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Dreizehnter Abschnitt "Erdenstern & Erlik"


Erdenstern

Betretenes Schweigen. Keiner von uns wusste, was er mit dem Gesagten anfangen sollte. Rakkarkattan und Ibor ohnehin nicht, weil sie nicht von Anfang an dabei gewesen waren. Doch sogar Agelulf wirkte irritiert und nicht in der Lage, Mordûn in den Ablauf einzuordnen. Kein Wunder. Dafür sagte dessen Lebensende etwas anderes aus. „Ich bin nicht der erste Sammler“, stellte Agelulf nachdenklich fest. „Er und Breitmaul haben nichts mit uns zu tun. Warum hast du mir davon erzählt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es ist wichtig, dass du von ihnen weißt. Was daraus erwächst, wirst nur du erfahren.“ Agelulf betrachtete mich kritisch. Ich wiegelte ab: „Ich weiß, dass das nicht im Traumtagebuch steht. Aber hast du daran gedacht, dass Erlik keinen ganzheitlichen Einblick erhalten hat? Er hat einiges niedergeschrieben, aber er weiß am Ende nicht alles. Ist es nicht möglich, dass das ein fehlendes Stück eines Mosaiks ist, das du brauchst?“ Er dachte kurz darüber nach. „Möglich ist alles. Worüber ich mich sorge, ist, dass vieles scheinbar durcheinandergerät. Im schlimmsten Fall schaffe ich es nicht, ihn zu retten.“ Ibor grummelte im Hintergrund. „Dein komischer Junge nervt langsam. Er ist nicht mal hier, trotzdem beherrscht er alles, was du machst. Kalanthes Geschichte ist eine Warnung, dass du nicht weitergehen darfst. Mordûn war besessen, so wie du. Er hat alles einem bescheuerten Ziel untergeordnet.“ - „Und hat erreicht, was er wollte“, ergänzte Agelulf trotzig. Wobei Trotz bei ihm anders aussah. Tonloser, desinteressierter.

Ibor setzte an, etwas zu sagen, hielt inne und schüttelte dann den massigen Kopf. „Sinnlos“, murmelte er. Agelulf sah ihn mit erhobener Augenbraue an. „Du willst nur, dass ich ihr Leben verschone“, sagte er. „Ja, natürlich! Sie ist mein! Ich will sie nicht verlieren, aber ihr lasst mir keine Wahl, als zuzusehen“, fuhr er sowohl ihn als auch mich an. Auf der einen Seite war es rührend, dass er sich um mich sorgte, auf der anderen bewertete ich das nicht zu hoch. Mein gewölbter Bauch erinnerte mich daran, dass er mich benutzte, genau wie Agelulf. Und obwohl Letzterer sie verbarg, schwangen einige Gefühle in den Worten, deren Ausdruck und Verhalten mit, die er nicht mehr vor mir verstecken konnte. Ich wusch mit dem Finger durch die Luft und nahm ihnen die Fähigkeit zu sprechen. Sie versuchten es, aber kein Ton dranf mehr aus ihren Kehlen. „Hört endlich auf, euch zu streiten“, forderte ich. An Ibor: „Es bleibt dabei. Dein Bruder wird mich in sich aufnehmen.“ An Agelulf: „Es stimmt, vieles ist anders, als du es erwartet hast. Aber das heißt nicht, dass nicht eintritt, was eintreten muss. Nur die Nuancen haben sich verschoben. Nicht so sehr, dass es Einfluss hat.“ Ich strich erneut mit dem Finger durch die Luft in umgekehrter Richtung und gab ihnen ihre Stimmen zurück. „Wir trennen uns hier“, entschied ich. „Rakkarkattan und du, ihr bleibt zusammen und reist weiter in Richtung Herz des Waldes. Ibor und ich gehen für einige Tage fort, damit wir nur für uns sein können. In neun Tagen treffen wir uns an der nächsten Grenze.“

Agelulf taxierte mich. „Warum trennen?“, fragte er. Er klang misstrauisch. „Ich will mit deinem Bruder alleine sein.“ - „Und wenn er dich entführt?“ - „Das schafft er nicht mehr. Außerdem wagt er es nicht, egal, was passiert. Er ist ein ehrbarer Werwolf und mein Gefährte. Ist es nicht normal, dass ich etwas Zeit mit ihm verbringen will?“ Agelulf überlegte. „Wehe, du bringst sie nicht dahin, wo sie hinmuss“, sagte er zu Ibor, der die Zähne fletschte und ohne Worte schnarrte. Agelulf war nicht begeistert, stimmte aber zu. Wem es schwerer fiel, war Rakkarkattan, dem ich ausdrücklich befahl, bei ihm zu bleiben und uns nicht zu suchen. Der Odarik-Teil in ihm war wehleidig deswegen, zum Glück hatte Rakkarkattan die Oberhand, nickte und stob davon. Wenn er länger geblieben wäre, hätte er sich genauso verhalten und mich nicht gehen lassen. Kurz bevor Ibor und ich aufbrachen, suchte ich nochmal das Gespräch zu Agelulf.

Da war etwas Unausgesprochenes zwischen uns. „Was ist los?“, fragte ich. „Veränderung“, offenbarte er denn sofort, was ihn beschäftigte. „Ich hatte geglaubt, mich daran gewöhnt zu haben. Jetzt steht eine an und ich hadere. Wir sind nicht mehr dieselben wie vor ein paar Monaten. Du hast dich stärker weiterbewegt und bist die Stufen höher geklettert, als ich erwartet habe. Und ich habe mich vor dir zurückgezogen, je mehr ich über dein und das Schicksal der anderen Geister preisgab. Vorher hatte ich dich für mich, jetzt teile ich dich. Das sollte mich nicht kümmern, ich bin ein Werwolf, wir teilen alles. Aber bei dir ist es anders. Dich will ich nicht teilen, weil du mir gehörst. Trotzdem hat Ibor mehr von dir, als ich. Deshalb und weil die anderen Geister, die ich aufgenommen habe, es verlangen, bin ich eine Bestie geworden. Ich hatte einen klaren Weg durch Erliks Traumtagebuch, aber je weiter ich schreite, desto nebliger wird er. Jetzt habe ich das Gefühl, in die falsche Richtung zu gehen, weil du alles durcheinandergebracht hast! So ist es nicht richtig, so sollte es nicht sein. Das sind zu viele Abweichungen, zu viele Alternativen, die wahrwerden. Ich sollte dich auf der Stelle töten, damit alles wieder seinen Weg geht.“ Er fuhr die Krallen aus und war versucht, die Drohung wahrzumachen. Zwar war Ibor nicht weit weg und hatte alles gehört, aber bis er da wäre, hätte Agelulf mich längst ... „Sag etwas“, forderte der. „Kaum eins deiner Worte richtet sich noch an mich. Sag etwas.“

Ich seufzte stimmlos. „Veränderungen lassen sich nicht umkehren oder aufhalten“, sagte ich. „Dass ausgerechnet du dass nicht verstehst, überrascht mich. Du bist der Inbegriff von Veränderung in meinem Leben, verschließt dich aber dagegen. So werden wir dein Ziel nicht erreichen. So wirst du Erlik niemals retten. Vor was auch immer du ihn zu retten versuchst. Ich bin nicht die, die dich in die falsche Richtung führt, sondern den Weg korrigiert, damit du den richtigen weitergehst. Aber was dafür auf mich wartet, ist einiges verlangt. Sterben. Du hast mir am Anfang unserer Reise gesagt, dass Liebe mehr ist, als das Gefühl, das zwischen zwei Personen herrscht. Du hast recht. Es ist viel mehr und größer und gewaltiger. Liebe geht über alles hinaus, was vernünftig ist. Ist es deshalb zu viel verlangt, dass du mir vertraust und mich mit deinem Bruder ein paar letzte gemeinsame Tage verbringen lässt, im Austausch dafür, dass ich dich so liebe und sogar um deiner Liebe zu Erlik willen sterben will?“ Agelulf erwiderte nichts, sondern fixierte mich stechend. Es war zu viel verlangt, ich wusste es, doch hatte er nicht die Macht, mich davon abzuhalten. Nicht mehr. Ich entschied selbst, wie mein Weg verlief, bis er zu Ende war. „Ich gehe jetzt“, sagte ich und wollte mich abwenden. Er ergriff meinen Arm, drehte mich wieder um und drückte mir seine kalte Schnauze auf den Mund.

Ein Kuss des Versprechens, wieder zu ihm zurückzukommen. Was sich pathetisch und sentimental anhörte, fühlte sich nicht so an. In den Moment wurde mir klar, dass er entschieden hatte, mich auf andere Art und Weise in sich aufzunehmen, um mein Herz zu erhalten. Meine Instinkte bereiteten mich ab diesem Moment des Kusses darauf vor. Eine Manticora wie ich akzeptierte den Lauf der Dinge schneller als alle anderen Lebewesen, wenn er unumgänglich wurde. Das war festgeschrieben in unserem unbewussten Charakter. Allein schon deswegen war es unmöglich, vor Agelulf zu fliehen, was Ibor zweifelsfrei in den nächsten Tagen forderte. Es zog mich von selbst zu Agelulf, mit oder gegen meinen Willen. Auch das war Liebe. In ihrer gesunden Form bedeutete sie Beisammensein zweier Personen. In überdrehter Form, dass der eine auf den den anderen krankhaft und eifersüchtig aufpasste. In der verrückten, wahnsinnigen Variante, der Agelulf zum Opfer gefallen ist, bedeutete sie das, was er tat. Zerstörung für ein anderes Lebewesen, oder in meinem Fall, dass er mich auffraß, wenn der Zeitpunkt gekommen war, damit ich ihm nie wieder fehlte. Im Grunde war sein Verhalten nur konsequent. Im Herzen war er ein Einsamer auf der Suche. Das führte dazu, dass er nach jedem griff, dessen er habhaft wurde. Armer Agelulf. Mein Herz bemitleidete ihn, denn dieses Manko würde ihn an den Rand seiner Existenz führen. Aber ich hatte die Möglichkeit, das zu ändern, wenn ich erst ein Teil von ihm wurde. Er ließ mich mit hängenden Schultern und finsterem Blick gehen.

 

Die neun Tage mit Ibor wurden die intensivsten meiner Zeit als erwachte Manticora. Er zeigte mir seine Welt, ich ihm meine. Wir erlebten die gesamte Palette der Gefühle, das eine stärker und eindringender als das andere, gefolgt von der Steigerung zum nächsten hin bis zum emotionalen Gipfel. Wir forderten unsere Seelen heraus, alles zu geben und zu entdecken. Mal hatten wir mehr, mal weniger Erfolg. Für diese Zeit gab es nur uns beide, alle anderen waren nicht existent oder wurden von uns beseitigt. So geschehen mit einem kleinen Rudel Werwölfe, die uns zu nahe kamen. Wir wollten volle Konzentration auf uns. Nur uns. Es war unsere Zeit, die niemandem sonst gehörte und hier keinen Platz in der Erzählung hat. Vielleicht wird Agelulf sie eines Tages teilen, wenn ich ein Teil von ihm geworden bin.

Als wir wieder zu ihm fanden, war dessen Erleichterung für mich in der Luft zu sehen. Die Ätherfäden schlugen lange, gemächlich schwingende Wellen und Agelulf lächelte. Ibor hingegen begrüßte er kalt und abweisend, obwohl der sich genauso freute, seinen Bruder wiederzusehen. In den neun Tagen hat er mit meiner Unterstützung Frieden mit dem Schicksal geschlossen, das auf mich wartete. Trotz der Distanz umarmte Ibor ihn, der überrascht die Umarmung erwiderte. „Wo ist Rakkarkattan?“, fragte ich. Agelulf zuckte mit den Schultern. „In der Nähe. Er versteckt sich seit ein paar Tagen und lauert.“ - „Ist etwas vorgefallen?“, fragte ich misstrauisch. Er schüttelte den Kopf. „Nein, er hat nur meine Gegenwart nicht mehr ausgehalten. Die Tage vorher haben wir geschwiegen.“ Ich fragte nicht erst, warum. Werwölfe waren keine Redner. Wenn es nichts zu sagen gab, sprachen sie nicht miteinander. Ich nickte, sah mich um und rief seinen Namen im Unterschall in die Richtung, in der sein Geruch an intensivsten war. Das sollte ausreichen. Für Ibor und Agelulf sah es so aus, als ob ich tonlos den Mund bewegte. Nur andeutungsweise nahmen sie ein tiefes Brummen wahr. Zwei Minuten später krachte das Unterholz und er sprang aus den Bäumen zu uns herab. Ich erwartete, dass er mich in den Arm nahm und an sich presste, um zu zeigen wie er mich vermisst hatte. Aber nachdem er donnernd auf dem Boden aufschlug und sich aufstellte - auf seinem Rücken waren Geweihe gewachsen, er hatte sich entwickelt, so wie ich - sah er mich bloß nur an. Seine Augen strahlten und ein leises Lächeln umspielte die Maulwinkel. Ich nickte, er nickte zurück. Ibors Fell hatte sich gesträubt. Ibor ... mein unwissender Ibor. „Hier endet dein Weg“, sagte ich. Zuerst bemerkte er nicht, dass ich mich an ihn gerichtet hatte, weil seine Aufmerksamkeit an Rakkarkattan haftete. Erst als er Notiz davon nahm, wie Agelulf und ich ihn beide ansahen, kletterten seine Ohren nach oben. „Was?“, fragte er irritiert. „Weiter als bis hierher begleitest du uns nicht“, sagte ich. Anstatt zu widersprechen, atmete er durch und fragte abgeklärt: „Was ist der Grund?“ Agelulf schien beeindruckt. Ibor brauste nicht auf. Nein, natürlich nicht. Ich hatte ihn in den letzten neun Tagen verändert, so wie er mich. „Weil du nicht mehr zurückkommst, wenn du uns folgst. Muralge wird dich nicht mehr gehen lassen.“ Er betrachtete mich nachdenklich. „Deshalb wolltest du die neun Tage mit mir verbringen. Du wusstest das“, stellte er fest. Ich nickte. „Muralge ist beispiellos. Neben dem Wald gibt es zwei oder drei andere Orte auf der ganzen Welt, die so sind.“ Ich sah zu Agelulf. In dem kurzen Moment, bevor ich ihn ansprach, bemerkte ich eine tief eingegrabene Müdigkeit in seinen Augen. Sein Gesicht, das Fell, die Körperhaltung. Für diesen kurzen Augenblick sah er alt und abgekämpft aus. Das war nicht Agelulf, sondern einer seiner Geister. Es war Okka, der hervorgetreten war, um mich zu beobachten.

Ich grüße dich, Fernschweifdrache! Endlich lernen wir uns kennen. Es ist mir eine Ehre und zugleich will ich dir sagen, wie sehr ich dich hasse und bekämpfen werde, sobald Agelulf mich aufnimmt. Du bist der Erste von uns und der Grund, weshalb er ruhelos ist, nicht wahr? Eine Geißel, eine Pest, ein Parasit, den es auszumerzen gilt. Unsere Wesenheiten sind von ähnlicher Natur, wir sind beide Reisende auf einer anderen Ebene. Und obwohl ich weiß, dass ich es nicht mit dir aufnehmen kann, werde ich der Reißnagel sein, der dir im Fuß stecken bleibt und bei jedem Schritt Schmerzen verursacht, wenn du dich fortbewegst. Du wirst dich wundern, wozu ich fähig sein und was ich dir antun werde, wenn ich erst bei dir bin. Ich werde dich korrumpieren und in Schach halten, in der Hoffnung, dass Agelulf wieder zu Verstand kommt, ein bisschen wenigstens, und der Verlauf seines Weges nicht der blutige wird, den Erlik angekündigt hat. An mir wirst du dir die Finger verbrennen, dafür sorge ich!

Ganz leicht, sodass nur ich es bemerkte, hoben Agelulfs Maulwinkel an. Okka hatte mich verstanden. Ich wusste nicht wie, aber er wusste, was ich gedacht hatte. Er nickte kaum merklich, als ob er sagte, dass er die Herausforderung und den Kampf gegen mich annahm. Dann zog er sich zurück und Agelulf war wieder der dominierende Verstand. „Du spürst es doch seit einer Weile, oder?“, fragte ich ihn. Er spitzte die Ohren, als sich alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete. „Hm, ja ...“ - „Dann weißt du in etwa, was uns bevorsteht“, sagte ich, doch er schüttelte den Kopf. „Nein, Muralge verwehrt mir eine tiefere Einsicht. Das ist bisher nur dir vorenthalten.“ Das war zwar unerwartet, aber überraschte mich zugleich nicht. Agelulf hatte sich als Sohn des Waldes von Muralge abgewandt und verfolgte Ziele, die nicht mit dessen tiefem Weltverständnis übereinkommen. Der Wald war ein Organismus mit eigenem Geist, oder eigener Präsenz. Die Bewohner des Waldes gehörten dazu und bildeten kleine Bruchstücke.

Aber er hat entschieden, nicht mehr Teil davon zu sein. Jetzt verschleierte der Wald das Wissen, das bisher sein Geburtsrecht war. „Das Herz des Waldes ist kein alles verschlingendes Ungeheuer“, sagte ich. „Es ist ein Phänomen, das die Zeit durchwandert. Je näher wir der Mitte des Waldes kommen, desto weiter werden wir in der Zeit zurückgeworfen.“ Das war einiges an Verständnis abverlangt. Leider verstand ausgerechnet Ibor nicht, was das bedeutete, als er fragte: „Na, und? Was hat das damit zu tun, ob ich euch begleite?“ Bevor ich etwas erwiderte, antwortete Agelulf: „Wenn du weiter gehst, wirst du nicht mehr dorthin zurückgelangen, wo wir herkommen, weil du Jahrhunderte in der Vergangenheit aus dem Wald heraustrittst.“ Ibors Augenbrauen wanderten aufeinander zu. „Was redest du da?!“ Agelulf interessierte Ibor Unverständnis gar nicht weiter, als er zu mir sagte: „Jetzt begreife ich. Du bist die Mutter aller Werwölfe. Auf dem Weg zum Herz wandern wir in der Zeit zurück.“ Er sah auf meinen Bauch. Selbst Rakkarkattan wirkte ehrfürchtig, als ihm klar wurde, was das bedeutete. „Das ist meine Aufgabe? Den Ersten von uns zu beschützen?“, fragte er und legte die Ohren an. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nur. Du wirst sein Vater sein“, erklärte ich. „Ich werde meinen Sohn gebären und übergebe ihn dir. Dann wirst du mit ihm zurückgehen. Doch ihr werdet lange vor dem heutigen Tag zurückkommen. Werwölfe gibt es dann noch nicht.“ – „Das ist dein Ernst? Ihr reist in die Vergangenheit? Was wird aus Agelulf, nachdem er dich ...“, Ibor beendete den Satz nicht. „Agelulf wird zurückkommen, er hat dann die Macht dazu, dich aufzusuchen.“ - „Und wenn ich das nicht will?“, fragte er betrübt. „Dann werde ich gehen“, antwortete Agelulf. „Aber wir sind Brüder und gehören zusammen. Kalanthe wird ein Teil von mir sein. Du wirst ihr wiederbegegnen.“ Ibor sah ihn nachdenklich an, dann mich. Ich räusperte mich. „Ich bin nicht mehr Kalanthe“, sagte ich. Agelulfs linkes Ohr zuckte, er taxierte mich. „Kalanthe war die Menschenfrau, ich bin kein Mensch mehr, obwohl ich so aussehe. Mein Name ist Erdenstern.“ - „Das ist ein ungewöhnlicher Name“, meinte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist die beste Übersetzung. In der Sprache der Manticorae versteht ihn niemand.“ - „Soll ich dich ab sofort so ansprechen?“, fragte er und legte den Kopf leicht schief. „Es wäre mir recht, ja. Aber ich glaube kaum, dass du ihn gebrauchen wirst.“ - „Wie kommst du darauf?“ - „Weil es nicht mehr viel zu sagen gibt zwischen uns. Wir haben einander fast alles gesagt, was wichtig ist. Du hast mir von den Geistern erzählt, ich dir von meiner Entwicklung. Alles, was darüber hinausgeht, wirst du ohnehin bald erfahren.“ Agelulf nickte und ein unangenehmer Moment es Schweigens entstand. „Bedeutet das jetzt Abschied?“, fragte Ibor, in dessen Augen sich kleine Tränchen gesammelt hatten. Ich nickte. „Darf ich dich nochmal -“ - „Nein“, entgegnete ich scharf. Seine Miene zeigte Unverständnis. „Wenn du mich jetzt berührst, wirst du nicht mehr gehen. Dann wirst du uns begleiten, weit in der Vergangenheit stranden und einsam sein. Das tue ich dir nicht an. Deshalb, nein - Ibor. Ich werde dich nicht mehr umarmen. Verzeih mir, bitte, dreh dich um und geh, ohne zurückzublicken.“ Ibor schnaubte und spuckte Nasenschleim, die kleinen Tränchen bahnten sich in feinen Bächlein Wege über seine Wangen. Er versuchte, es zu verbergen, aber er zitterte. Nicht nur er war tieftraurig. Agelulf hatte den Blick abgewandt. Ibor hatte oft Tränen in den letzten Tagen vergossen. Jeden Tag hatte er gefleht, dass ich nicht den Weg seines Bruders gehe. Aber dass Agelulf Gefühle zuließ, überraschte mich, obwohl ich es erwartet hatte. Selbst Rakkarkattans Augen waren glasig und feucht geworden. Untereinander waren Werwölfe empathisch, wenn die Emotionen tief reichten. Ich hingegen war in diesem Moment ein Fels, der standhaft blieb. Ibor rieb sich die Tränen fort, was aber nichts nützte. Sobald er meinem Blick begegnete, rannen sie wieder wie vorher hinab. Mit jeder Sekunde fiel es mir schwerer, ihn nicht zu trösten und aufmunternde Worte an ihn zu richten. Aber das durfte ich nicht, um seines eigenen Wohles willen und weil ich ihn wiedersehen wollte - sobald ich zu Agelulf geworden war. „Leb wohl“, sagte ich zum Abschluss. Das war sein Stichwort. Er ließ den Kopf hängen, wandte sich langsam ab und stapfte in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren. Er hörte auf mich und sah nicht zurück. Mein Herz pochte im Dreitakt aufgeregt dem Moment entgegen, in dem er zwischen den Bäumen verschwand und außer Sicht geriet. Freilich würde ich ihn über meine anderen Sinne verfolgen, um zu sehen, wo er war, ob er in die richtige Richtung ging und nicht doch umdrehte. Ich verlor ihn aus den Augen. Für ein paar Sekunden übernahm Kalanthe, die Menschenfrau, wieder meine Sinne und die Gefühlswelt. Hell schluchzend, man hörte es kaum, schlug ich die Hände, die gar nicht mehr meine waren, vor das Gesicht und ging in die Knie. War es nur Kalanthe, die trauerte? Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, stimmte das nicht. Es waren Kalanthe und Erdenstern zugleich. Die eine war ohne die andere nicht denkbar, denn am Ende waren wir ein Geist und nicht zersplittert wie Agelulf. Der ließ mich in Ruhe. Es war sogar so, dass er sich abwandte und vorausging. Rakkarkattan blieb bei mir und war sich verunsichert, ob er mich trösten sollte. Ich spürte, wie er überlegte, mich zu beruhigen, oder es überhaupt wagte. Das wollte ich nicht. Ich wollte den Verlust spüren, der mich innerlich zerriss. Jetzt gab es nur uns drei. Mein Kind rechnete ich nicht mit. Das war wichtig. Denn wenn ich Gefühle zuließ, ließe ich es nicht gehen, wenn es geboren wurde. Ich weinte und weinte und weinte, bis ich weder Tränen oder Stimme hatte. Das war der Moment, in dem Rakkarkattan vortrat, mich aufhob und forttrug. Agelulf hinterher, in Richtung des Herzens von Muralge. Ich verfluchte ihn.

 

Drei Monate später, wir waren an der letzten Grenze vor dem Zentrum angekommen, gebar ich meinen Sohn. Am Tag seiner Geburt brüllte ich, sodass kein anderes Tier oder eine Kreatur wagte, Geräusche zu verursachen. Als ob Muralge den Atem anhielt, um mich bei der Geburt zu unterstützen. Er war das schönste und lieblichste Wesen, das ich je gesehen hatte - einmal. Denn sofort nach seiner Geburt nahm Rakkarkattan ihn mir weg und lief fort. Für immer. So hatte ich es ihm eingebläut, nachdem Ibor uns verlassen hatte. Tag für Tag hatte ich ihn geschlagen, bis er seine Aufgabe sogar im Traum ausführte. Er und mein Sohn, Númenulf, verließen die inneren Kreise des Waldes und gingen in eine Zeit, die nicht meine war. Er war nicht der Pharygarmr, sondern das Kind eines Werwolfs und einer Manticora. Mehr nicht. Wenn der Pharygarmr eine Lüge war, war es der Angeshraël ebenso. Doch das interessierte mich im Grunde nicht mehr. Ich unterdrückte danach alle Gefühle, die ich hatte und konzentrierte mich darauf, mit Agelulf weiterzugehen. Es waren nur wenige Tage, dann würden wir im Mittelpunkt des größten aller Wälder der bekannten Welt stehen. Aber das letzet Stücke wurde schwierig, jeder Schritt schwerer und schwerer. Ich habe mit mir selbst Frieden geschlossen und akzeptiert, dass ich starb. Wovor ich Angst hatte, war der Schmerz. Nicht allein meiner, sondern derer, die nach mir folgten. Shakún’tala, Ânsgar und Umbra. Denn jedes Mal, wenn Agelulf einem von uns das Herz raubte, spürten wir das alle. Vor allem um Shakún’tala sorgte ich mich. Ich hatte Angst davor, ihr in Form von Agelulf zu begegnen. Gleichzeitig setzte ich mir zum Ziel, sie zu umsorgen und abzuschirmen, sobald sie ein Teil von Agelulf wurde, damit sie die Schrecken, die noch warteten und die nicht einmal ich kannte, nicht ertragen musste. Der Wald hatte sich in den Monaten schleichend verändert. Die Bäume waren kleiner und sahen jünger aus, gerade gewachsen und lange nicht so hoch, wie am Waldrand.

Es fällt mir schwer, die letzten Ereignisse zu beschreiben. Sie sind unnötig kompliziert, weil ich mit meiner wachsenden Natur als Manticora konfrontiert wurde. Es ist Agelulfs Verdienst, dass ich nicht an mich selbst verzweifelte, als er mich an einem Abend fragte: „Hast du verstanden, worum es hier geht?“ Ich war dem Halbschlaf und kämpfte mich mühsam zurück in den Wachzustand. Ich lag auf dem Waldboden. Die Bäume waren nur knapp größer als Agelulf, sodass das Mond- und Sternenlicht bis zu uns herab reichte. Der Mond war nicht mehr zweigeteilt, sondern eine einzige, große Kugel, die elfenbeinfarben die Nacht erhellte. Überirdisch schön. Agelulf war seitdem jede Nacht wachgeblieben, hatte hinauf gesehen und leise Tränen vergossen. „Ja und nein“, antwortete ich. Ja, ich hatte meine Rolle in dem Gefüge akzeptiert, in dem ich mich befand. Nein, viele Dinge waren mir immer noch nicht klar. Aber in welcher Geschichte erhielt man schon alle Antworten? Nur in Märchen. Doch in einem Märchen waren wir nicht. Ich berührte meinen Bauch, der flach und leer war. Dadurch fühlte ich mich bedeutungslos. „Ich weiß, dass du der Ausführende bist, der seiner Sehnsucht wegen handelt, um jemanden zurückzugewinnen, den du über jede Vernunft und den Verstand hinaus vergötterst. Aber hinter dem, was du tust, steht etwas oder jemand anderes.“ - „Das hast du gemerkt?“, fragte er, seine Augen waren sandgelb. Er wirkte nicht überrascht, eher erleichtert. „Es ist mir schleichend klar geworden. In dem, was dir passiert, mit mir geschieht und du mit den anderen Geistern gemacht hast oder noch wirst, stecken Schlüsselmomente. Jeder bereitet den nächsten vor. Das sind zu viele Zufälle, als dass es Zufälle sein können. Abläufe, die in einem normalen Leben niemals stattfänden, sei es noch so ungewöhnlich. Nein, hinter dir ist eine Wesenheit oder eine Kraft oder etwas anderes.“ Ich kramte Erliks Traumtagebuch aus den wenigen Dingen hervor, die ich noch besaß. Das meiste hatte ich zurückgelassen oder weggeschmissen, weil es bedeutungslos geworden war. Selbst meine Kleidung. Ich war seit mehreren Tagen nackt. Das Tagebuch aber war unser wichtigster Besitz. Ich erhob mich, suchte eine geeignete Stelle und grub eine Vertiefung, in die ich es hineinlegte und wieder verscharrte.

„Was tust du da?“, fragte er. Ich lachte sarkastisch auf. „Ist die Frage ernst gemeint? Erinnere dich an Umbra. Er sagte, dass dein Exemplar des Buches seine Reise erst antritt.“ Es dauerte einen Moment, bis er meinen Gedanken folgte. „Hier? Sind wir schon so weit zurück?“, wunderte er sich. „Das müsstest du besser wissen, als ich. Der Mond ist eine Kugel. Wir sind in einer Ära, bevor unsere Vorfahren ihn in zwei Teile teilten. Wenn es stimmt, werden sie es hier irgendwann finden“, erklärte ich. Agelulf wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Daran habe ich nicht gedacht“, meinte er. „Wie das? Du hast den Gesamtüberblick auf die Ereignisse und Zusammenhänge.“ - „Stimmt. Das bedeutet aber nicht, dass alles davon für mich wichtig ist. Du kennst mein Ziel, anderes ist mir gleich. Deshalb beschäftige ich mich nicht mit dem, was links und rechts neben mir geschieht.“ Ich klopfte mir die Hände ab und taxierte ihn. „Warum fragst du dann, ob ich verstehe, worum es hier geht? Du tust das alles aus der Naturgewalt heraus, die man vereinfacht Liebe nennt. Du sehnst dich nach Erlik. Und um ihm die geistige Vollkommenheit zu schenken, bist du bereit, ihn zum Angeshraël zu machen. Davor musst du seine Splitter finden - und deine. Wenn du in Zukunft bei ihm bleiben willst, ist das zwingend nötig, sonst wird er dich verbrennen und aus dem Gefüge aller Ebenen tilgen.“ Er starrte mich an, seine Augen abwechselnd sandfarben und himmelblau. „Du verstehst es?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Nicht halb so viel, wie ich gerne würde“, entgegnete ich. „Es ist schwer, den eigenen Tod zu akzeptieren, sich ihm freiwillig hinzugeben, ohne die genauen Hintergründe zu kennen. Das ist mir nur deshalb gelungen, weil du mir ermöglicht hast zu erkennen, wer und was ich in Wahrheit bin, sodass ich mich weiterbewegte - so wie du. Diese Ebene ist nicht die letzte für mich. Es wird mich weiterhin geben. Verändert, aber vorhanden. Hier nicht mehr körperlich, woanders dafür als Göttin, als Äquivalent zu Okka.“

„Okka ist kein Gott“, schränkte Agelulf verächtlich ein. „Nein, ist er nicht“, stimmte ich zu. „Er ist genauso machtlos dem Ablauf ausgesetzt, wie wir. Sogar das Wesen, das hinter all dem steht, handelt aus einer Art Vorherbestimmung heraus. Davon bin ich überzeugt.“ Agelulfs Augen leuchteten auf. „Das Nichts aus Mordûns Formel?“, fragte er und bescherte mir den nötigen Schubs. Warum war ich nicht darauf gekommen? Breitmaul aus Mordûns Erzählung hatte es erklärt. Das Nichts versuchte, den Urzustand wiederherzustellen. War es die treibende Kraft hinter allem, was Agelulf tat? Das wäre die logischste Schlussfolgerung, aber zu simpel. Es gab mehr, das dahintersteckte. „Möglich“, räumte ich ein. „Aber wie bei allem, bin ich mir nicht sicher.“ - „Warum wusstest du von Mordûn, aber ich nicht?“, fragte er. Ich seufzte, irgendwann musste die Frage wieder aufkommen. „Du hattest das Traumtagebuch, das alle Geister beschreibt, von denen Erlik träumte. Mich eingeschlossen. Von Mordûn konnte er nichts wissen, weil Erlik Mordûn ist. In einer anderen Zeit und einer anderen Alternative. Von sich selbst auf diese Art zu träumen, ist unmöglich für ihn. Dazu fehlt ihm das Verständnis.“ Agelulf versank ihn kühles Schweigen. Zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit hatte mich das gestört, heute stand ich darüber, weil ich wusste, dass er tief nachdachte. So waren Werwölfe. Sie konnten lebenslustig sein, wie Ibor es war oder Inanna gewesen ist. Aber ihr instinktives Verhalten war stets das eines ruhigen Raubtieres, das auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen und Beute zu reißen. Darin glichen sie eher Katzen als echten Wölfen. „Ich muss mir keine Sorgen machen“, stellte er fest. „Mordûn ist Erlik und deshalb schon ein Teil von ihm.“ - „Du hast dich gefragt, wie du jemanden finden sollst, der von jemand anderem aufgenommen wurde?“, fragte ich, er nickte. An seiner Stelle hätte ich spätestens an so einem Punkt aufgegeben. Breitmaul war nicht irgendein Drakonier, er hatte mehr Macht als Ânsgar oder ich. Mit ihm hätte er es zum jetzigen Zeitpunkt nicht aufnehmen können. „Das Gefühl, nach der Vollendung zu suchen ...“, setzte Agelulf nachdenklich an. „... sich selbst zusammenzusetzen. Das quälte ihn also schon in einem anderen Leben.“ Ich sah betreten weg. „Ja, sieht so aus“, sagte ich. „Erlik ist ein gepeinigter Suchender. Wonach er strebt, scheint kaum zu erreichen.“ Agelulf stimmte wortlos zu, sagte aber: „Er alleine schafft es nicht. Die Hürden, die ihm auferlegt wurden, sind zu hoch gesetzt. Deshalb muss ich ihm helfen. Das verstehst du jetzt, oder?“ Ich zuckte mit den Schultern. „In meinem Leben gab es bisher niemanden, den ich so sehr mochte, dass ich alles für ihn oder sie getan hätte.“ Agelulf stutzte. „Und dein Sohn?“, fragte er. Ich schüttelte mit dem Kopf. Über ihn wollte ich nicht mehr sprechen. Schon gar nicht mit Agelulf. Stattdessen drehte ich den Spieß um. „Ist dir wirklich klar, was passiert, wenn du ihn zusammensetzt und er zum Angeshraël wird?“ Er durchschaute meine Frage und entgegnete: „Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht, weil es der einzige Weg ist, um Erlik zu befreien.“ - „Das entspricht leider Wahrheit.“ - „Was weißt du über ihn?“, fragte er. Das überraschte mich. „Das fragst du mich? Okka ist ein Teil von dir. Du müsstest genau verstehen, was er ist.“ Agelulf wog den Kopf hin und her, sein Fell schimmerte im fahlen Mondlicht silbergrau. Die sanften Schatten zeichneten trotz der Dunkelheit eine markante Silhouette. „Leider gibt er vieles nicht von sich preis“, sagte er zögerlich. Das war neu, aber nicht unerwartet. „Du hast keinen Zugriff auf seine Gedanken, seinen Geist?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Doch, aber sie sind vollumfänglich und reich an allem. Angereichert mit Wissen und Klarsicht. Wenn ich auf sie schaue, wird mir schwindelig. Er ist mächtig und ich verstehe zu wenig von dem, was er erlebt hat. Es ist schwierig für mich, ihn in mir pochen zu hören.“ Ich wog sorgsam meine Worte ab, da ich den Eindruck gewann, dass er weniger verstand, als ich bisher geglaubt hatte. „Der Angeshraël bedeutet mehr von dem, was du seit einer Weile fürchtest. Veränderung. Wie sie aussieht, darüber spekuliere ich nicht. Es kommt darauf an, was für einen Charakter Erlik hat. Je nach dem wird er die Welt umwandeln. Dabei spielen Gut oder Böse keine Rolle mehr, weil es nur auf seine Sicht ankommen wird. Was aber gewiss ist, ist, dass es Leben kosten wird. Viele werden das verdient haben, die meisten nicht. Du kannst das aufhalten.“ Agelulf stutzte, erhob sich und bot mir die Klaue an, die ich ergriff, weil ich dachte, er wolle mir aufhelfen. Stattdessen hob er mich an meinem Arm hoch, sodass ich vor ihm baumelte. „Das ist ein plumper Versuch, etwas aufzuhalten, was unumgänglich ist“, sagte er mit verzogener Miene. „Ist dir nicht bewusst, dass das, was kommt, sogar nötig ist, damit nicht nur Erlik sich weiterbewegt, sondern alle anderen auch?“ Ich hätte mich leicht befreien können, das wussten wir beide, aber ich blieb freiwillig in seiner Gefangenschaft, weil meine Instinkte mir befahlen, still zu sein und nicht aufzubegehren. Allerdings schmerzte meine Schulter. „Du bist arrogant, wenn du die Entscheidung darüber triffst, obwohl du nicht einmal alle Hintergründe und Konsequenzen verstehst - was du eben zugegeben hast.“ Erwischt! Er ließ mich abrupt fallen, ich landete auf meinen Füßen und fiel nicht hin, so wie früher. Er taxierte mich. „Du sprichst von den Geistern?“, fragte er. Ich nickte. „Eben jenen“, erwiderte ich. Er seufzte grollend in sich hinein, sah hinauf zum runden Vollmond, durch dessen Licht seine Augen exotisch glänzten. „Lass uns morgen darüber sprechen“, sagte er und sah mich wieder an. Agelulfs Körperhaltung hatte sich verändert. Die Ätherfäden um ihn herum waberten anders. „Ich weiß, was du willst. Du bist nicht weniger plump“, behauptete ich, trat an ihn heran und griff nach seinem Gemächt.

 

Er benutzte mich. Ich benutzte ihn. Wir waren laut, kratzten und bissen einander blutig. Ein Werwolf und eine Manticora? Da gab es nichts Sanftes. Nicht im Sinne der alten Kalanthe. Die neue forderte genau diese Strenge ein. Ich lenkte mich ab von den vielen inneren Wunden und Verletzungen, indem ich mir welche zufügen ließ. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn Agelulf im Moment meines Höhepunktes alles beendet hätte. Aber soweit waren wir nicht.

Wir schliefen lange, bis in den Mittag hinein. Die am Zenit stehende Sonne weckte uns. Während ich sie begrüßte, war Agelulf lichtempfindlich und kaum in der Lage, sie Augen zu öffnen. Er wälzte sich mit mir im Arm auf den Bauch und vergrub das Gesicht in seinen Ellenbogen. „Ich habe Migräne“, sagte er. Ich starrte ihn und hielt nicht an mich, lachte laut und ungehalten drauf los. Ein Werwolf und Migräne? Zu absurd, dass es wahr sein konnte! Weil ich zu laut war und ihm direkt ins Ohr lachte, schob er mich von sich fort. Anstatt etwas zu sagen, grummelte und meckerte er vor sich hin. Ich erhob und streckte mich, kicherte und stieß ihn mit einem Fuß an. „Ich gehe baden“, sagte ich, worauf er nichts erwiderte. Ich wandte mich ab in Richtung eines Bächleins, das ich schon vergangene Nacht wahrgenommen hatte. Das letzte Mal, dass ich mich ordentlich mit Wasser abgewaschen hatte, war eine Weile her. Obwohl die Manticora nichts davon hielt, war es für die Menschenfrau in mir ein Luxus, dem sie nicht widerstand. Dort, wo der Bach entlang floss, wuchsen die kräftigsten und ansehnlichsten Bäume. Ich kannte das Gewässer, wenn auch nicht in seiner jetzigen Form. In vielen tausend Jahren, zu dem Zeitpunkt, als ich den Wald das erste Mal betreten hatte, war der Bach ein Strom, der durch ein Tal floss, dass er in die Landschaft geschnitten hatte. Jetzt befand ich mich am heiligen Anfang, bevor alles entstand, was damit zusammenhängt.

Wenn ich den Verlauf ändern würde - wozu ich mittlerweile fähig war - änderte ich den Ablauf all dessen, was mit ihm zusammenhing. Doch dafür war ich nicht hier. Ich schöpfte das klare Wasser und trank, bevor ich kurzum entschloss, mich in den Lauf zu setzen. Es war es nicht tief. Das Bett bestand aus vom Wasser rund geschliffenen Kieselsteinen, den Schlamm darunter wirbelte ich kaum auf. Die angenehme Kälte, die meinen Körper umschmeichelte, genoss ich sehr. Ich schöpfte es und übergoss mich selbst. Weil mein linker Arm juckte, kratzte ich mich dort und verletzte mich prompt. Ich hatte vergessen, dass sich meine Physis veränderte, während anderes an mir der Entwicklung hinterherhinkte. So waren meine Fingernägel zu scharfen Schneidwerkzeugen geworden, während meine Haut kaum eine Veränderung erfahren hatte. Genauso meine Zähne. Hinter meiner bisherigen Zahnreihe drückte sich eine zweite mit spitzen Beißern aus dem Fleisch hervor, mit denen ich mir regelmäßig in die Zunge bis, die wiederum lange nicht mehr so empfindlich war, wie früher. Während ich mir noch vor einem Monat mit den neuen Zähnen auf sie gebissen und lange danach geblutet hatte, spüre ich es jetzt kaum noch, wenn ein spitzer Zahn sie berührt. Meine Transformation schritt voran. Aber langsam. Dass ich in einem Bach mit kaltem Wasser badete, lag zum Beispiel daran, dass sich meine Körpertemperatur erhöht hatte und ich unempfindlicher gegen Witterung jeder Art geworden war. Faul lag ich da und lauschte dem Plätschern, dem Gezwitscher der Vögel, unterbrochen von lauten Schreien großer Greifvögel, die hoch oben im Himmel ihre Kreise zogen. Das und weitere Details verrieten wie jung und unbefleckt Muralge zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch war. Keine Monstren, die den Wald bevölkerten und andere Tierarten ausrotteten oder vertrieben. Sogar Eichhörnchen sprangen zwischen dem Bäumen hin und her, verfolgten einander gegenseitig, um sich die Nüsse zu klauen. Ich hatte gewusst, dass es anders war, aber als paradiesisches Idyll hatte ich mir das Herz nicht vorgestellt.

Von all den Geräuschen betört, döste ich seicht ein und erreichte einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Zwei Zustände, zwei Realitäten. Die Feststellung genügte, damit es mir klar wurde. Wir, die Geister aus Erliks Traumtagebuch, waren nicht nur Bruchstücke seiner Seele, die Agelulf für ihn sammelte. Wir waren Schlüssel, ohne die sich eine Tür nicht öffnete. Okka hatte über Erlik gesagt, dass er eine Markierung im Gefüge der Realitäten darstellte. Das traf auf Vlooriean, Drimba, Shakún’tala, Ânsgar, Umbra und letztlich auf mich genauso zu. Mordûn war ebenfalls eine, hatte aber mit uns nicht direkt zu tun, weil er in einer anderen Epoche und womöglich - das wurde mir jetzt erst bewusst - in einer ungleich verlaufenden Alternative lebte oder gelebt hat. Dann war da Agelulfs Bezeichnung für uns. Geister. Was war ein Geist? Ein Schemen, durch das man hindurchsah und das nicht greifbar war? Eine Seele, die jemanden oder einen Ort heimsuchte? Beides richtig, traf es dennoch nicht auf die anderen und mich zu. Die einfachere Erklärung, mit der ich mich am ehesten identifizierte, war: Etwas, das da war und zugleich nicht da war. Zwei Zustände, wie träumen und wachen. Waren wir Geister - erträumt? Verharrten wir im Bereich zwischen Traum und Wachsein? Hatte Erlik uns entworfen, oder wir uns selbst? Oder träumten wir in diesem Augenblick und Agelulfs Aufgabe war es, uns zu wecken, damit wir den Standpunkt wechselten und keine Geister mehr waren? Wenn ja, wo erwachten wir? Ich dachte spontan an die erste und einzige Realität, von der Okka gesprochen hatte. Dann dachte ich an Shakún’tala und ihre Fähigkeit, eine Welt zu erschaffen, weil sie träumte. Gehörte beides zusammen und wir waren der Traum eines oder einer Schlafenden? Wenn ja, war die wahre Realität das Ergebnis eines Traumes. Nicht echt. Wie wahrscheinlich war es also, dass das, was um mich herum war, nicht da war? Je mehr ich darüber nachdachte, desto schummriger wurde mir. Mich errettete der Gedanke, dass jede Alternative und jede Realität wahrhaftig und echt sein musste, wenn nur lange genug jemand über sie nachdachte oder von ihr träumte. Erlik träumte von uns Geistern. Waren wir Gebilde seines Verstandes? Agelulf hatte angedeutet, dass wir Wesen waren, die existierten, aber im Grunde schon tot seien - sofern wir je gelebt hatten. Aber bedeutete das, dass wir lebten, obwohl wir es nicht sollten, und er den Lauf der Dinge korrigierte? Mein Gefühl sagte mir, dass das nicht so war. Eher existierten wir für genau den Zweck, für den er uns brauchte, vermutete ich. Das mochte er damit ausgedrückt haben. Wir lebten und waren todgeweiht, weil unsere Bestimmung schon festgelegt war.

Da waren viele Fragen, die in die Tiefe reichten. Welche Tiefe? Die des Geistes, die des Verstandes, die des höheren Ichs. Aber auch die Tiefe der Welt oder des Ätherraums um uns herum. Für einen einzelnen Verstand weder zu ermessen noch zu begreifen. Was passierte, wenn man sich lange genug mit all den Fragen auseinandersetzte, begriff ich, als mir erneut Okka und seine Geschwister in den Sinn kamen. So viel Wissen ihnen gegeben war, waren sie alles andere als Weise, sondern Gefangene ihres eigenen einzelnen Geistes, wie ich vermutete. Anders als alle Geister hatte Okka Probleme oder verursachte welche, wenn es darum ging, zu einem Teil von Agelulf zu werden. Sein Verstand grenzte sich nach wie vor von den anderen ab. Bisher war ich der Ansicht, das sei deswegen so, weil er der machtvollste unter uns war. Aber was, wenn er gar nicht die Wahl hatte und ihm eine Verschmelzung nicht möglich war, weil er - ich weiß nicht - zu hoch entwickelt war? Dann wäre er ein Suchender nach Vollendung und Ganzheit, so wie Erlik, nur dass er den rechten Ausweg verpasst hatte. Womöglich ist er ein Advokat. Während seine Geschwister danach trachteten, die wahre Realität zu finden, verteidigte er alle anderen, weil er in ihnen das suchte, was er bisher nicht gefunden hatte. Bald wusste ich es, wenn er es zuließ und bevor ich ihn bekämpfte. Okka war ein großes Stück des zerbrochenen Spiegels, aber nicht die einzige Scherbe, sondern nur eine von vielen.

Ein Geruch stieg mir in die Nase. Etwas war bei mir, ganz nah schon. Weil ich in Gedanken versunken dalag, hatte ich es nicht bemerkt. Ich hatte keine Angst. Es war nicht Agelulf. Der Geruch von Lavendel und der Duft aus dem Mutterbauch stieg in mir auf und beruhigte meinen Verstand. Ich fuhr auf. „Du bist wieder da?“, fragte ich und atmete langsam ein und aus, bevor ich die Augen öffnete, mich erhob und mich umwandte. Sie war es. Sprich, ich selbst. Aber nicht mehr als Schwachstelle. Eine ausgewachsene Manticora, im Vergleich zu Ibor oder Agelulf doppelt so groß oder eher lang, und insofern vier Mal meine Größe. Obwohl sie vor mir saß wie eine edle Katze, die andere arrogant beobachtete, war sie nicht greifbar da, nicht körperlich. Ich war noch immer im Dämmerzustand und genoss im Bach das kühlende Wasser. Das hier war ein Halbtraum. Ich wandelte in der Schlaflandschaft, doch verharrte weiter im Wachzustand. „Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns begegnen können, oder?“, fragte ich. Die Manticora blinzelte und nickte angedeutet. So sähe ich aus, wenn ich meine Transformation abschloss? Mein Gesicht war eine Mischung aus Löwe, Drache, Mensch und etwas, das ich nicht einzuordnen wusste. Sie grinste mich an, obwohl es nur ein Lächeln war. Ihre Zähne waren allesamt spitz zulaufend. Ihre Schnauze war die einer Großkatze, doch die Augenpartie ... meine Augen? Sie hatte eine Mähne, die über ihr Rückgrat bis zur Schwanzspitze auslief und Fell, das aus Abermillionen Nadeln bestand, die sie aufstellen und bei Gefahr verschießen konnte. Auf dem Rücken eingefaltete Flügel, die sie selten benutzte, weil kaum ein Anlass dazu bestand. Majestätisch. Das war das Wort, mit dem ich sie - mich? - am besten beschreiben würde. Ich hatte gewusst, dass wir einer echten Manticora nie begegneten. Sie existierten auf andere Weise und hielten sich nicht in der grobstofflichen Materie auf, so wie ihre männlichen Brüder. Eine Kultur ihres Volkes zu entdecken, war von Anfang an ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, da sie kaum etwas hinterlassen hatten. Ich selbst war der beste Beweis dafür. „Warum bist du hier?“, fragte ich. Sie antwortete nicht in Worten oder Sprache, sondern brummte im Unterton etwas, dass die Kalanthe in mir nicht verstand, dafür Erdenstern, die sich wie von selbst aus dem Wasser auf sie zu bewegte. Ein Austausch, dafür war sie hier. Und für eine Ergänzung. Sie rettete mich, indem sie mich - so, wie jede andere Erdenstern vor und nach mir - in sich aufnahm. Gleichzeitig übertrug sie einen Teil von sich selbst auf mich, damit ich den letzten Schritt tat, der mich erwartete. Sie spreizte ihre Flügel, ihr Fell stellte sich auf, sie beugte den Kopf nieder und - öffnete ihre Kiefer langsam auf. Da musste ich hinein. Hier auf der Zwischenebene war das mein Weg.

Seit dem Tag, an dem Agelulf Vlooriean zerfetzt hatte, hatte ich mich gefragt, wie es war, gefressen zu werden. Mir blieb dessen Schicksal erspart. Es tat keine Not, mich auseinanderzunehmen, wenn ich ohnehin freiwillig der Bestie ins Maul kletterte. Und weil ich sie war und umgekehrt, war sie sanft zu mir. Ihre Kiefer klafften weithin auf. Sie legte ihren Kopf auf dem Boden ab, damit ich es leichter hatte und nicht versehentlich ihre Zähne berührte, an denen ich mich selbst aufgeschlitzt hätte. Dazu streckte sie die Zunge hervor, die eine Kuriosität für sich war. An ihren Seiten wuchsen ab der Mitte bis in den Rachenraum hinein Zähne, die, sobald ich sie berührte, nachgaben und im Fleisch des Mundmuskels verschwanden. Zur Mitte hin war eine tiefe Falte, die links und rechts mit mehreren Reihen rauer Härchen versehen war. In Länge und Form ähnelte sie auf stimmige Weise der einer Großkatze und eines - Wolfes? Oder doch etwas anderem? Ich wusste es nicht. Ich lehnte mich hinein, hob ein Bein ab, um auf das glitschige Ding zu steigen, und rutschte ab. Bevor ich aber in ihre Zähne fiel, fing mich etwas auf. Zwei Mandibeln. Hatten die nicht nur Insekten? An ihrem Ende bemerkte ich zwei weitere spitze Zähne, die sie aber gekrümmt hatte, sodass mir nichts passierte. Einen kleinen Moment lang wurde ich misstrauisch. „Ist das wirklich der richtige Weg?“, fragte ich laut. Sie bewegte sich nicht, sondern blieb, wie sie war und verharrte. Sie ließ mir Zeit, respektierte mein Misstrauen. Es war ein Gefühl, dass mir oft geholfen hatte. Aber wem konnte ich vertrauen, wenn nicht mir selbst in einer anderen Version?

Ich krabbelte hinein und legte mich hin, wurde eingeführt in die Höhle aus Fleisch und Zähnen und Muskeln und Feuchtigkeit, bis die Zahnreihen einander näherten und fast das gesamte Licht ausgesperrt war. Die Manticora erhob sich, was ich daran spürte, dass ich sanft hin und her gewogen wurde. Ich erwartete, geschluckt zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Ein zweites Mal brummte sie mir etwas zu, was in ihrem Rachen dröhnend klang und Druck auf meine Ohren ausübte. „Ja, ich denke schon“, antwortete ich. „Danke ...“ Ihre Zunge sank ab, ihr Kopf streckte sich nach oben und ich glitt in sie hinein. Was für ein merkwürdiges Gefühl. Ich wurde bis zur Unverträglichkeit zusammengedrückt und bekam Luftnot. Zumindest im ersten Moment, bis ich mich erinnerte, dass ich nicht wach war, und die Regeln der Realität hier nicht galten. Ich wagte es, sog Luft durch meine Nase ein - und atmete! Der Druck aber blieb, ich vermutete, dass die Manticora das verursachte. Es dauerte fast eine Minute bis ich in ihrem Bauch ankam und in ihren Magen hinein plumpste. Obwohl es dunkel hätte sein müssen, sah ich ihr Inneres klar und deutlich. Hier hallte der Dreitakt ihres Herzens dumpf und beruhigend. Die Magenwand war tiefrot und durchzogen von Falten, die sich wie Schlangen oder Würmer wanden. Alles geriet in Bewegung, zog sich zusammen und entspannte sich. Ich war angekommen, das fühlte ich. Der Magensack füllte sich mit Flüssigkeit. Nicht lange danach zischte es. Ich löste mich auf. Als ich meinen Arm anhob, fiel er ab, zurück in die Flüssigkeit und zersetzte. Einen Moment war ich erschrocken, weil der Stumpf furchterregend aussah. Aber er schmerzte nicht. Nichts. Natürlich nicht. Wieso sollte es? Die Manticora war ich, ich kehrte nur zu ihr zurück. Schmerzen waren überflüssig. Hier verging ich. Es war ein Ende, aber kein großes Finale. Nicht nur hier.

Es ist schwer, begreiflich zu machen, doch zur selben Zeit, als ich der Manticora in ihrer vollendeten Form begegnete und von ihr aufgenommen wurde, erwachte ich aus dem Zwischenzustand, lag im Bächlein. Ein Teil von ihr war auf mich übergegangen und umgekehrt. Dementsprechend war ich sie und sie ich gleichzeitig. Zwei gleiche Persönlichkeiten in einem Körper. Ich hörte dumpfes Knurren über mir und nahm den Geruch von Fleisch war. Abrupt schlug ich die Augen auf.

Agelulf.

Schnarrend fletschte er die Zähne und ergriff mich, bevor ich etwas unternahm. Die andere Manticora, der ich im selben Moment in den Rachen stieg, hinderte mich daran. Agelulf verlor keine Zeit, hob mich hoch über sich, klaffte seine Kiefer auf und fraß mich. So wie die Manticora zum selben Augenblick im Halbtraum. War er gewachsen? Warum wunderte ich mich ausgerechnet über sowas, während mein Kopf und meine Schulter durch seinen gierigen Schlund gedrückt wurden, begleitet von grollenden Knatsch- und Schluckgeräuschen? Während einem, zweier Augenblicke stockte die Bewegung und ich spürte, wie er zitterte. Er kämpfte, ich war doch nicht so leicht zu vertilgen. Darüber schmunzelte ich innerlich. Und noch mehr über den Gedanken, dass ich mich in so einer Situation deswegen amüsierte. Ich steckte bis zur Hälfte im Maul und Schlund des Werwolfs, den ich fast ein Jahr lang begleitet hatte! Trotzdem hatte ich keine Angst. Agelulf hatte entschieden, mir nicht das Herz zu rauben, er verschlang mich gleich in einem Stück. So wie die Manticora. Das war der Tausch. In dem Moment, in dem ich in ihr verging, ersetzte sie einen Teil von mir mit einem Teil von sich selbst. Die weit Mächtigere von uns suchte bewusst den Kontakt zu Agelulf. Meine Wahrnehmung verschwamm, ich bekam keine Luft mehr und der Druck um mich herum war gewaltig. Ich glaubte, Agelulf wimmern zu hören, dann setzten die Bewegung und die Schluckgeräusche wieder ein. Diesmal hörten sie nicht mehr auf. Seine Klauen fassten nach meinen Beinen, sodass er es leichter hatte, mich durchzudrücken. Nach etwa einer Minute ließ der Druck auf mich nach. Ich rutschte in seinen Bauch, nur dass er bei weitem nicht den Raum des Manticora-Magens bot und ich sofort wieder zusammengedrückt wurde. Ich kauerte, umschlang meine nachrutschenden Beine und vergrub das Gesicht zwischen ihnen. Um mich donnerte sein aufgeregter Herzschlag. Kurz wurde ich schwerelos und ich lauschte einem dumpfen Stöhnen. Er hatte sich erschöpft zu Boden fallen lassen, atmete schwer, hechelte und sagte dann etwas, was ich nicht verstand. Mein Bewusstsein schwand gemächlich. Die Manticora in mir spürte Wohlgefallen, die Kalanthe hingegen - sie war panisch, weil sie sich ihren Tod anders vorgestellt hatte. So zu sterben ... ich beruhigte sie und schickte sie in einen Schlaf, aus dem sie nie mehr erwachte. Auch nicht, wenn ich in Agelulf aufging. Kalanthes Zeit war vorbei, jetzt gab es nur noch Erdenstern. Die, die gerade erst entstanden war, und die die hier in Muralge auf der Zwischenebene jenseits der Zeit gewartet hatte. Zwei Erdensterns, die eine wurden und sich auflösten, um in einem anderen erneut zu entstehen. Ein Kreislauf von Leben und Tod, der nicht nur auf unsere Körper zutraf, die vergingen, von anderen Tieren und Insekten aufgenommen wurden, in denen wir dann weiterlebten. Auch uns als Ätherwesen betraf das. Wir vergingen nicht, niemals. Wir änderten unsere Form und wurden etwas Neues.

Mein Kopf erwärmte.

„Willkommen“, flüsterte jemand in meinem Kopf. Ich hörte Okka, ich hörte Vlooriean, ich hörte Agelulf, ich hörte Wulfiga, ich hörte Damian. Aber da war noch jemand? Der Luftmangel machte mich bewusstlos, ohne, dass ich es merkte, denn die Stimmen, die eine waren, führten mich sanft in den körperlichen Tod hinüber. Mein Herz schlug aufgeregt schneller, was unangenehm war, stolperte zuerst ab und zu, dann immer öfter, bis der Rhythmus kollabierte und es zur Ruhe kam. Stille. Ich war gestorben. Aber ich war trotzdem hier? Wie das? Es dauerte eine Weile, bis es mir klar wurde. Die beiden Ebenen, auf denen ich mich bewegte, waren untrennbar miteinander verknüpft. In der einen hatte mich mein manticorisches Äquivalent verschlungen, verdaut und in sich aufgenommen. Dort lebte ich, wenn auch auf andere Weise. Dadurch verging ich hier nicht, obwohl Agelulfs Stimmen an mir zerrten. Allen voran Okka, der mich bei sich zu haben trachtete. „Geh dorthin“, sagte die Stimme, die nicht Okka, nicht Agelulf und keiner der anderen war. Die Dunkelheit des Werwolfmagens wich und ich sah Licht. Ich sah einen Wald mit kleinen Bäumen. Ich sah einen Bachlauf. Und an dem Bachlauf kauerte jemand. Oder etwas. Ich trat näher. Agelulf? Sein Bauch war etwas gewölbt. Da war ich drin. Dort. In seinen Eingeweiden war mein toter menschlicher Körper. Ein befremdliches Gefühl, denjenigen zu sehen, der mich eben in Völlerei gefressen hatte, jetzt dort lag und wimmerte und winselte. Er weinte. Warum? Ich war bei ihm, er war bei mir. Als ich näher trat, bemerkte ich dessen Tränen, und wie er stumm in sich hineinlachte. Seine Brust hob und senkte sich schnell hintereinander. War er verrückt geworden? „Agelulf“, sagte ich, aber statt seines gesprochenen Namens brummte ich in tiefstem Ton. Er hielt inne und sprang auf, sah zu mir. Ich spürte die Bewegung immer noch in seinem Bauch. Er betrachtete mich eingehen, seine Augenfarbe wechselte in schneller Folge mehrmals hintereinander, bis sie am Ende gelb blieben. „Ich verstehe. Deshalb ist es so viel mehr, als ich erwartet habe“, sagte er. „Ich habe Erdenstern in mir. Aber es gibt dich trotzdem.“ Er grinste breit und unberechenbar und schnalzte. „Eine Manticora und Mutter tötet man nicht so leicht. Hast du es gewusst? Dass ich dich anders aufnehmen werde, als es in Erliks Traumtagebuch steht?“ Ich nickte. Er spannte seine Muskeln an, preschte auf mich zu und sprang in meine Richtung. „Bring es zu Ende“, flüsterte die fremde Stimme aus dem Nirgendwo in meinem Verstand. Ich öffnete meine Flügel und schwang sie einmal. Er wurde von der Wehe getroffen, bevor er mich erreichte, und zerfiel von meinen Augen zu Nebel. Ich hatte ihn weggeschickt in seine Zeit. Anders als ich geglaubt hatte, war er nicht in der Lage, ohne Hilfe zurückzukehren. Das war meine letzte Aufgabe gewesen. Jetzt hatte ich alles getan, nichts blieb mehr übrig.

„Bring es zu Ende“, flüsterte die Stimme erneut. Warum? War ich nicht fertig? Was sonst - ? Achso ... Ja. Der letzte Schritt. Die Auflösung meines Selbst in dieser Erdenstern und in Agelulf. Ich war nach wie vor in ihm, obwohl der andere Teil durch die Zeit von mir getrennt war. Ich spürte, wie Agelulf auf dem Boden aufkam und wieder anfing zu lachen. Diesmal laut und ungehalten. Okka, aber genauso Vlooriean und die anderen, zerrten stärker, so als hielt mich jemand am Arm fest und versuchte, mich hinter sich herzuziehen. „Bring es zu Ende“, flüsterte die Stimme ein letztes Mal dröhnend, bevor ich die Mauer aufgab, die mein Ich von Agelulf auf der einen Seite und von der Manticora auf der anderen getrennt hielt. Es war diese Erfahrung als geistiger Doppelgänger in gleich zwei größeren Wesen aufzugehen, als man selbst war, die mich überwältigte.

In Agelulf war Chaos, das mit meiner Ankunft zunahm. Dennoch empfingen sie mich warmherzig. Sie waren selbst im Strudel gefangen und hielten eine lose Ordnung so gut wie möglich aufrecht. Okka suchte sogleich meine Nähe und verlangte die Verschmelzung. Er begehrte mich. Ich wehrte mich gegen ihn mit aller Kraft, was mir durch den Teil der Erdenstern aus der Halbtraumebene gelang. Im Zentrum des Strudels aus mehreren Bewusstseinen lag etwas tiefes verborgen. Als ich darauf zusteuerte, hielten die anderen mich auf und warnten, dass ich von dort nicht zurückkehrte, wenn ich hinabsank. Dort lag der Mächtige, der schlummerte und besser schlafen blieb. Selbst Okka, dem das Schicksal anderer egal war, hielt mich fest. Es war verwirrend. Ich war erst angekommen, wurde zur Einheit mit den anderen. Trotzdem blieb ich erhalten. Wir waren nur einige, nicht alle. Erst wenn alle komplett waren, wenn alle Herzen eingesammelt worden sind, lösten wir uns auf und wurden zu etwas neuem. Erst dann erwachte Varwúlfurs letzte Form.

Während Agelulf weiter auf der Suche war, Murlage verließ und sich auf den Weg zu machte, um Shakún’tala zu treffen, erreichte ich in der Manticora das, was er für Erlik vorbereitete. Vollendung. Meine höchste Stufe. Sie wanderte wieder dorthin zurück, von wo aus sie mich verschlungen hatte. Neben mir waren da hunderte und tausende weitere Erdensterns, die sie aus allen möglichen Alternativen und Zeitdurchläufen getroffen und in sich aufgenommen hatte. Umbra hatte recht behalten. Wir sind schon einmal geschehen. Und werden es wieder. Mein Weg führte jedes Mal hierher, zu ihr, egal wo ich war oder herkam. Jeder Schritt von ihr war ein Manifest, das alles um sie - um mich - herum veränderte. Ihre Gefühle waren so groß und tief wie die Natur selbst. Schwang sie ihren Kopf und wendete den Blick von links nach rechts oder umgekehrt, überblickte sie Äonen und betrachtete unzählige Ereignisse gleichzeitig. Wir waren etwas Unbeschreibbares. Es gab keine anderen Manticorae. Es gab nur mich, ich war die einzige weibliche von uns, die wegen unserer scheinbaren Omnipräsenz für mehrere gehalten wurde. In ihr schloss ich mich dem an, was bereits erwacht war. Die Stimme war Ur. Urzustand. Urseele. Urbewusstsein. Urkraft. Urzeit. Urkörper. Egal. Es gab kein passenderes Wort. Ur. Und ich als vollendete Manticora hatte Verbindung dazu. Ich - brachte es zum Ende.

 

*17. Nacht des 4. Mondes im Jahr **87 n.d. Aufbruch

Ich träumte letzte Nacht wieder von dem Werwolf, in dem ich Wulfiga zu erkennen glaube. Warum so oft von ihm? Ist sein Einfluss auf mich so groß, dass er selbst meine Traumwelt beherrscht? Oder ist der Werwolf aus den Träumen ein anderer? Er wirkt ungleich, aber auch gleich. Er geht einen schwierigen Weg. Er sucht nach Personen, die er sammelt und an einen Strudel inmitten eines Sees bringt, in die er sie hineinwirft. Ich fühle Mitleid für jeden einzelnen von ihnen, aber ich weiß, dass ihre Tode nötig sind. Er braucht sie, obwohl ich nicht weiß warum und mir nicht anmaße, zu spekulieren. Jedes Mal, wenn er einen von ihnen hineinwirft, dreht er sich zu mir um - er kann mich sehen?! - und lacht oder weint oder grollt oder jault oder wimmert oder schnarrt. Als er die letzte Person hineinwirft, wird alles dunkel und hell zugleich. Etwas passiert, aber mein wachgewordener Verstand erlaubt mir keine Einsicht.

In der nächsten Traumszene sehe ich, wie er eine Frau um die vierzig überfällt. Er ist im Wald, sie steht mit dem Rücken zu ihm. Er packt sie, hebt sie über sich hinweg und reißt das Maul unnatürlich weit auf, in das er sie hineinfallen lässt. Dabei wird sie kleiner und kleiner und verschwindet irgendwann im Dunkel seines Schlundes. Während ich ihn beobachte, bin ich erregt. Ich wünsche mich an ihre Stelle, gehe auf den Werwolf zu und biete mich an. Er sieht auf mich nieder und schüttelt den Kopf, während die Füße der verschwundenen Frau jetzt doch zwischen dessen Zähne hervorlugen. „Nicht dein Weg“, sagt er und wendet sich ab. Ich lasse ihn nicht ziehen, sondern haste hinter ihm her, während er einen schmalen Weg verfolgt, der aus dem Wald hinausführt. Ich biete mich an. Fordere ihn auf, mich auch zu einem Teil von ihm zu machen. Er weigert sich, behauptet, es sei nicht richtig und fühle sich falsch an, so zu handeln. Die Szene springt, wir stehen am Waldrand, ich in seinem Weg. „Es ist mein Wunsch. Bitte!“, sage ich und gehe auf die Knie. „Bitte!“ Er sieht auf mich nieder und schüttelt den Kopf. „Nein“, grummelt er, schreitet an mir vorbei und verschwindet wie Nebel, während ich ihm hinterherblicke. Er lässt mich alleine mit allen Gefühlen, die im Traum um ein vielfaches intensiver sind, als jetzt, wo ich wache und schreibe. Trauer und Resignation übermannen mich, ich schreie und zetere. Das ist Verrat! Er weiß um meine Sehnsucht und verwehrt sie mir! Warum verwehrt er sie mir? Die Gefühle werden so stark, dass ich aufwache.

 

Er war da - mein Wulfiga. Indem er sanft über mein Gesicht leckte, hat er mich geweckt und sah mich besorgt an. Dasselbe Gesicht wie das des Traumwolfs. Er fragte, was ich geträumt habe. Ich schwieg. Es fühlte sich falsch an, ihn mit seinem Traumpendant zu konfrontieren, für dessen Verhalten er keine Verantwortung trug. Er hatte mich schon in mehreren Nächten geweckt. Stets dann, wenn ich von ihm träumte. Der Wulfiga, der jetzt bei mir war, war völlig anders. Aber ich habe Schwierigkeiten, jenes Gefühl abzuschütteln, dass er wird, wie der in meinen Träumen.*


Erlik

Ich lauschte Agelulfs verhallenden Worten und bewahrte mir mit geschlossenen Augen das Bild im Kopf, wie Kalanthes letzte Augenblicke gewesen sein mussten. Gerade als ich etwas zu sagen beabsichtigte, schnitt ein brennender Schmerz über meinen Arm, sodass ich zuckte und erschrocken aufschrie, obwohl es überhaupt nicht peinigte. „Verzeiht, werter Herr. Mir war, als ob Ihr eingeschlafen seid, was ich als unhöflich empfand“, sagte die raue, grausige Stimme des schwarzen Werwolfs, der über die Wunde leckte. „Es sollte jeden Moment verheilen.“ Er grinste diabolisch. „Schließlich sind wir jetzt gleich.“ Kaum hatte er den Satz beendet, war die Schnittwunde wieder verschwunden. Verletzungen wie diese konnten mir nichts mehr anhaben, seit er mich bei meinem Besuch bei Etzel mit dem Fremden Weltenwanderer zusammengeführt hatte und wir aufgestiegen sind. Ich hätte an seinen Ätherfäden ziehen und ihm die Luft abschneiden können, um ihn zu erwürgen. Aber er benötigte keine Luft zum Atmen. Er war ein Dämon. Es gab nichts, das ich ihm anhaben konnte. Das galt umgekehrt genauso. „So war das also“, sagte ich nachdenklich über seine Geschichte. „Dass du so viel von dir erzählst, habe ich nicht erwartet. Der Morgen dämmert schon.“ Ich erhob mich von ihm und zog mit einem ploppenden Geräusch Agelulfs Glied aus mir hervor. Ich streckte mich. „Was soll ich machen? Nach dem Beischlaf bin ich stets redebedürftig“, behauptete er. „Mir war nicht klar, was du in den Jahren durchgemacht hast, in denen wir getrennt waren“, sagte ich in mich gekehrt, nachdem ich mich auf den Sitz vor meiner Kommode begeben hatte, auf der ein verzierter, großer Spiegel stand. Ich betrachtete mich mit meinem aschgrauen Haar, das in Kontrast zu Agelulfs pechschwarzem Fell stand. Ein kurzer Seitenblick und ich bemerkte das schelmische Grinsen. „Das heißt, wenn alles stimmt, was du mir erzähltest, lieber Agelulf.“ Der konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. „Ihr habt mich erwischt, Herr!“, feixte er. Ich legte die Stirn in Falten. „Ich hätte wissen müssen, dass du lügst. Du bist ein Dämon.“ Er schnalzte. „Ich habe nie gesagt, dass es wahr ist, aber ich sage auch nicht, dass es nicht wahr ist. Das meiste davon ist genau so geschehen.“ Sein Spielchen langweilte mich langsam, weshalb ich das Thema wechselte. „Du musst hungrig sein“, sagte ich andeutend. „Das bin ich immer“, entgegnete er kalt. „Erst wenn ich der werde, zu dem ich werden muss, bin ich satt.“ Er meinte seine letzte Stufe. Die hatte er noch nicht erreicht. Er sah gierig aus und tat so, als schliche er sich von hinten an mich heran, während ich ihn weiter in der Spiegelung beobachtete. Bei mir angekommen, legte er je eine Klaue auf meine Schulter und um meine Hüfte. „Aber“, hob er an und leckte mit einer unnatürlich langen Zunge über die Zähne seines widernatürlich großen Mauls, „auf ein menschliches Morgenmahl verzichte ich nicht.“ - „Nur, wenn du es wie damals beim ersten Mal machst“, schränkte ich ein. Er lachte in sich hinein. „So wie damals, weiter Herr.“ Dunkelheit. Feuchtigkeit. Schlucken. Schlingen. Wärme.