spiegelbild in seinen Augen wurde zur Fratze.

In dem kurzen Moment bevor mich feuchte Dunkelheit umfängt und ich kaum Luft bekomme, sehe ich Zähne. Viele Zähne. Groß wie Finger, in den Rachenraum hinein kleiner werdend. Ein dunkler Schlund, der mich für meine letzte Reise empfängt. Er schlingt mich hinunter, schluckt hart und langsam und genussvoll. Liebt es. Liebt mich, sein Opfer.

Dann höre ich seine Stimme. Gedanken sprechen zu meinem Geist: „Das ist nicht deine letzte Reise. Das ist erst der Anfang. Ich habe ein Geschenk für ich.“ Er spricht zu meinem Bewusstsein, dass nach und nach schwindet. Die erdrückende Enge seiner Schluckmuskeln löst sich auf in unendliche Weite, in der ich mich frei bewege. Ich bin nicht in seinem Magen, ich bin an einem anderen Ort weit jenseits davon. Dort! Da ist es! Ich habe es gefunden! Das Anti-Sein!

Ich greife danach und berühre es. Unvorbereitet auf die Welle der absoluten Erkenntnis in ihrer reinsten Form, nach der alle Wesen streben sollten. Wundervoll! Das unsagbare Wissen aller Dinge offenbart sich, nicht eine meiner Fragen bleibt unbeantwortet. Ich bin erfüllt von Glückseligkeit und Zufriedenheit, die zur Ruhe werden.

Mir wird bewusst, warum ich die Erkenntnis ausgerechnet jetzt erlangt habe. Ich bin zu einem Teil von Breitmaul geworden. Ohne es wahrzunehmen, bin ich in seinen Eingeweiden gestorben. Er hat sein Versprechen wahrgemacht. Reuevoll will ich Bedauern über meine Unvernunft äußern, da berührt mich sein Bewusstsein erneut.

„Du bist jetzt ein Teil von mir, eine Facette meines Geistes. Alles, was dein war, gehört mir. Komm zu mir, damit ich auch deinen Geist verschlingen kann! Lass uns miteinander verschmelzen.“

Ich lasse es zu, bereitwillig und voller Freude.

Meine alte Existenz endet. Breitmauls Existenz endet. Wir werden zu etwas Neuem. Danach nenne ich mich nicht mehr Mordûn, nicht mehr Breitmaul, obwohl ich in seinem Körper eingepfercht bin. Ich nenne mich fortan – ... Nein, mein Name ist unwichtig. Er wird zu gegebener Zeit enthüllt werden.

Dann, wenn das Nichts der Welt offenbar wird.